Der Comic und ich. Eine Annäherung.
Ich bin seit Monaten nicht mehr im Kino gewesen. Das mag damit zusammenhängen, dass es mir mehr und mehr auf den Zeiger geht, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein zu müssen, den ich mir auch noch mit anderen Menschen teilen muss, die womöglich Nachos mit Käseschleim essen und ihrem Nachbarn die Handlung erzählen, die sich gerade vor uns allen entfaltet. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ich gerade ein bisschen müde bin von all den Geschichten, die ich mir in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Kino oder auf DVD angeschaut habe. Ich nehme an, man kommt irgendwann in ein Alter oder an einen Punkt, wo man das Gefühl hat, kenn ich schon, war ich schon, hatte ich schon. Vielleicht geht auch nur mir das gerade so. Aber seit einiger Zeit finde ich Fernsehserien deutlich unterhaltsamer als Filme, weil sie viel mehr Zeit für einen Spannungsbogen haben und eben nicht nach zwei Stunden alles aufgelöst haben müssen. Weil sie viel mehr mit ihren Figuren machen können.
(„Transmetropolitan – Back on the Street“, Warren Ellis/Darick Robertson, Vertigo 1998, Seite 109)
Vielleicht ist das blöd, aber momentan kommen mir Filme wie Kurzgeschichten vor. Ich erinnere mich an meine Deutschlehrerin vor gefühlten 100 Jahren, die mal meinte, eine Kurzgeschichte zeichne sich dadurch aus, dass man quasi in die Handlung hineingeworfen werde. Ohne Vorbereitung oder 30 Seiten Exposition, es geht gleich los, es geht schnell wieder vorbei, und im besten Falle hallt das Geschriebene viel länger nach als man zum Lesen gebraucht hat. Gute Filme kriegen genau diesen Effekt bei mir auch immer noch hin, aber trotzdem – und das ist sicher ein hausgemachtes Problem – habe ich momentan sehr wenig Lust dazu, mir welche anzugucken, weil ich im Hinterkopf diesen kleinen nörgelnden Druck habe, der mir sagt: Schreib drüber. Füll das Blog mal wieder mehr.
(„The Umbrella Academy – Apocalypse Suite“, Gerard Way/Gabriel Bá, Dark Horse Books 2008)
Filmegucken ist gerade eher Pflichtaufgabe. Und wenn ich den Nörgler im Hinterkopf knebele und mal nicht über einen Film schreibe (wie vor Wochen über Coraline), nörgelt sein Zwillingsbruder: pictures or it didn’t happen. Habe ich einen Film wirklich gewürdigt und verinnerlicht, wenn ich danach nicht mehr meine Gedanken darüber zu Papier bringe bzw. sie in eine Eingabemaske tippe?
Völliger Blödsinn, ich weiß. Trotzdem.
(„Black Hole“, Charles Burns, Pantheon 2005)
Ich lese schon viel länger als dass ich Filme sehe. Und das macht mir immer noch Spaß, und da stört es mich auch überhaupt nicht, einen Eintrag im WordPress-Entwürfe-Ordner zu haben, den ich nach jedem Buch aktualisiere, um ihn am Monatsende online zu stellen. Über Bücher rede ich anscheinend noch gerne. Vielleicht weil ich da nicht das Gefühl habe, ach, das kennt ja eh jeder. Wer braucht schon die x-te Up-Kritik? Das hat mich zwar früher auch nicht davon abgehalten, die x-te Tw*l*ght-Kritik zu schreiben, aber jetzt gerade stört es mich.
Aber: Ich vermisse Bilder. Mir fehlen Bilder, auf die ich selber nie kommen würde und die mir dementsprechend lange im Gedächtnis bleiben, weil sie mich so beeindruckt haben. Manchmal kriegt das Fernsehen das natürlich auch hin; so bekomme ich heute noch Gänsehaut, wenn ich an Martin Sheen denke, der sich in The West Wing regennass zu Brothers in Arms die Fäuste in die Hosentasche steckt, während im Hintergrund das Sternenbanner weht (sieht besser aus als es geschrieben klingt, was genau mein Punkt ist: Manchmal sind Bilder eben doch toller als Text). Oder die letzten fünf Minuten von Six Feet Under. Oder das Ende der ersten Folge von The Shield, wo Michael Chiklis mit seiner Waffe die Gangart der gesamten Serie vorgibt. Oder, ja schon gut, der Heiratsantrag von Monica an Chandler aus Friends. Bilder eben, die mich ohne Vorwarnung erwischen und nicht wieder loslassen.
(„Preacher – Gone to Texas“, Garth Ennis/Steve Dillon, DC Comics 1995, Seite 62)
Und da waren auf einmal die Comics. Voller Bilder, auf die ich nie kommen würde, in dutzend-, ach was, hundertfach verschiedenen Stilen. Dialoge, die aus Sitcoms stammen könnten, aus großen Dramen, aus Daily Soaps, aus Actionfilmen. Und: Ich kann sie lesen, wann immer ich will, und ich kann mich auf ihre Bilder einlassen, wann immer ich will.
