Tagebuch Samstag/Sonntag, 29./30. August 2020 – Jeder Name zählt

Im Kunstfoyer der Versicherungskammer läuft gerade eine Retrospektive mit Fotos von Toni Schneiders, die bis Ende September verlängert wurde, und die ich euch hiermit sehr ans Herz lege. Kostet wie immer dort nichts und ist jeden Tag zu sehen.

Ich mochte vor allem die Fotografien aus den 1950er-Jahren, weil sie ein bisschen an mein Forschungsgebiet anknüpfen. Es waren an ihnen gleichzeitig der Rückgriff auf die reduzierte, neusachliche Bildgestaltung der 1920er-Jahre zu sehen sowie die Weiterentwicklung und damit die Abgrenzung zur Zeit von vor 1945. Wobei auch zur NS-Zeit die Fotosprache, im Gegensatz zur Malerei, durchaus schlicht abbildend, reportagehaft sein konnte, während in der Malerei gerne überdeutlich verherrlicht wurde. Nicht jedes Fotos, das zwischen 1933 und 1945 in offiziellen Publikationen auftauchte, wird heute als eben das erkannt; das fiel mir vor allem bei Architekturabbildungen auf, die ich im Zuge der Diss hundertfach angeschaut habe. Wenn ich nicht gewusst hätte, was ich sehe und wann es aufgenommen wurde, hätte ich die Bilder auch in die Zwanziger datieren können.

Apropos: Im Bundesarchiv finden sich Fotos von Schneiders, die er als Kriegsberichterstatter gemacht hat. Dort ist, gerade in seinen Aufnahmen von Menschen, doch ein deutlicher Unterschied zu den Bildern nach 1945 zu sehen. Nur wenige Fotos lassen schon seine Handschrift erahnen. Hier wurde noch Wert auf die Abbildung von Gemeinschaft und Gruppe gelegt, während sich Schneiders nach 1945 deutlich mehr auf die Einzelperson konzentriert; in wenigen Bildern klingt das hier schon an, zum Beispiel im Bild 101I-567-1503D-32, Seite 5 von 7, wo man zwei Männer auf einem Lastwagen sieht, beide scharf im Profil. Es ist kein Horizont zu erkennen, die Männer überragen alles, aber sie wirken nicht übermächtig wie in der zu erwartenden heldischen Inszenierung, sondern trotz ihrer eindeutig modernen Umgebung fast wie antike Büsten oder italienische Porträts des ausgehenden 15. Jahrhunderts, klassisch, still und schlicht.

Genau diese Stimmung mochte ich an Schneiders Arbeiten in den 1950er-Jahren. Dort konzentriert er sich auf ebensolche Details oder wenige Figuren, die er in kontrastreichem Schwarzweiß abbildet.


(Anstreicher, 1967; „Zwei, die auf Draht sind“, 1954.)

Auch toll: die Hängung, die teilweise aus seinen Büchern übernommen wurde, so wie hier das Flugzeug, das an einen „Rosinenbomber“ erinnert direkt neben dem Denkmal für eben diese Flugzeuge.


(„Tag und Nacht brummten die Transportflugzeuge“, 1959; „Das Luftbrückendenkmal, 1959.)

Oder einfach die Konstraste zwischen viel und wenig, hell und dunkel.


(Signalpfahl, 1954; Schneefangzaun, 1956.)


(„Weiß auf Schwarz“, 1965; „Ein Mann allein“, 1951.)

Dass der winzige Fleck links ein Segelboot auf dem bewegten Bleder See ist, habe ich erst zehn Zentimeter vor dem Bild erkennen können. Ich hing eh die meiste Zeit mit der Nase an den Rahmen, um nichts zu verpassen an Linien, Formen, Anschnitten und Ausschnitten.

Schneiders begann recht früh mit Reisereportagen. Vor diesen Bildern hatte ich ein wenig Angst, ich erwartete exotisierende Abbildungen aus zum Beispiel Äthopien, konnte aber aufatmen. F. nannte es sehr richtig „Begegnungen auf Augenhöhe“ von Fotograf und Subjekten.

Nochmal: Anschauempfehlung. (Und ich muss mich endlich mal um größere Bilder im Blog kümmern. Will ich schließlich erst seit acht Jahren machen. Man kommt zu nix.)

F. und ich waren nicht alleine in der Ausstellung, sondern wurden von Ben und Sven begleitet, mit denen wir danach noch auf ein bis drei Bierchen einkehrten. Das hat sich mal wieder so schön normal angefühlt, Kunst gucken, quatschen, zusammensitzen. Zwar bei Regen und 15 Grad draußen unter einer Augustiner-Markise, aber das war auch okay. Besser so als gar nicht. Wenn ich richtig gezählt habe, war das das vierte Mal seit März, dass ich andere Leute als F. oder Familie für längere Zeit um mich herum hatte, von den ICEs mal abgesehen sowie den Bibliotheken, wo man aber prima Abstand halten kann.

Gestern hatte ich viel Spaß mit dem Kreuzworträtsel der NYT, das sogar visuelle Hinweise bereithielt. Verlinken bringt vermutlich nur für Abonnent:innen was, aber falls ihr noch zögert, die Times zu abonnieren – hier wäre noch ein toller Grund.

Nachmittags hatte ich weitaus weniger Spaß, weil ich mich in den Arolsen Archives rumtrieb, aber das muss halt gemacht werden. Ich arbeitete erneut bei #JederNamezählt mit, bei dem jede:r, hey, ihr auch, ja du! mitmachen kann. Es geht um die Erfassung von gescannten Dokumenten, genauer gesagt, um Häftlingsakten aus Konzentrationslagern, deren Daten nun von Freiwilligen vom Scan in eine Datenbank übertragen werden. Man muss sich nicht mal anmelden. Nachdem ich aber die Daten eines vierzehnjährigen griechischen Schülers übertragen hatte, der 1944 verhaftet worden war, machte ich erstmal wieder Pause.

Abends Käse und Wein mit F. Meine Tage schwanken immer noch zwischen Nazischeiß und dem Rest der Welt, der einem immer surrealer vorkommt.