Shutter Island
© Paramount
Shutter Island (USA 2009, 138 min)
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams, