Tagebuch Dienstag, 22. Dezember 2020 – Confiri, confira und ein Brecht-Gedicht

Gestern stand der Einkauf für die Weihnachtstage auf dem Programm. Ich war kurz nach Öffnung des Ladens im Edeka, nachdem mir F. erzählt hatte, nee, der macht schon um 7 auf, nicht erst um 8, wie ich immer dachte, und da ich eh seit 5 wach war, keine Ahnung warum, konnte ich entspannt um 7.15 Uhr einkaufen gehen. Außer mir waren noch zwei oder drei Kunden im Laden, an der Kasse war ich alleine, der Kassierer trug netterweise auch mal Maske, und nach zehn Minuten war ich wieder draußen. Alles bekommen bis auf den lausigen Thymian, den ich auf dem Balkon hatte vertrocknen und erfrieren lassen. Also ging ich um kurz nach 12 noch auf den Markt, kaufte zwei Kräutertöpfe – wenn schon Basilikum da rumsteht, nehme ich halt einen mit – und war mit allem fertig.

Kurz danach klingelte die Post und stellte das Weihnachtspäckchen meiner Schwester unten in den Flur. Diese Art der Lieferung sollten sie beibehalten: „Hallo, Paket für Sie, ich stelle es an den Briefkasten.“ Die armen Menschen müssen nicht treppensteigen oder den langsamsten Fahrstuhl der Welt suchen, und wir ersparen uns einen Kontakt.

Das Päckchen war übrigens perfekt auf dieses Jahr abgestimmt.

Meine Schwester erzählte noch per WhatsApp, dass sie dem Ex-Kerl auch Kekse geschickt hatte, ich erwähnte meinen Stollen, der den Weg nach Hamburg gefunden hatte und meinte dazu, dass ich das nett fände, dass die Gröners ihn weiter hochkalorisch abfüttern. Ich hoffe, er sieht das auch so.

Mit dem Thymian konnte ich nun endlich den ersten Gang zubereiten, mit dem F. und ich Donnerstag unser Menü starten: confierter Thunfisch, ein Rezept aus einem baskischen Kochbuch, das er mir mal aus einem seiner Urlaube mitgebracht hatte. Ich habe noch nicht probiert, aber ein Rezept, das mit diesen hübschen Zutaten anfängt, kann nur gut werden.

Der Rest des Tages bestand aus herzhaftem Rumgammeln, beim Seriengucken einschlafen, beim Fußballgucken einschlafen und schließlich im Bett beim Lesen einschlafen. Ich komme anscheinend in Weihnachtsstimmung.

Ich las das wirklich empfehlenswerte Büchlein über die Weimarer Republik durch. Vorgestern musste ich beim Lesen laut lachen, denn es wurde ein Brecht-Gedicht erwähnt, das den wunderschönen Titel 700 Intellektuelle beten einen Öltank an trug (1929) und das ich zugegebenermaßen noch nicht kannte. Es wird im Buch in Ausschnitten zitiert, hier in Gänze:

„Ohne Einladung
Sind wir gekommen
Siebenhundert (und viele sind noch unterwegs)
Ãœberall her
Wo kein Wind mehr weht
Von den Mühlen, die langsam mahlen, und
Von den Öfen, hinter denen es heißt
Daß kein Hund mehr vorkommt.

Und haben Dich gesehen
Plötzlich in der Nacht
Öltank.

Gestern warst Du noch nicht da,
Aber heute
Bist nur Du mehr.

Eilet herbei, alle
Die ihr absägt den Ast, auf dem ihr sitzet
Werktätige!
Gott ist wiedergekommen
In Gestalt eines Öltanks.

Du Häßlicher
Du bist der Schönste!
Tue uns Gewalt an
Du Sachlicher!

Lösche aus unser Ich!
Mache uns kollektiv!
Denn nicht wie wir wollen
Sondern wie Du willst.

Und bist du nicht gemacht aus Elfenbein und Ebenholz,
sondern aus
Eisen.
Herrlich, herrlich, herrlich!
Du Unscheinbarer!

Du bist kein Unsichtbarer
Nicht unendlich bist Du!
Sondern sieben Meter hoch.
In Dir ist kein Geheimnis
Sondern Öl.
Und Du verfährst mit uns
Nicht nach Gutdünken, noch unerforschlich
Sondern nach Berechnung.

Was ist für Dich ein Gras?
Du sitzest darauf.
Wo ehedem ein Gras war
Da sitzest jetzt Du, Öltank!
Und vor Dir ist ein Gefühl
Nichts.

Darum erhöre uns
Und erlöse uns von dem Übel des Geistes.
Im Namen der Elektrifizierung
Der Ratio und der Statistik!“

(Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1981, S. 316/317.)

Da war der Dichter wohl etwas schlecht gelaunt. Das Buch fährt fort:

„Zur gleichen Zeit schrieb Gottfried Benn:

‚Es gibt eine Gruppe von Dichtern, die glauben, sie hätten ein Gedicht verfaßt, indem sie „manhattan“ schreiben … Die ganze deutsche Literatur seit 1918 arbeitet mit dem Schlagwort Tempo, Jazz, Kino, Ãœbersee, technische Aktivität, bei betonter Ablehnung aller seelischen Probleme. […] Ich persönlich bin gegen Amerikanismus. Ich bin der Meinung, daß die Philosophie des rein utilitaristischen Denkens, des Optimismus a tout prix, des „keep smiling“, des dauernden Grinsens auf den Zähnen, dem abendländischen Menschen und seiner Geschichte nicht gemäß ist.‘

Zwar unterschieden sich die Fluchtpunkte dieser Kritik, die sich bei Brecht auf die technisch-‚sachliche‘ Kaschierung von Herrschaftsverhältnissen, bei Benn auf den Gegensatz von optimistischem Utilitarismus und der seelischen Tiefe des ‚geistigen Menschen‘ richtete. Aber beide Kritiker beklagten den Verlust von Natur, Kultur und Gefühl im Ansturm technischer Nützlichkeitsansprüche. Modernisierungskritik, die selber auf dem Boden der Moderne stand und deren widersprüchliche Gegenwart und problematische Zukunft kritisch antizipierte, machte eine Grundstömung der deutschen Geistesgeschichte seit der Jahrhundertwende aus.“

(Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 185/186.)

Die angebliche seelische Tiefe, die gerade die Deutschen besäßen, findet man auch schon in den 1920er-Jahren in den Texten der Rechten, ab 1933 sowieso; in der Kunst erwuchs aus der Neuen Sachlichkeit die kleine Strömung der Neuen deutschen Romantik, die, wie ich gerade interessiert feststelle, im Internet anscheinend noch nicht vorkommt. Muss ich mich wohl doch mal an die Wikipedia wagen. In der Ausstellung „Die deutsche Neuromantik in der Malerei der Gegenwart“ (Frankfurt am Main 1931) hingen z. B. Werner Peiner, Georg Schrimpf, Wilhelm Heise, Carlo Mense und Franz Radziwill; diese Strömung der in Anklängen neusachlichen, magisch-realistischen Malerei lehnte sich in ihrer Ausdrucksweise an eine gleichnamige Literaturströmung an, die sich vom zivilisationskritischen Naturalismus abwandte. Nach einigen weiteren Ausstellungen mit hauptsächlich Landschaften und Stillleben folgte 1933 in der Kestner-Gesellschaft Hannover die bekannteste dieser Ausstellungen, „Neue Deutsche Romantik“, womit diese Strömung ihren Höhepunkt erreichte. Hier hingen erneut unter anderem Peiner, Heise, Radziwill oder Franz Lenk, der auch auf der Biennale Venedig 1934 vertreten war. (Die letzten Sätze sind mal wieder aus meiner Diss.)

Beim Stichwort „Öltank“ hatte ich natürlich nur meinen Liebling Grossberg im Kopf, der eben diese 1930 gemalt hatte, der gute Mann. Hier ein gescanntes Bild, das nicht beim ausstellenden Museum auf der Website zu sehen sein darf, bitte den üblichen Urheberrechte-Rant selbständig einfügen, den Sie seit Jahren von mir kennen, danke, ICHREGMICHSONSTWIEDERAUF!


(Carl Grossberg: Weiße Tanks (Harburger Ölwerke), 1930, Öl auf Leinwand, 90 x 70 cm, Sammlung Familie Olcese. Bildquelle: Kat. Ausst. Glanz und Elend in der Weimarer Republik, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2017/18, München 2017, S. 268.)

Ich habe übrigens erst durch den Blogeintrag erfahren, dass dieser bestimmte Grossberg seit diesem Jahr vor meiner Nase in der Pinakothek der Moderne hängt (ich hatte ihn in Frankfurt gesehen). Ich wäre gerne kurz in den Saal 12 gehuscht (das ist ein Saal vor den Protzens), um das Gemälde anzuhimmeln, aber das geht ja gerade nicht. Als ich F. davon wimmernd per DM erzählte, meinte er: „701 Intellektuelle beten einen Öltank an.“ Aww!

Nochmal zum Buch: Ja, die Berliner Republik ist nicht die Weimarer, aber bei manchen Sätzen stockt man dann doch kurz und ist sinnloserweise erstaunt über die historische Vergesslichkeit mancher Akteure, ich sage nur CDU/FDP vs. AfD mit ihrer Diskursverschiebung nach rechts – aber dem großen Unterschied, dass sich die Bundesrepublik in den letzten Jahren eben nicht in einer Wirtschaftskrise befand, so dass der Protest der AfD sich selbst als wohlstandssatte Katastrophensehnsucht entlarvt.

„Der Einflussverlust der bürgerlichen liberalen wie konservativen Parteihonoratioren in der Provinz, die Radikalisierung der mittelständischen Interessenvertretungen und das Aufsaugen des provinziellen Potenzials an Sozialprotest und Mobilität durch die nationalsozialistische Bewegung stellten entscheidende Faktoren in der Gesamtkrise der Weimarer Republik dar. Die ‚Panik im Mittelstand‘ und der faschisierte Sozialprotest der ländlichen Unterschicht markierten den schmerzlichen Durchbruch der Modernisierung in der Provinz weg von Lokalismus und Honoratiorentum, hin zur nationalen Interessenvertretung und dynamischen Sammlungsbewegung. Dass dieser umstürzlerische Aufbruch sich mit besonders empathisch vorgetragenem antiquierten Vokabular schmückte, lag nahe, wurde doch damit den bisherigen honorigen Repräsentanten das Integrationsvokabular entwendet und so radikalisiert, dass die neuen Bewegungen als die einzig glaubwürdigen und konsequenten Vertreter der auch von den Alten als legitim vertretenen Positionen erschienen. Dieser Mechanismus wird bei der Verdrängung der DNVP durch die NSDAP besonders deutlich: Je mehr sich die Konservativen radikalisierten, desto mehr Argumente schufen sie, gleich auf die Seite der jüngeren, dynamischeren und noch radikaleren Alternative überzugehen.“

(Peukert: Die Weimarer Republik, S. 230.)