Tagebuch Montag, 25. Januar 2021 – Täterbiografien

Autobahnkapitel. Mittags eventuell den Franzbrötchen in zu hohem Maße zugesprochen. Autobahnkapitel. Festgestellt, wie entsetzlich wenig Literatur ich zur Kunst der 1920er-Jahre besitze, denn: Es steht ja alles in den Bibliotheken, das brauche ich nicht selbst im Regal, haha. Ein bisschen Geld über Booklooker losgeworden, da gehen im Moment eure PayPal-Spenden hin, ich hoffe, das ist in eurem Sinne. Was in meinem Sinne wäre, wäre #ZeroCovid oder auch #NoCovid, ich sehe keinen Unterschied in den beiden Ideen, aber ich hätte gerne wieder geöffnete Bibliotheken.

Neue Folge The Rookie geguckt (ich mag’s), eine alte Folge The Resident (danke an die Kaltmamsell für den Hinweis), ein neues Buch angefangen. Keine Lust auf Sport gehabt. Stattdessen aus diesem Rezept der NYT eine Art Sesamsauce gezaubert, Mie-Nudeln mit Gemüse zubereitet, schmeckte wie erhofft wie vom Bringdienst. Ich hatte nicht alle Zutaten für die Sauce im Haus, aber wir merken uns mal: Sojasauce, Reisessig, dunkles Sesamöl, Erdnussbutter, Zucker, Ingwer, Knoblauch und Siracha reichen eigentlich.

Ich hatte recht lange mit der Überarbeitung der Diss gehadert, weil es doch noch deutlich mehr Arbeit bedeutet als ich bei der Abgabe dachte. Wie bereits erwähnt: Ich könnte das Ding jetzt unkorrigiert als PDF auf den Uniserver laden und mir die Promotionsurkunde abholen. Ich könnte den Text aber auch nochmal so umarbeiten, dass andere Menschen außer mir und der Prüfungskommission was davon haben. Dafür hatte ich mich entschieden, aber das zog sich trotzdem alles, vielleicht auch, weil ich nicht ins ZI konnte, um dort in den Regalen zu wühlen. Gestern war zum ersten Mal der Moment da, in dem sich das nicht mehr wie eine dusselig selbstgewählte Pflichtaufgabe anfühlte, sondern wo endlich erkennbar wurde, wie gut die neue Struktur funktioniert und vor allem, wieviel besser und erkenntnisreicher es sich lesen lassen wird. Das tat sehr gut.

Ich war trotzdem latent abgelenkt, weil es gestern zum ersten Mal in diesem Winter richtig schneite. Die Stadt ist dann immer leiser und das Licht heller. In 30-Minuten-Abständen ging ich mit der Teetasse in der Hand vom Arbeitszimmer in die Küche, lehnte mich ans Fenster und guckte minutenlang dem Schneefall zu. Das war schön.

Weniger schön ist derzeit meine Lektüre. Neben den ganzen Aufsätzen, die ich mir derzeit nur aus Datenbanken als PDF holen kann, liegt gerade ein kleiner Sammelband zur Holocaust-Forschung neben mir, in dem sich zwei Aufsätze mit der Täterforschung befassen. Mir ist sehr klar, dass es einen Unterschied macht, sich mit einem KZ-Aufseher oder einem Maler biografisch zu befassen, aber im Hinterkopf bohrt trotzdem eine Ahnung herum, die in einem der Aufsätze angerissen wird: „Täter handelten durchweg nicht isoliert, sondern waren in arbeitsteilig ausgerichtete Netzwerke von Täterkollektiven eingebunden.“ (Bajohr 2015, S. 170) Oder auch die generelle Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Individualbiografie: „Im Gegensatz zu dem für die Forschung bis in die 1980er Jahre so typischen Begriff des ‚Funktionärs‘ impliziert die heute allgemein verbreitete Bezeichung ‚Täter‘, dass – anders als früher angenommen – eine viel größere Gruppe von Einzelpersonen von ihrem Tun auch innerlich überzeugt gewesen ist. Nachdem Täterforschung sich tatsächlich […] zu einer selbständigen Subdisziplin entwickelt hatte, rückten Eigeninitiative, persönliche Energie und vor allem individuelle Handlungsspielräume der Täter in den Mittelpunkt, die bis zur alleruntersten Hierarchieebene reichten.“ (Roseman 2015, S. 188) Der letzte Satz erläutert auch die Abkehr von der Idee der bis dahin postulierten Menge an schlichten Befehlsempfängern; damit versuchte sich zum Beispiel Eichmann zu verteidigen.

