Tagebuch Donnerstag, 17. August 2023 – Seite 194/195
„Barbara kommt immer seltener nach Berlin; auch der Geheimrat zeigt sich beinah nie mehr in der Hauptstadt, wo er früher, mehrmals im Winter, Vorträge zu halten und an der repräsentativen Geselligkeit teilzunehmen pflegte. Der Geheimrat sagt: »Ich bin nicht mehr gern in Berlin. Ja, ich fange an, mich vor Berlin zu fürchten. Es bereiten sich hier Dinge vor, die mich entsetzen – und das Schaurigste ist, daß die Menschen, mit denen ich Umgang habe, die Gefahren nicht zu bemerken scheinen. Man ist geschlagen mit Blindheit. Man amüsiert sich, streitet sich, nimmt sich ernst; inzwischen verfinstert sich der Himmel, aber man hat keinen Blick für das Ungewitter, das näher kommt – das schon beinahe da ist. Nein, ich bin nicht mehr gern in Berlin. Vielleicht meide ich es, um es nicht verachten zu müssen …«
Er kommt doch noch einmal; aber nicht mehr, um an repräsentativer Geselligkeit teilzunehmen oder in der Universität zu dozieren; vielmehr um eine große kulturpolitische und tagespolitische Rede zu halten. Die Rede trägt den Titel: »Die drohende Barbarei«; mit ihr will der Geheimrat den geistigen Teil des Bürgertums noch einmal – zum letzten Mal – warnen vor dem, was heraufkommt und was Verfinsterung und Rückschlag bedeutet, während es sich selber frech »Erwachen« und »nationale Revolution« zu nennen wagt. – Der alte Herr spricht anderthalb Stunden lang vor einem Publikum, welches tobt – teils vor Beifall, teils zum Widerspruch.
Während seines letzten Aufenthalts in der Kapitale hat der bürgerliche Gelehrte, der durch seinen Besuch in der Sowjet-Union der Rechten verhaßt und den Demokraten schon ein wenig verdächtig ist, Besprechungen mit vielen seiner Freunde, mit Politikern, Schriftstellern, Professoren. All diese Unterredungen endigen mit der heftigsten Meinungsverschiedenheit. Die Freunde erkundigen sich, nicht ohne Hohn: »Wo bleibt Ihre geistige Toleranz, Herr Geheimrat? Wohin sind Ihre demokratischen Prinzipien? Wir erkennen Sie gar nicht wieder. Sie sprechen ja wie ein radikaler Tagespolitiker, nicht mehr wie ein kultivierter, überlegener Mensch. Alle kultivierten Menschen sollten sich darin einig sein, daß es diesen Nationalsozialisten gegenüber nur eine Methode gibt: die erzieherische. Wir müssen alles daran setzen, diese Menschen zu zähmen, mittels der Demokratie. Wir müssen sie gewinnen, anstatt sie zu bekämpfen. Wir müssen diese jungen Menschen überreden zur Republik. – Und übrigens,« fügen die sozialdemokratischen oder liberalen Herren mit einer vertraulich gedämpften Stimme und mit einem ernsten Blick hinzu, »und übrigens, lieber Geheimrat: Der Feind steht links.«
Manches muß Bruckner sich anhören, über die »gesunden und aufbauwilligen Kräfte«, die »trotz allem« im Nationalsozialismus stecken; manches über das edle nationale Pathos einer Jugend, der gegenüber »wir Älteren« eben nicht länger verständnislos ablehnend bleiben dürfen; über den »politischen Instinkt des deutschen Volkes«, seinen »gesunden Menschenverstand«, der stets das Schlimmste verhüten werde – (»Deutschland ist nicht Italien«) –: ehe er, erbittert und enttäuscht, abreist, im Herzen entschlossen, nie wiederzukehren.
Der Geheimrat Bruckner entzieht sich einer Gesellschaft – in welcher Hendrik Höfgen Triumphe feiert.“
Klaus Mann: „Mephisto. Roman einer Karriere“, Berlin/Weimar 1971 (Erstausgabe Amsterdam 1936), S. 194/195.