Comics vereinen für mich derzeit das beste aus zwei Welten: das geschriebene Wort und überraschende Bilder. Zusammen ergeben diese Zutaten so unterschiedliche Geschichten, wie ich es mir nie hätte erträumen können. In der kurzen Zeit, in der ich mich mit diesem Medium beschäftige, habe ich Biografien gelesen, Superheldenfabeln, knuffige Cartoons, philosophische Abhandlungen, Entwürfe von fremden Welten, Wesen und Zeiten, Lustiges, Trauriges, Spannendes, Abstoßendes, aber immer Unterhaltendes. In meinem Regal steht Batman neben einer japanischen Familiengeschichte, ein Münchener Detektiv neben kurzen Skizzen aus dem wiedervereinten Deutschland, Akira neben Laika.
(„Vertraute Fremde“, Jiro Taniguchi (Claudia Peter, Übers.), Carlsen 2007, Seite 121)
Die Vielfalt der Geschichten ist genauso überwältigend wie die im Kino oder in Büchern, die ohne Bilder auskommen. Und die Erzählweise ist genauso vielfältig: Mal muss man sich die Geschichte in der Bilderflut zusammensuchen, mal wird man schnurgerade ans Ziel geführt. Mal gefallen mir die Zeichnungen besser, mal die Dialoge. Jeder Comic ist anders – und zwar „anders“ anders als Filme sich voneinander unterscheiden oder Bücher. Ein Buch ist immer ein Buch – schwarze Buchstaben auf weißem Papier. Ein Film kann natürlich genauso quietschbunt sein wie ein Comic – und hat dazu noch die Möglichkeit, das gesprochene Wort zu nutzen oder Musik –, aber er gibt mir eben sein Tempo vor. Der Comic nicht. Das fällt auch unter „das beste aus zwei Welten“. Jedenfalls für mich, jetzt gerade.
Je mehr Comics ich lese, desto mehr fällt mir auf, wieviel Mühe es kostet, ein einziges Panel zu gestalten: Was genau sehe ich? Wie groß ist der Ausschnitt, den ich sehe? Wo steht die Sprechblase? Wie ist sie gestaltet? Ist die Schrift Teil des Bildes? Wenn ich mehrere Figuren sehe, wie stehen sie dann zueinander? Ist da vielleicht noch eine zweite Ebene versteckt, die ich erst dechiffrieren muss? Wie ist die Farbgestaltung?
Und dann geht es weiter: Aus einem Panel werden mehrere, die auf eine Seite passen. Müssen es Panel sein? Ist der Rahmen immer rechteckig? Was hat es zu bedeuten, wenn der gerade Rahmen mal nicht gerade ist? Und dann: das letzte Panel auf der Seite, der Moment, bevor ich umblättere, der so simpel für einen Spannungsbogen genutzt werden kann. In vielen Comics ist mir aufgefallen, dass eine neue Seite mich in eine neue Szenerie wirft oder das Vorhergegangene überraschend auflöst. Das Umblättern in Comics ist der manuelle Schnitt, den mir ein Film vorgibt. Und genau das macht dieses Medium für mich gerade so faszinierend: Es fühlt sich so an, als hätte ich die Chance, die Handlung mitzubestimmen. Oder wenigstens die Geschwindigkeit derselben.
(„Hector Umbra“, Uli Oesterle, Carlsen 2009, Seite 26)
Ein Film zieht mich mit, ob ich will oder nicht. Ein Buch kann ich kurz zuklappen oder zurückblättern und nochmal nachlesen. Genau diese Möglichkeit gibt mir der Comic auch. Ich lese gerade die Preacher-Serie, die deutlich blutiger ist als alles, was ich vorher gelesen habe. Anfangs ging mir das ewige Waffenziehen auf die Nerven, und auch auf die teilweise recht deutliche „Wiedergabe“ eines durchschossenen Kopfes hätte ich verzichten können. Im Kino bleibt mir nichts anderes übrig, als schlechtgelaunt unter meine Jacke zu kriechen und zu warten, bis das Blutbad vorbei ist. Im Comic kann ich die Gewalt entzaubern bzw. mich ihr nähern, damit sie mir nicht zu nahe kommt. Ich kann mir die Bilder genauer anschauen, ich kann auf die Bildkomposition achten – ich hab ja alle Zeit der Welt –, ich kann intellektuell Abstand zum Gemetzel bekommen und so die Geschichte würdigen anstatt den Band als blöde Schlachteplatte abzutun.
Genau wie bei anderen Comics, in denen ich nicht der Gewalt wegen innehalte, sondern weil sie mir schöne Momente bescheren: ein besonderer Satz, ein gelungenes Bild. Ich kann mir gestatten, kurz mit dem Lesen aufzuhören, diesem Gefühl nachzuspüren, das der Comic in mir wachruft, es würdigen, mich darüber freuen, was auch immer, bevor ich wieder in die Geschichte tauche. Genau wie in Büchern – aber die haben leider keine Chance, mich visuell zu erwischen, wie es ein Comic eben kann.
(wird bei weiteren Erleuchtungen fortgesetzt)