Rosemann schreibt weiter:

„Was biographische Annäherungen tatsächlich erhellen können, sind einige der Mechanismen innerhalb von Partei und Regime, die gemeinsames Handeln anregten und ermöglichten. Das betrifft nicht zuletzt den Konkurrenzdruck, der eine so wichtige Rolle in den älteren strukturalistischen Analysen spielte. […] In dieser Hinsicht bilden Biographien ein wertvolles Korrektiv gegen den derzeitigen Trend, die Mitwirkung der gesamten Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken. Sie erinnern uns an die zentrale Bedeutung von Partei- und Herrschaftsstrukturen, aber auch an die Mischung aus Loyalität und Eigenständigkeit, die das Regime von seinen Dienern verlangte.“

(Rosemann 2015, S. 202/203)

Noch einmal: Ich weiß, dass ich hier über einen Landschaftsmaler schreibe und nicht über jemanden, der Gaskammern bediente. Aber unser Fach hat sich so ewig darum gedrückt, sich überhaupt mit der Frage der Verantwortung von Kunst und den Menschen, die sie schufen, zu befassen, dass es schlicht noch kein grundlegendes Werk gibt, das diesen Komplex aufschlüsselt. Bisher pendelt die Forschungsliteratur zwischen der Meinung, dass Kunst überhaupt keine Wirkung hatte und der meist vertretenen, dass Kunst in hohem Maße dazu beitrug, nationalsozialistisches Gedankengut unter die Ausstellungsbesucher zu bringen. Ich weise zum hundertsten Mal auf Aufsätze hin, die zum Beispiel die GDK untersuchten und dabei feststellten, dass selbst auf der größten GDK 1941 nur gut drei Prozent aller Kunstwerke einen klar ideologischen Charakter hatten. Und damit sind wir in der wachsweichen Zone, in der ich seit drei Jahren herumwabere: Inwiefern sind Gemälde von Autobahnen, deren Bau von Anfang an propagandistisch für das Regime ausgewertet wurden, ideologische Kunst? Sind sie eine Art Dokumentation? Sind sie eine Spielart des Landschaftsbildes? Ich habe die Diss schon abgegeben, herrgott, und bin immer noch nicht mit dem Durchdenken fertig. Meine Schlussfolgerung in Kürze: Es kommt darauf an.

Ich habe in der Überarbeitung die biografischen Details sehr gekürzt, auch um nicht zu positivistisch zu werden. Das war auch eine Frage, die Roseman in seinem Aufsatz stellt: Darf man mit Tätern empathisch sein? Ich meine, man muss zumindest ein gewisses Interesse an einer Person und ihren Intentionen haben, um überhaupt biografisch arbeiten zu können. Aber auch das war ein Problem, das mich drei Jahre lang beschäftigt hat: Wie sympathisch darf mir der Mann werden? Da der Nachlass in dieser Hinsicht recht wenig bietet, lief ich nicht in Gefahr, mich zu sehr mit ihm gemein zu machen, aber ab und zu ist mir da doch ein Halbsatz durchgerutscht. Auch deswegen ist das fast alles rausgeflogen, aber einige Ereignisse sind eben noch drin. Und genau bei denen denke ich über Handlungsspielräume nach. Ich kann inzwischen belegbar behaupten, dass Protzens Malweise sich zwar nicht groß veränderte, aber sich doch inhaltlich den nie eindeutigen Vorgaben des Regimes an die neue deutsche Kunst anpasste. Was mich zur Täterfrage bringt: Inwiefern sind Gemälde von Autobahnen bzw. die Menschen, die sie malten (nicht nur Männer), regimestabilisierend gewesen? Das ist jetzt bewusst hoch aufgehängt, aber das ist schon eine zentrale Frage, sonst müsste ich mich mit dem Kram ja gar nicht befassen. Auch deswegen wollte ich etwas mehr zur Täterforschung wissen, um die üblichen Fallen zu vermeiden, in die ich bei der Erstfassung der Diss anscheinend gestolpert bin.

(Zitierte Literatur: Bajohr, Frank: „Täterforschung, Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes“, in: Ders./Löw, Andrea (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015, S. 167–185 bzw. Roseman, Mark: „Lebensfälle: Biographische Annäherungen an NS-Täter“, im selben Band, S. 186–209.)

„Einmal, als die Kinder in der Pause besonders laut tobten, beschimpfte uns der Lehrer, natürlich selbst Jude, daß es hier wie in einer Judenschule zugehe. Aber wir waren ja eine Judenschule. Warum uns im engen jüdischen Kreis noch weiter erniedrigen, wenn die arische Umwelt es tagtäglich mit Erfolg tat? (Übrigens schreibe ich dieses Wort ‚arisch‘ absichtlich nicht in Anführungszeichen. Es wurde damals nur selten ironisch ausgesprochen.)“

Ruth Klüger: weiter leben, München 2019 (Erstauflage 1994), S. 16.