Berlin ist ein ganzganzganz winziges bisschen, kaum spürbar, ich will’s auch gar nicht laut sagen, meine zweite Heimat geworden. Das kommt wahrscheinlich automatisch, wenn man hier monatelang rumläuft und arbeitet und einen normalen Tagesablauf hat und sich in Hamburg am Wochenende eher wie auf der Durchreise fühlt. Ich hatte trotzdem überhaupt nicht damit gerechnet, weil Berlin seit knapp zehn Jahren eine Stadt ist, mit der ich erstmal Schmerz verbinde. Denn in Berlin habe ich Karl kennengelernt, wir haben eine sehr intensive Woche zusammen verbracht, während ich (leider vergeblich) versucht habe, die Prüfung an der dffb zu bestehen, um Drehbuch studieren zu können.
Ein Teil der Prüfung war es, einen dreiminütigen Super-8-Film zu drehen. Aus, soweit ich mich erinnere, fünfzehn Titelvorschlägen habe ich mich für „Rund um die Gedächtniskirche“ entschieden. Denn als es darum ging, sich für ein Thema zu entscheiden, kannte ich noch niemanden in der Stadt und hatte daher weder Schauspieler noch Kulissen, mit denen ich etwas hätte machen können, was zum Titel „Vorfreude“ (weiß ich nicht mehr, ob es wirklich so einen Titel gab, aber die Richtung stimmt) gepasst hätte. Also hatte ich nur die Wahl zwischen „Am Alexanderplatz“ und eben der Gedächtniskirche. Ich kannte beide Orte von der obligatorischen Berlin-Klassenfahrt und verband mit der Kirche „eindrucksvoll“ und mit dem Alexanderplatz „hässlich, leer, Zwangsumtausch“. Daher war die Wahl einfach.
Ich trieb mich einen Tag lang an der Kirche herum, guckte mir Perspektiven an, die ganzen Läden, die vielen Touristen, die Ruine, den Neubau. Eigentlich wollte ich nur ein Stimmungsbild aufnehmen, aber dann traf ich Karl. Und hatte damit immerhin eine Person, die ich vor der Kamera rumlaufen lassen konnte. Also hat Karl für mich einen Touristen gemimt, der in verschiedene Läden geht und sich fiese Souvenirs kauft, zu McDonald’s, mit den Straßenmusikanten tanzt … die kleine Idee am Film: die Kamera war ebenfalls ein Akteur, und ich reichte Karl mit deutlich sichtbarer Hand Geld oder bewegte die Kamera wie beim Kopfschütteln, wenn das Berlin-Souvenir besonders hässlich war. Klingt heute total banal, schien damals aber ne gute Idee zu sein, wenn ich mich an die Reaktionen meiner Mitbewerber erinnere, als wir alle zusammen alle Filme geguckt haben. (Und ich ärgere mich immer noch, dass ich nicht mal früher als Anfang diesen Monats bei der dffb angerufen habe, um mal nachzufragen, ob es diesen Film noch gibt. Es gibt ihn nicht mehr.)
Ende 1999 ist Karl bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich war seitdem nur dreimal in Berlin, was größtenteils nicht wirklich Spaß gemacht hat. Ich verbinde mit der Stadt einfach einen mir sehr wichtigen Menschen, und immer, wenn ich in Berlin bin, merke ich doppelt so stark, dass er nicht mehr da ist. Es ist jetzt über zehn Jahre her, dass ich Karl das letzte Mal gesehen habe, und es tut nicht mehr ganz so weh. Der Schmerz ist einem tiefen Bedauern gewichen, dass er nicht mehr mitgekriegt hat, wie sehr ich mich verändert habe, meiner Meinung nach zum Guten. Ich hätte ihm gerne gezeigt, dass ich stark sein kann und nicht immer so fürchterlich nah am Wasser, so entscheidungsunfreudig, so traurig, so einsam. Ich hätte ihm gerne erzählt, dass ich einen Beruf gefunden habe, der mich ausfüllt und mir Selbstvertrauen gibt. Ich hätte ihm gerne eine aufgeräumte Wohnung präsentiert, mein Patenkind und die vielen Städte in Deutschland, die er nicht mehr besuchen konnte. Und ich wäre gerne mit ihm zur Gedächtniskirche gegangen, das gute alte „Weißt du noch“-Spiel spielen.
Ich war vor einigen Wochen da. Ich bin nicht nur daran vorbeigefahren, sondern bin hingegangen, habe mir Zeit genommen, um mehrere Male um das Gebäude rumzulaufen. Habe die Läden gesucht, die wir damals gefilmt haben. Und habe erschreckt festgestellt, dass der Kloß im Hals anscheinend immer da ist, wenn ich diese Kirche sehe oder sogar vor ihr stehe.
Die Kirche war geöffnet, und ich bin kurz in den Andachtsraum gegangen, um ein Gebet für Karl zu sprechen und ein bisschen Kraft für den Rückweg zu schöpfen. Hat nicht ganz geklappt. Ich habe es gerade noch geschafft, meine Mütze vom Kopf zu nehmen und mich zu setzen, bevor ich angefangen habe zu weinen. Anscheinend ist an bestimmten Orten das Bedauern nicht genug. Hier ist es wieder Schmerz, der völlig vergessen hat, dass er schon zehn Jahre alt ist.
Berlin ist meine zweite Heimat. Und ich zähle die Stunden, bis ich von hier weg kann.
Karl Dewaine Glass, 10.01.1962 – 02.12.1999
Happy birthday, love. Wish you were here.