11. Januar 2024 – Wiki und Würzburg
In der SZ stand vor kurzem ein Artikel über die sogenannten menschlichen Überreste in deutschen Museen; speziell ging es um das Grassi-Museum in Leipzig. (Paywall, Archive.is)
„Die deutschen Museen haben viele Leichen im Keller: Nazi-Raubkunst, Plündergut aus den Kolonien. Und dann sind da noch die buchstäblichen Leichen: In Pappschachteln, ganz unten, ganz hinten in den Depots gestapelt, liegen die Ãœberreste von mindestens 17 000 Menschen aus “kolonialen Kontexten”. Das ist das Ergebnis eines Berichts, der im Auftrag von Bund, Ländern und Kommunen erstellt und am Freitag veröffentlicht wurde. Es ist der erste Versuch, einen Ãœberblick über diese verdrängte Hinterlassenschaft von Kolonialismus und Rassenlehre zu bekommen.
“Menschliche Ãœberreste”: Schon dieser spitzfingrige Begriff sagt viel über die albtraumhafte Last aus der Vergangenheit und wie sie aus dem Bewusstsein geschoben wurde. Er suggeriert, sie seien ohne irgendjemandes Zutun in den Depots gelandet. Er trennt die Menschen von ihren Resten und macht sie zu Dingen. Und er verschleiert, worum es sich konkret handelt: Skelette, Schädel, sogar Gewebe und Organe – Teile toter Menschen, deren Nachfahren oft bis heute unter dem Verlust leiden. Spätestens jetzt, da erstmals über die deutsche Kolonialvergangenheit diskutiert wird, können die Museen und ihre Träger diese unbestatteten Toten in ihren Sammlungen nicht länger verdrängen. Eine neue Ethik für den Umgang mit ihnen ist überfällig. Am weitesten ist man im Leipziger Grassi-Museum, in dessen Sammlung sich 3000 Skelette aus Kolonialkontexten befinden.“
Der Artikel beschreibt die Anthropologie sowie die unseligen Theorien zu angeblich unterschiedlichen menschlichen „Rassen“, denen man durch Skelettvermessungen auf die Spur kommen wollte, wozu man erst einmal viele Skelette brauchte, um vergleichen zu können.
„Ihre Forschung sollte die Legitimation für den Kolonialismus liefern, aber sie speiste sich auch aus diesem. Außer Masken, Waffen und Kultobjekten schafften die Kolonialsoldaten Tausende Skelette nach Hause. Sie produzierten ja reichlich Tote. Sie raubten Gräber aus; nahmen Leichen nach Überfällen und Hinrichtungen mit; im berüchtigten Lager auf der Haifischinsel in Namibia mussten die lebenden Häftlinge die Schädel der toten auskochen. So füllten sich Museen und anthropologische Institute mit Knochen.“
Ein Bericht, den auch der SZ-Artikel verlinkt, gibt Hinweise für einen respektvollen Umgang mit den vielen Toten, die in deutschen Depots liegen.
Bei der Fortbildung zur Provenienzforschung, die ich im vergangenen Vierteljahr absolvierte, ging es in einem Block auch um die kolonialen Kontexte. Eine Dozentin erzählte von ihrer Arbeit, Skelette wieder ihren Ursprungsorten zuzuordnen, denn meist waren die Objekte – über dieses Wort darf man hier gerne stolpern – nicht gut beschriftet, beschrieben, katalogisiert oder inventarisiert, wenn überhaupt. Ein Skelett konnte sie nicht weiter zuordnen als „Südamerika“. Ein anderes konnte sie immerhin annähernd datieren: Es stammte aus Indonesien und war in eine niederländische Zeitung eingewickelt – seit 100 Jahren. Bisher hatte sich anscheinend noch niemand im Museum für diese Knochen interessiert.
Eine der Dozentinnen des Einführungsblocks war Bénédicte Savoy, die einen sehr begeisternden Vortrag hielt. Sie erwähnte ein Forschungsprojekt, an dem sie in den letzten Jahren beteiligt gewesen war und aus dem die Veröffentlichung „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“ entstanden ist. Die Publikation ist Open Access verfügbar und ich kann sie euch sehr empfehlen.
Eine Rechtfertigung für das museale Sammeln war stets die Wissenschaft, der Erkenntnisgewinn. Savoy beschreibt in einem Kapitel, wie wenig allerdings wirklich geforscht wurde. Sie bezieht sich auf die ethnografischen Sammlungen in Berlin.
„Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass deutsche Museen seit etwa 1920 den größten Bestand an kamerunischen Kulturgütern in öffentlicher Hand weltweit aufbewahren, drängt sich die Frage auf, welchen wissenschaftlichen Ertrag die Zehntausende von Statuen, Thronen, Masken, Trommeln, Glocken, Reliquiaren, Bauelementen, Betten, Gefäßen, Speeren, Schildern, Gewändern, Puppen und Textilien überhaupt generiert haben, die von ca. 1884 bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit 1919 aus dem heutigen Kamerun nach Berlin, Stuttgart, Leipzig, Hamburg usw. verbracht wurden. Welche Rolle spielten deutsche Museen in der internationalen Rezeption der spätestens ab Mitte der 1950er-Jahre in Kamerun selbst, in den USA und in Frankreich unter dem Oberbegriff »Arts from Cameroon« immer intensiver erforschten Kunst-, Kult- und Kulturgüter? Oder zugespitzt gefragt: Hat die materielle Anhäufung von Objekten aus Kamerun in deutschen öffentlichen Museen in den vergangenen 100 Jahren der Wissenschaft genutzt, und welcher Wissenschaft?“
Sie kommt zu einem sehr ernüchternden Ergebnis:
„Auf den Punkt brachte dies Christine Stelzig in ihrer bahnbrechenden Studie „Afrika am Museum für Völkerkunde zu Berlin 1873–1919“ bereits 2004, als sie nach akribischer Auswertung aller Fachzeitschriften des Museums konstatierte: »Das Anwachsen der Afrikabestände […] hatte keinen Einfluß auf die Anzahl der Veröffentlichungen in den Museumsperiodika«. Die Museumsethnologen nutzten kaum das Potential der Sammlung für Publikationen und diese »in weit geringerem Maße als Mitteilungsforum, als eigentlich angestrebt worden war.«
Sucht man nun gezielt nach Studien, die sich mit Objekten aus Kamerun befassen, fallen die Ergebnisse noch dünner aus. Insgesamt wurden bis einschließlich 1939 weniger als 25 Objekte aus Kamerun – von den 6044, die sich 1919 im Museum befanden – von Mitarbeitern des Berliner Museums präzise besprochen bzw. abgebildet. […]
Doch auch außerhalb der Institution publizierten die Berliner Museumswissenschaftler kaum eine objektbezogene Studie zu Kamerun. Eine einzige, von der Forschung bislang kaum wahrgenommene Ausnahme bildet ein fünfseitiger Beitrag mit Abbildungen aus dem Jahr 1903 in der „Zeitschrift für Ethnologie“. […]
Nach 1929 gab das Berliner Völkerkundemuseum kein allgemeines Museumsverzeichnis mehr heraus. Bis heute warten die scientific community und Interessierte auf die Veröffentlichung eines verlässlichen Bestandskatalogs der Afrika-Abteilung. Eine wissenschaftliche Übersicht des Kamerun-Sammlung ist ebenso überfällig wie die Einrichtung einer online zugänglichen Datenbank.“
Savoy erwähnt auch den Kunsthistoriker Eckart von Sydow, der sich immerhin mit der Kunst aus Kamerun bzw. wenigen Objekten aus dem Land auseinandersetzte und auch darüber publizierte. Bis heute sind seine nicht veröffentlichten Notizen und Unterlagen eine wichtige Quelle zu den Beständen im Haus. In seinem 1921 erschienenen Bändchen „Exotische Kunst. Afrika und Ozeanien“ heißt es allerdings:
„‚Das Schöpfertum ist hier noch unmittelbare Angelegenheit: nahe dem Blut, eindringend in das Blut, aufquellend aus dem Blut und mit dem Blut […]. Ahnungsvoll regt sich das schöpferische Blut der Ahnen.‘
Afrikanische Kunst und die frühe deutsche Blut-und-Boden-Rhetorik gingen in dieser Studie eine unheilige Allianz ein. Sie stand für Sydow am Anfang einer sich über zwei Jahrzehnte hin präzisierenden, an fachlicher Expertise gewinnenden Beschäftigung mit den Afrika-Bestände deutscher Museen, insbesondere mit denen aus Kamerun in Berlin. Zwei monumentale Publikationen von Sydow werden bis heute in diesem Zusammenhang zitiert: „Die Kunst der Naturvölker und der Vorzeit“ von 1923 sowie das 1930 im Reimer Verlag publizierte „Handbuch der afrikanischen Plastik: Erster Band: Die westafrikanische Plastik“. Davor und danach publizierte Sydow eine lange Reihe von Aufsätzen in internationalen Zeitschriften sowie Monografien, in denen auch kamerunische Gegenstände sporadisch Erwähnung finden.“
Sydow war frühes NSDAP-Mitglied und konnte auf Kameraden in den Museen zurückgreifen:
„Dass „Die Kunst der Naturvölker“ und das „Handbuch der afrikanischen Plastik“, diese bis heute immer wieder zitierte Studien, aus der Feder eines Wissenschaftlers stammen, dessen Forschungen durch nationalsozialistische Netzwerke erleichtert, wenn nicht sogar ermöglicht wurden, mindert deren wissenschaftliche Qualität gewiss nicht. Doch ist gerade im Zusammenhang mit der Aufarbeitung afrikanischer Werke die Affinität eines Wissenschaftlers zur auf rassistische Diskriminierung und Vernichtung von »Anderen« ausgerichteten NS-Ideologie ein besonderer Umstand.“
Ich konnte anhand von Savoys Aufsatz mal wieder eine Mitgliedsnummer in der Wikipedia eintragen.
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Wo wir gerade bei Savoy und der Wikipedia sind: Von heute bis Sonntag findet in Berlin ein Barcamp „Provenance loves Wiki“ statt. Die Eröffnungsdiskussion, an der unter anderem Savoy und die von mir sehr geschätzte Meike Hopp teilnehmen, kann ab 18.15 Uhr per Zoom verfolgt werden.
Und in Würzburg findet nächste Woche am Freitag und Samstag eine Ringvorlesung zum Thema Provenienzforschung statt. Auch dort ist einiges online mitzuverfolgen.