Dienstag, 23. April 2024 – Sütterlinkurs 2 und schlechte Laune
Gestern fand die zweite und letzte Sitzung des Sütterlinkurses statt, den ich im Stadtarchiv für schmales Geld belegt hatte. Tipp des Dozenten: Er unterrichtet auch an der Münchner Volkshochschule; dort dauert der Kurs etwas länger. Mir reichen aber, und damit hätte ich selbst gar nicht gerechnet, die zwei Sitzungen zu je 90 Minuten, die ich jetzt hinter mir habe. Ich habe in der vergangenen Woche schon mal ein paar weitere Übungstexte in diesem Interweb ergoogelt und konnte die deutlich besser lesen als noch vor zwei Wochen. Der Rest sei Übungssache, wurde uns versichert.
Gestern lasen wir zunächst ein Schreiben einer Dame an den „hohen Magistrat der königl. Haupt- und Residenzstadt München“ aus dem Dezember 1883, damit wir auch die ältere Kurrentschrift mal kennenlernten. Das ging halbwegs gut, wir scheiterten quasi alle an den Großbuchstaben. Wenn man einmal die Ähnlichkeit von e und n kapiert hat, dass das Ding, was wie ein F aussieht, meist ein H ist und das S in zwei verschiedenen Ausführungen geschrieben wird, geht das Wortinnere eigentlich ganz gut. Und so tastete auch ich mich meist von der Mitte des Worts ans Ende und konnte dann den blöden Anfangsbuchstaben raten. P, du Nervensäge.
Der zweite Text war etwas krakeliger geschrieben als die Eingabe an den Magistrat, für den die Absenderin vermutlich einen Profi beauftragt hatte. Dieses Schreiben ging ans Standesamt München und stammt vom 6. Dezember 1938.
Transkription: „Auf Grund der Kennkarte führe ich ab 1. Januar 1939 nach Vorschrift den zusätzlichen Beinamen Sara, wovon Sie gefälligst Kenntnis nehmen wollen [und] auch hie[r]von das Polizei-Präsidium zu verständigen bitte.
Mit vorzügl. Hochachtung
Frieda Michaelis
Witwe
Frieda Obermeyer geb. 28. Nov. 1867 in München
verehelicht in München am 16. Februar 1888
mit Herrn Arthur Michaelis“
Warum die Dame dem Staat mitteilt, dass sie nun auch noch Sara heißt, muss ich hoffentlich nicht mehr erklären; falls doch, übernimmt das die Wikipedia. Ich hatte schlagartig schlechte Laune. Der Dozent erklärte, warum er sich für diesen Text entschieden habe: erstens wegen der Handschrift, zweitens genau wegen des Inhalts: „Wenn man ahnt, worum es geht, klappt das Entziffern besser.“ Das stimmt vermutlich, aber auf diese Quelle war ich mal wieder innerlich nicht vorbereitet.
Ich wusste natürlich um die Zahlen der jüdischen Gemeinde in München. Zuhause erledigte ich mich dann selbst und schaute in der Datenbank von Yad Vashem nach, ob Frau Michaelis in ihrem hohen Alter vielleicht gnädigerweise einfach in ihrem hoffentlich noch eigenen Bett entschlafen durfte, aber nein. Sie wurde am 3. Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie bereits im August ermordet wurde.
Ich verachte dieses jämmerliche Land gerade wieder so sehr.