27. Juli 2022 – Ergänzungen zum FAZ-Artikel
Heute ist in der FAZ meine kurze Nachlese zu einer für mich sehr spannenden Tagung zu 50 Jahren „kritische berichte“ des Ulmer Vereins erschienen. Der Artikel ist leider nicht online, aber im Twitter-Account der @AGkuwiki nachzulesen. Hier ein paar Ergänzungen, die ich wegen Platzmangel nicht unterbringen konnte. Die Redebeiträge werden in Essayform im ersten Heft des Jahres 2023 veröffentlicht, das dann – wie alle anderen Hefte auch – nicht mehr hinter einer „moving paywall“ verschwindet, sondern vollständig Open Access erscheint.
In jedem der Vorträge war die Frustration mit dem derzeitigen Stand unseres Fachs zu spüren. Das war auch bereits der Anstoß vor 50 Jahren für die damaligen Gründerväter der „kritischen berichte“, die das Fach von innen heraus reformieren oder weiterbringen wollten. 1976 kam mit Eva Maria Ziegler die erste Frau in die Redaktion, die, wie ich gerade feststelle, noch keinen Wikipedia-Eintrag hat, was sehr gut zum Thema passt. (*notier*) Horst Bredekamp erinnerte daran, dass in den „kritischen berichten“ aus der Kunstgeschichte schon eine Medienwissenschaft wurde, bevor sich der Begriff etabliert hatte. Auch das Thema feministische Perspektiven war früh präsent. Änne Söll (Ruhruni Bochum) hatte sich für ihren Kurzvortrag nochmal ins Archiv begeben, um feministische Texte erneut zu lesen und dabei ermüdet festgestellt, dass wir noch heute über die gleichen Fragen debattieren wie sie schon in den 1990er Jahren im Heft verhandelt worden waren. Außerdem fehlten ihr bis heute queere Themen. Hanna Steinert (Humboldt-Universität) wünschte sich mehr Vernetzung an der Uni, nicht nur unter Leuten, die Geschlechterforschung betreiben; Geschlechterforschung sollte selbstverständlich sein, genau wie die Colonial Studies. Söll regte an, den Kanon und die eigenen Auswahlkriterien für Seminare immer wieder zu überprüfen: „Was passiert, wenn ich Duchamp weglasse und stattdessen Elsa von Freytag-Loringhoven bespreche?“
Isabelle Lindermann (derzeit am ZI hier in München) forderte, dass kritische Kunstgeschichte auch als Kritik an Infrastrukturen gedacht werden müsse. Wie lassen sich tradierte Räume kapern, welche Akteure, Netze und Finanzierungsmöglichkeiten seien dafür nötig? Sie nutzte den schönen Begriff des „Drittmittelkapitalismus“, an dem das akademische System krankt. In vielen Vorträgen wurden die Arbeitsbedingungen, gerade im Mittelbau angesprochen, die man auf Twitter unter den Hashtags #IchbinHanna und #IchbinReyhan verfolgen konnte und kann. Tom Holert (Farocki-Institut Berlin) meinte, dass kritische Stimmen die Unis verließen, um endlich gehört zu werden, was ein Armutszeugnis sei. Es wurde mehrfach angemahnt, wie schwierig es sei, die Institution zu kritisieren, von der man abhängig sei.
Es wurde auch darüber gesprochen, wer sich überhaupt in unserem Fach bewegt, wer wahrgenommen wird und wer es sich leisten kann. Franziska Lampe (Ulmer Verein) ärgerte sich über die vielen Karrieren, die keine würden: „Wofür die ganze Ausbildung, wenn das alles ins Nichts führt? Wir vergeuden Ressourcen, wir haben vielfach abgebrochene Biografien, wegen denen spannende Forschungsfragen nicht beantwortet werden.“ Eva-Maria Troelenberg (Universität Düsseldorf), die als Erst-Promovierende in ihrer Familie gerne auch von außen als Vorbild präsentiert wird, meinte: „Aufsteiger-Biografien verfälschen das Bild. Mit jedem Schritt, den man vorankommt, wächst die Erkenntnis, das dieses System nicht für alle gemacht ist.“ Julian Blunk (Redaktion kb): „Wir müssen 150 Prozent liefern, wir müssen brennen für die Wissenschaft. Das spielt den Strukturen in die Hände, die wir bekämpfen sollten.“ Henrike Haug (Ulmer Verein): „Wer kann sich das leisten? Prekäre Stimmen werden derzeit durch uns vermittelt, weil die Betroffenen andere Sorgen haben. Wie weit sind wir denn wirklich von der ‚68er, weißen, männlichen Bio-Kartoffel‘ gekommen?“
Ich habe die gesamte Veranstaltung auch so empfunden. Es ist allen klar, dass dieses System weiterhin Stimmen reproduziert, die wir seit Jahrzehnten hören. Wer mal kurz darüber nachdenkt, weiß auch, dass sich die Strukturen in Forschung, Lehre und Publikation ändern müssen, aber es fehlen die Mittel, die Zeit und der politische und institutionelle Wille. Es läuft einfach weiter vor sich hin. Auch deswegen hatte ich im Artikel der Wikipedia so viel Raum gegeben, weil sie eine niedrigschwellige Art des Publizierens ist, wie ich ja selbst bei meinen ganzen Neu-Einträgen von Künstlern und Künstlerinnen meines winzigen Teilgebiets der großen Kunstgeschichte merke. Ja, es wird weiterhin im ersten BA-Semester allen beigebracht, dass man diese Website nicht nutzen sollte, aber – auch das bestätigten so ziemlich alle – natürlich guckt man da als erstes rein, und wenn es nur darum geht, Lebensdaten abzuklopfen. Bis ich die fürchterlich lahme – und nicht frei zugängliche – Seite des AKL aufgerufen habe, gucke ich halt in die Wikipedia.
Hanna Steinert beschrieb ihre ersten Gehversuche dort. Angetreten war sie mit der Idee, noch unbekannte Künstlerinnen neu einzutragen, was, wie im FAZ-Artikel beschrieben, gerne an fehlender Literatur scheiterte. Sie entschloss sich daher, eher bereits bestehende Artikel zu erweitern, zum Beispiel Leonardos „Abendmahl“ um die Arbeit von Lillian Schwarz. Hier die ausführliche Projektbeschreibung von „Representing Women“ am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Uni.
Wofür ich in der FAZ keinen Platz hatte, war der spannende Vortrag von Anh-Linh Ngo, Mitherausgeber von ARCH+. Dieses Medium versteht sich selbst als Agendasetter und stößt Forschungsvorhaben an. Ebenfalls nicht im Print, weil sinnlos, die Links zu der Ausstellung „Lebens-Wege“ des Focke-Museums, die sich mit den sogenannten Gastarbeiter*innen befasste und sie selbst zu Wort kommen ließ, sowie des Computerspiels „Forced Abroad“ des NS-Dokuzentrums. Außerdem möchte ich noch auf die Website bzw. das Projekt „Departure Neuaubing“ hinweisen.