Sonntag, 5. Mai 2024 – Ein halbes Klavier
Wir hatten Konzertkarten für Grigory Sokolov. Auf den Abend hatte ich mich schon länger gefreut, denn, warum auch immer, das Publikum ist bei Sokolov eindeutig disziplinierter als bei allen anderen Interpret*innen. Der olle Herkulessaal ist schön runtergedimmt, der einzige wirkliche Lichtpunkt ist der Kegel über dem Flügel, an dem Sokolov sehr unfeierlich Platz nimmt, sein Ding macht, sich nach vorne und hinten verbeugt (auf der Bühne stehen auch Stühle fürs Publikum) und wieder abgeht. Nach dem eigentlich Programm gibt es immer sechs Zugaben, jeweils zwei Verbeugungen und dann ist Schluss. Und weil der Pianist gefühlt so abgezirkelt seinen Stiefel durchzieht, hustet kaum jemand, kein Handy flackert (wobei gestern eins klingelte) und sobald das Saallicht gedimmt wird, ist Ruhe im Laden.
Leider war ich noch nicht ganz optimal fit, ich merkte im ersten Teil, der komplett aus Bach bestand, dass alles an mir vorbeilief, ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren, mein Kopf war noch im Bett oder wollte da wieder hin. Außerdem muss ich mir Bach immer erarbeiten, das klingt für mich stets wie vertonte Mathematik, das bewundere ich intellektuell, aber ich lasse mich dann doch lieber von osteuropäischen Komponist*innen emotional hinwegspülen. Gestern war mir alles eine Nummer zu groß und ich musste in der Pause gehen, schon vom Rumsitzen und konzentrierten Zuhören angeschwitzt und überfordert.
Es gab zunächst Bachs „Vier Duette BWV 802–805“, hier mit Tatiana Nikolayeva, und anschließend, von Sokolov ohne Pause gespielt, die „Partita Nr. 2 in c-Moll BWV 826“, hier mit Sokolov. Die Sarabande war der einzige Teil, bei dem ich merkte, dass ich mitging und fasziniert war, der Rest war Arbeit und damit für mich nicht das richtige gestern. Sonst gerne, aber mir fehlte die Kraft.
Nach der Pause hätte ich gesehen: Chopins „Vier Mazurken op. 30“, hier mit Julianna Avdejeva, danach seine „Drei Mazurken op. 50“, hier mit Wladimir Aschkenasi. Abschließend noch Schumanns „Waldszenen“ op. 82, hier mit Igor Schukow.
Hier ist ein total illegaler Smartphone-Mitschnitt vom kompletten Konzert vom Februar in Sevilla mit demselben Programm, wie ich gerade auf YouTube sehe. Mal sehen, wie lange das online bleibt.