Tagebuch Mittwoch, 27. November 2019 – Strauss (Sohn)
Der Witz daran, dass ich neuerdings einmal im Monat für eine Woche in die alte Heimat fahre, ist, dass meine Mutter dann Zeit hat, das Haus zu verlassen – also für länger als für die halbe Stunde oder Stunde, in der die Pflegekraft da ist. Gestern hatte sie einen Arzttermin, so halbwegs früh; sie konnte also leider nicht ausschlafen, was für mich mit ein Hauptgrund ist, hier jetzt jeden Monat zu sein. Ich persönlich wäre nach zehn Tagen schlachthausreif, wenn ich nicht einfach mal ausschlafen könnte. Glaube ich. Ich musste es netterweise noch nie probieren. Sie hat nie Wochenende und Feierabendzeiten, bei denen jede Gewerkschaft zum Generalstreik aufrufen würde, und ich habe keine Ahnung, ob ich das könnte.
Gestern frühstückten wir gemeinsam, dann machte mein Mütterchen sich für den Tag fertig und ich fuhr währenddessen mit dem Auto einkaufen. Nach dem letztmaligen OMG ICH FAHRE AUTO ging das dieses Mal schon sehr entspannt. Trotzdem fand ich die 50 km/h im Ort gefühlt viel zu schnell, die zuckeligen 30 in den Nebenstraßen gefielen mir weitaus besser. Und die sind immer noch zu viel, wenn plötzlich jemand auf die Straße läuft. Das ist mir aber erst jetzt bewusst geworden, weil ich nicht mehr regelmäßig bzw. eigentlich überhaupt nicht mehr fahre. Seit ich 18 bin, hatte ich ein Auto und habe jeden Weg damit zurückgelegt. 50 waren schnarchig, 65 okay, richtig Spaß machte das erst nach dem Ortsschild. Heute kriege ich auf der Autobahn eher Augenzucken und will wieder in einen ICE.
Als ich wieder zuhause war, übernahm das Mütterchen den Wagen und ich setzte mich, wie schon in den letzten Tagen, mit dem Laptop in Papas Zimmer, damit er wusste, dass jemand da ist. Montag und Dienstag konnte ich sogar ab und zu zehn Minuten lang konzentriert arbeiten, aber gestern ging gar nichts. Papa war unruhig und traurig, sprach eher aphasisch als sinnvoll, und ich wusste irgendwann nicht mehr, was ich noch tun oder sagen sollte, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Das ging über eine Stunde so, bis meine Mutter wieder da war und eine gute Idee hatte: Musik.
Wenn gar nichts mehr geht, machen wir sonst den Fernseher an, was mich aber relativ schnell wahnsinnig macht, weil mich Fernsehen relativ schnell wahnsinnig macht. Und auch Papa kann nicht mehr alles sehen: Krimis mit komplizierten Handlungen gehen nicht mehr, am besten sind Tier- und Naturfilme ohne wilde Schnitte. Die laufen bloß nicht immer. (Hier bitte die National-Geographic-DVD-Box vorstellen, die F. und ich zu Weihnachten anschleppen werden.) Daher versuche ich es immer zunächst mit anderen Dingen als dem Fernseher wie Bücher, Schokolade, streicheln. Aber auf Musik bin ich gar nicht gekommen.
Mama schlug „An der schönen blauen Donau“ vor, das schien Papa auch zu gefallen, und Mütterchen begann, nach einem funktionierenden Abspielgerät und einer Kassette oder CD oder was auch immer zu suchen. Ich dankte im Nachhinein meinem schlauen Freund, der mir nach dem letzten Aufenthalt, bei dem ich ewig Tagespässe nachbuchen musste, um wenigstens meine Mails zu checken, geraten hatte, mein Datenvolumen am Handy zu erhöhen. Das ging für lockere fünf Euro, ich aktivierte gestern daher entspannt am Handy einen Hotspot, verband den Laptop damit, rief Spotify auf und und keine Minute später spielten die Berliner Philharmoniker unter Karajan einen Walzer. Papa war sofort ruhiger, hörte gelassen und aufmerksam zu, und ich saß daneben und war gleichzeitig fertig und zufrieden. Johann Baptist Strauss, du hast was gut bei mir.