Tagebuch, 24. bis 26. Dezember 2019 – Weihnachten 2019: nur echt mit Erkältung und Brandwunden
Der Plan war:
1) Am Heiligen Abend gibt’s am Nachmittag statt am Mittag Gänsebraten, von Schwester und Schwager fertig vorbereitet mit Beilagen eingekauft und am Morgen bei uns vorbeigebracht; Nachmittag, weil das mit Papas Situation einfacher schien. Normalerweise speist Papa mittags im Bett, Nachmittagskaffee und Abendbrot gibt’s dann im Rollstuhl – dieses Mal dann halt Gans statt Kekse. Gemütliches Beisammensein, Bescherung, 18 Uhr Gottesdienst für die, die wollten, danach zu sechst um den Baum rumsitzen und Geschenke auspacken.
2) Am ersten Feiertag Papa nicht erst nachmittags, sondern schon vormittags vom Bett in den Rollstuhl heben, dann zu Schwester und Schwager schieben (einmal quer durchs Dorf, ein knapper Kilometer), dort mittags bekocht werden, am frühen Nachmittag, wenn es noch hell ist, alle zurück, Papa wieder ins Bett bringen, gemeinsam um den Baum rumsitzen und Plätzchen essen.
3) Abreise Anke und F., Schwester und Schwager fahren zur Schwagerfamilie.
Geworden ist es dann:
1) 24. Dezember. Ich hatte Papa das Frühstück ans Bett gebracht, die Pflege kam und machte Papa tagesfrisch, es klingelte, ich freute mich auf Schwester und Schwager, die das Essen vorbeibringen sollten. Das taten sie auch, aber: „HALTE BLOSS ABSTAND, WIR SIND TOTAL ERKÄLTET!“ Ich bereute es, kein Desinfektionszeug von zuhause mitgebracht zu haben, als mir einfiel: steht ja alles bei Papa im Zimmer. (Habe in den letzten Monaten gelernt, was man als Pflegekraft so braucht.) Ich reinigte kurz Türklinken, verstaute das Essen in der Küche, die beiden fuhren nach Hause und fielen hustend ins Bett.
Das Mütterchen musste nochmal ins Dorf und wollte auf dem Rückweg noch bei SchwesterSchwager was abgeben. Sie meldete: „Die sehen ja schlimm aus!“
Ich so: *WhatsApp an Schwester* „Vorschlag: Ihr bleibt im Bett und kommt morgen zum Gansessen rum, dann muss Schwager auch morgen nicht kochen.“
Schwester so: *Daumen-hoch-Emoji*
Mama so: „ABER WAS ESSEN WIR DENN JETZT?“
Ich so, im Geiste den elterlichen Vorratskeller durchgehend, mit dem man mindestens zwei Atomkriege überleben könnte: „Lass mal runtergehen und gucken.“
Es wurde dann schön norddeutsch Grünkohl, denn natürlich war alles im Haus, Kohl, Bregenwurst, Kartoffeln, Schmalz zum Anschwitzen der Zwiebeln, herrlich. Ich hatte in diesem Jahr noch keinen Grünkohl und fand das viel besser als Gans; ich glaube immer öfter, dass meine Norddeutschigkeit hier im Süden verwässert, daher ist sowas wie Grünkohl quasi überlebenswichtig für die eigene Identität. Zum Nachtisch sollte es eigentlich nur Vanilleeis mit warmen Blaubeeren drüber geben (die unendliche Tiefkühltruhe), aber ich entdeckte noch eine Orange und karamellisierte schnell ein paar Orangenfilets, löschte mit Cointreau und Butter ab und kandierte die Schale (also eher: schwenkte ne Runde Zesten in geschmolzenem Zucker). Ein ganz hervorragendes Essen.
Papa bekam seine Mahlzeit an seinem üblichen Rolltisch, den man ans Bett schieben kann. Wir anderen wollten uns ungern über den Couchtisch bücken, daher schleppten wir kurzerhand den Küchentisch in sein Zimmer, welches das ehemalige Ess- und Wohnzimmer ist und aßen so fast alle an einem Tisch.
Fürs Mittagsschläfchen vergaß ich mir den Wecker zu stellen, Mama anscheinend auch, und als die Nachmittagspflege klingelte, war F. als einziger kleidungstechnisch so drauf, die Tür öffnen zu können. Die Pflegerin hatte einen Heiligenschein als Kopfputz und meinte, sie käme heute als Engel. Sehr gelacht (und mich wie immer beim Abschied bedankt. Wir haben wirklich Glück mit den Pflegekräften gehabt, Papa mag alle, auch wenn er sie immer wieder vergisst).
Papa im Rollstuhl in die Küche geschoben, dort Kaffee und Plätzchen verspeist, irgendwie hatte niemand Lust auf Gottesdienst, also warteten wir auf die Abendpflege, Schwester und Schwager kamen auf einem kurzen Spaziergang für ein paar Augenblicke vorbei („Wir können nicht mehr rumliegen“), ich vergaß, Türklinken zu desinfizieren.
Meine Nachmittagsbeschäftigung war es, Papa dazu zu kriegen, irgendwas mit seinen Händen zu machen, also griff ich zum bewährten Legespiel aus acht Holzteilen, das meine Schwester und ich schon als Kind gehabt hatten. Aus den Teilen kann man in eine Form einen kleinen Eskimo legen. Es frustriert Papa immer, wenn er die Teile nicht in die Form bekommt, also ließ ich sie einfach weg und legte die Holzteile kommentarlos in seine Nähe. Er mag es nämlich überhaupt nicht, wenn man Dinge sagt wie „Du musst mehr trinken“ oder „Lies doch mal ein bisschen.“ Aber wenn man es umformuliert in „Hier, trink mal aus, dann kann ich dir nachschenken“ oder „Ich leg dir dein Buch hier hin, falls du es brauchst“, beschäftigt er sich ein bisschen. Er mag es dementsprechend nicht, wenn man sagt „Leg mal den Eskimo“, also lasse ich das. Er stapelt die Teile auch eher als dass er sie in die richtige Form bringt, aber das reicht mir auch. Der Kopf besteht aus zwei Teilen, einem Gesicht und einem weißen Ring darum, der wohl eine Fellmütze darstellen soll, die legt er gerne ineinander und nimmt sie wieder auseinander und legt sie wieder zusammen, weil das – natürlich – befriedigend ist, wenn Dinge passen. Ich denke über Kleinkindspielzeug nach, wo man Gegenstände durch passende Löcher werfen kann, das müsste ihm auch gefallen.
Abends schoben wir Papa im Bett näher an den Weihnachtsbaum, entzündeten die Kerzen – WhatsApp vom Schwesterchen: „WASSEREIMER BEREITSTELLEN!“ – und packten Geschenke aus. Ich bekam unter anderem die gewünschten Dojczland: Ein Reisebericht von Andrzej Stasiuk sowie Die Toten von Christian Kracht. Und von F. natürlich wieder was Besonders, das ich hier leider gerade nicht herzeigen kann, weil F. es wieder in seiner Dokumentenmappe zurück nach München trug, wo es besser geschützt war als in meinem schraddeligen Koffer und es deswegen noch bei ihm liegt: eine Originalausgabe von Häuser Zeichnen (1957) von Hans Döllgast mit einer Widmungskarte, die ich bereits instagrammte, sowie fünf Originalfotos der Restaurierung der Alten Pinakothek, von denen eins im Buch abgedruckt wurde. So toll! Ich bin gerade nochmal gerührt. Der gute Mann Knutschemoji.
Worüber ich mich auch freute: Herr @el_loko74 überraschte mich mit einem größerformatigen Abzug eines seiner Bilder. Ich mochte sein Foto von Giulia Gwinn so gerne, die er perfekt vor dem erleuchten FC-Bayern-Logo am Campus erwischt hatte, dass ich es damals bei seiner Veröffentlichung auch retweetet hatte. Und der FCB-Frauen-Account nutzte es für seine Weihnachtsgrüße, wie ich gerade beim Rumgoogeln feststelle.
Für Vattern hatten wir DVDs von Deutschland von oben besorgt, das mir als ruhige, entspannte Fernsehbegleitung gut erschien, falls der NDR mal keine Tierfilme zeigen sollte, aber Papa was zum Irgendwohingucken braucht. Und das Mütterchen bekam ein paar Tage Urlaub geschenkt, denn wir haben Karten für die Passionsspiele in Oberammergau bekommen, und da fährt sie hoffentlich mit uns hin; Schwager und Schwester haben schon Papadienst zugesagt. Hoffentlich erkälten sie sich nicht.
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2) 25. Dezember. Alle schlafen aus, nur ich nicht. Papa Frühstück ans Bett gebracht. WhatsApp von Schwesterchen: „Sind immer noch krank, kommen nicht. Hätten gerne die halbe Gans der anderthalb. Fahren jetzt in die Notaufnahme, kommen danach rum.“
Ich teilte die in einzelne Tüten eingeschweißten Beilagen Rotkohl, Rosenkohl, Sauce, Knödel und Bratäpfel auf, legte die Hälfte von allem plus die halbe Gans der anderthalb in einen Korb, verstaute ihn im kühlen Windfang und bereitete unsere Hälfte fürs Kochen vor.
Die Morgenpflege setzte Papa schon in den Rollstuhl, obwohl wir ihn ja jetzt nicht durchs ganze Dorf schieben mussten, aber Abwechslung tut vielleicht gut. Oder auch nicht, wir sind uns da immer noch nicht sicher, und Papa kann uns bei dieser Frage leider nicht helfen. Ich schob ihn vor den Weihnachtsbaum und wir bestückten gemeinsam die Kerzenhalter mit einer neuen Runde Kerzen. Ich fragte ihn, ob ich die Wachsreste aus den Haltern kratzen sollte, bevor die neuen Kerzen reinkämen, und er meinte, dass er die früher immer gesäubert hätte. Er kann sich an Geburtstage von alten Freunden erinnern und Telefonnummern, die es schon lange nicht mehr gibt, aber wer ihn eben vor zwanzig Minuten in den Rollstuhl gesetzt hat, weiß er nicht mehr.
Mama ging in den Gottesdienst, ich nicht, F. schlief, Papa war anscheinend zufrieden damit, auf den Baum oder aus dem Fenster zu gucken, weswegen ich sogar ein bisschen an der Diss arbeiten und schlechte Laune kriegen konnte.
Gegen Mittag schob ich die Gans in den Ofen, wärmte alle Beilagen auf, wir hatten den Tisch in der Diele gedeckt, die jetzt quasi das Esszimmer ist, denn das Esszimmer ist ja jetzt Papas Zimmer. An den Tisch
schoben wir Papa seitwärts, weil er mit dem Rollstuhl unter keinen einzigen unserer Tische passt, und ohne Armlehnen und seitliche Oberkörperstützen sitzt er noch zu unsicher. (Habe in den letzten Monaten gelernt, was so alles an einem Rollstuhl dran ist.) Gerade als ich anfangen wollte zu essen, sah ich den Wagen vom Schwager vorfahren, ich brachte schnell den Gänsekorb raus, bekam Geschenketüten im Gegenzug, die beiden fuhren, wir aßen. (Notaufnahme: Joah, erkältet halt, Hausmittel, ausruhen. Immerhin keine Bronchitis oder sowas.)
Dann legte ich die Bratäpfel in eine Pfanne und schob sie in den Ofen. Als sie mir heiß genug erschienen, schaufelte ich Vanilleeis in Schälchen, umwickelte den Pfannengriff mit einem Küchentuch und holte die Pfanne aus dem Ofen. Ungefähr in der Mitte des Wegens zwischen Ofen und Ablagefläche merkte ich, dass ich das Handtuch nicht komplett um den Griff gekriegt hatte verfickte Scheiße war das heiß! Die anderen aßen am Tisch, ich speiste mit links, während ich die rechte Hand unter kaltes Wasser hielt. Danach googelte ich mit links nach Notfallapotheken, weil Mütterchen keine Brandsalbe im Haus hatte. Ihr fiel die Nachbarin ein, die Ärztin ist, da könne sie ja mal rübergehen. Okay. Oder ich solle doch mal Schwesterchen anschreiben, ob die Salbe hätte. Okay. Oder der Notfallkasten im Auto? Okay. Die Nachbarin wurde nicht gestört, im Verbandskasten lag nix, Schwesterchen hatte auch nix, ich meckerte jetzt doch lauter als gewohnt, weil es wirklich weh tat, und wurde *etwas* ungehalten, als Mütterchen meinte, ich solle mal nach Naturheilmitteln googeln. Gerade als ich kurz davor war, um den Autoschlüssel zu bitten, um 10 Kilometer zur nächsten Apotheke zu fahren, verdammtes Dorf, legte mir das liebevolle Mütterlein ein Stückchen aufgeschnittene Aloe Vera auf die Hand. Und was soll ich sagen? Es funktionierte. Blöde Natur, proving me wrong! Es half nicht für lange, aber immerhin, Aloe hatten wir da, da hätte ich noch ein paar Tage nachlegen können. Bis mir Depp einfiel: Bei Papa liegt nicht nur Desinfektionszeug, sondern auch jede Medikation dieses Planeten. Auch Brandsalbe? Natürlich auch Brandsalbe. Ich rollte mit den Augen, schmierte mir herrliche Chemie auf die Hand und war so gut wie schmerzfrei.
Weil ich doch etwas gehandicapt war, übernahm F. das restliche Ausweiden der Gans, die wir natürlich nicht mal ansatzweise geschafft hatten. Mit dem Grünkohl zusammen, von dem ich logischerweise auch zuviel gekocht hatte, dürften meine Eltern bis zum Dreikönigstag was zu essen haben. Plus Plätzchen!
Nachmittags zog sich F. etwas zurück, Mütterchen und ich bastelten die am 23. Dezember begonnene Eierlikörtorte fertig und deckten in Papas Zimmer fürs Kaffeetrinken ein. Dabei packten wir die Geschenketüten von Schwesterschwager aus. Schwesterchen arbeitet in der Verwaltung eines großen Drogisten, weswegen wir jetzt mit mitarbeitervergünstigten Pflegeprodukten hervorragend ausgestattet sind. Ist mir sehr recht, ich muss sparen.
Abends erneutes Kerzenanzünden, weiterhin ausgiebiges Baumloben – „So schön gerade!“ „Und so toll geschmückt!“ –, Rotwein und Sekt dazu, Papa nickte dauernd weg, die Stunden im Rollstuhl strengen ihn mehr an als die im Bett. Wir machten etwas früher Feierabend, fanden das Weihnachtsfest aber trotz der leider abwesenden zwei Gäste den Umständen entsprechend sehr gelungen.
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3) Schwester und Schwager blieben im Bett, aber F. und ich reisten wie geplant nach Hause. Nicht geplant war das etwas nervige Kleinkind vor uns, aber da muss man halt durch und es gibt ja Noise-Cancelling-Kopfhörer. Driving home from Christmas, auf die Minute pünktlich am Münchner Hauptbahnhof, ich mit zwei Franzbrötchen im Gepäck und viel Neuem, was ich dank eines hervorragenden Podcasts des Städel über Van Goghs Porträt des Dr. Gachet gelernt hatte. (Danke an Konstantin für den Tipp!)
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Ich hatte im Vorfeld ein bisschen Panik vor diesem Weihnachten gehabt, weil so vieles anders war, weil F. zum ersten Mal etwas länger bei uns war, weil ich nicht wusste, wie es Papa gehen würde, ob alles zu viel sein würde oder genau richtig oder total egal. Ich für mich fand es ähnlich anstrengend wie immer in den letzten Monaten, als ich da war, aber so ist es wohl, sich um jemanden zu kümmern, dessen Gehirn jetzt anders funktioniert. Aber als wir alle im abgedunkelten Wohnzimmer ruhig um den Baum saßen und in die Kerzen schauten, war das sehr schön und stimmungsvoll und entspannt und ich glaube, es ging allen gut.