Was schön war, Freitag, 24. Juli 2020 – Mein erstes Kleidungsstück

Als ich vor 35 Jahren im Handarbeitsunterricht erstmals an einer Nähmaschine saß, musste mir meine Mutter mit geraden Nähten helfen, um aus vier Quadraten eine Kissenvorderseite zu nähen, die nicht so aussehen sollte, als hätte ich sie im Dunkeln zusammengetackert. Am Reißverschluss versuchte ich mich erst gar nicht und beschloss, dass Nähen wohl nicht so meins ist.

Diese Einstellung hielt bis ungefähr April 2020, als wir uns alle mit der Idee anfreunden mussten, demnächst mit Mund-Nase-Schutzen herumlaufen zu müssen, um in einen Supermarkt zu dürfen. Ich holte Omas Nähkiste aus dem Regal, fand Nadel, Faden und Gummibänder, zerschnitt eine Stoffserviette und nähte meine erste Maske. Das war eher Verzweiflung und Langeweile als der Anfang einer begeisterten Nähkarriere, aber, keine Ahnung warum, mein Interesse an Handarbeiten war geweckt. Ich bestellte schönen Stoff und passendes Garn, nähte weiter Masken und wartete, bis im Juni eine erschwingliche Nähmaschine wieder verfügbar war, die vermutlich in der Zeit der Ausgangsbeschränkungen alle bestellt hatten (die hatte im November 2019 auch eine gute Bewertung von Stiftung Warentest bekommen). Die ersten Nähversuche waren spannend, auch wenn ich merkte, dass es mir immer noch nicht leicht fällt, einfach eine gerade Naht zu nähen, aber dieses Mal war der Ehrgeiz geweckt, es selbst nochmal zu machen anstatt es dem Mütterlein hinzulegen und lieber ein Buch zu lesen.

Auf der Zugfahrt in den Norden vor Kurzem trug ich eine maschinengenähte Maske mit schicken Bändern statt Gummiband und halbwegs geraden Nähten (HA!), vorgestern hatte ich mir ein Schnittmuster aus dem Internet geladen, um das ich schon länger rumgeschlichen war, vor einigen Wochen hatte ich mir günstige Stoffe, weil Restposten und vorgeschnitten, beim Karstadt gekauft, und so saß ich gestern vor meinem ersten ausgedruckten Schnittmusterbogen, von dem ich meine normale Kleidergröße bereits auf Pergamentpapier übertragen hatte, und war sehr aufgeregt.

Ich las lieber nochmal in meinen beiden vorhandenen Fachbüchern nach (Nähen – vielleicht doch eher was für Menschen, die schon ein bisschen wissen, was sie tun; Passt perfekt – sehr motivierend geschrieben, ich arbeite mich gerade anständig durch anstatt es weiter zu überfliegen), ob ich irgendwas vergessen hatte, und das hatte ich natürlich, nämlich die irre wichtige Nahtzugabe. Beschwingt fuhr ich mit meiner bunten Schneiderkreide auf dem doppelt ausgelegten Stoff relativ Freihand um das ausgeschnittene Stück Papier und wunderte mich dann, als ich beide Teile aufeinanderlegte, dass sie nicht perfekt aufeinander passten. Bis mir einfiel, dass mein Körper nicht der eines achtjährigen Jungen ist und daher das Vorderteil etwas mehr Volumen hat als das Rückenteil. Wieder was gelernt. Alle Menschen, die routinemäßig an Kleidung sitzen, dürfen sich wieder beruhigen vor Lachen.

Ich erspare euch die weiteren, äußerst naiven Handwerksschritte, die ich alle zum ersten Mal ausführte, was ich aber genau deshalb sehr spannend fand. Das war eine kleine Entdeckungsreise zu einem alltäglichen Gegenstand: Wieso kommt hier ein Saum hin, passt das wirklich, wenn ich es anziehe, wieso sieht das hingelegt unpassend aus, aber sobald ich es zusammennähe, stimmen die Übergänge wieder – und nebenbei: Das nächste Mal achten wir etwas besser auf die Linien auf dem Schnittmuster, damit das Vorderteil nicht zehn Zentimeter länger ist als das Rückenteil. Das System der Brustabnäher ignorierte ich vorerst, ich wollte einfach erst einmal verstehen, was ich da eigentlich tue und wie ein so simples Kleidungsstück wie ein Top, das nur aus zwei Teilen besteht, funktioniert und konstruiert ist, damit ich bei meiner mehrfarbigen Bluse mit Rosshaarkragen und 17 Knopfvarianten, Taschen und einem langen Rücken weiß, was ich zu tun habe. (Haha.)

Und so konnte ich nach zwei Stunden (ja, das dauert bei mir noch lange) ein Top überziehen, das interessanterweise genau an den Stellen nicht gut saß, wo auch Kleidung nicht gut sitzt, die ich von der Stange kaufe. Aber jetzt weiß ich, wo ich ansetzen kann, um endlich keine Blusen mehr tragen zu müssen, die am Oberarm zu eng und gleichzeitig über der Brust zu weit sind. Hoffe ich jedenfalls. Und natürlich ist das totale Absicht, dass die Naht außen am Arm etwas weiter weg von der Kante sitzt als die am Hals, ist klar.

Nebenbei kann man Physiker mit einem Maßband in den Wahnsinn treiben, wenn sie dich vermessen sollen: „Für jeden Scheiß gibt es präzise Instrumente und hier brummelgrummelmuff.“ So niedlich! Auch nebenbei, wobei das nicht ganz so nebenbei ist für jemanden wie mich, die Jahrzehnte mit ihrem Körper auf Kriegsfuß gestanden hat: Die hohen Zahlen zu hören, die halt kommen, wenn man meinen Bauch, meine Taille oder meinen Oberschenkelumfang misst, konnte ich ziemlich ungerührt in meine Tabelle eintragen, ohne in eine Sinnkrise zu kommen (ein Grund, warum ich mich lange eben nicht an eine Nähmaschine setzen wollte). Seit ich keine Waage mehr habe, gibt es keine Zahl mehr, die mich terrorisieren könnte oder über die ich meinen Selbstwert definiere. Und so waren auch diese Zahlen keine Angabe darüber, ob ich ein guter Mensch bin oder ein undisziplinierter Haufen Fett: Sie waren einfach nur Zahlen, die meine Körperumfänge wiedergeben. („ABER SO UNPRÄZISE BRUMMELGRUMMELMUFF!“)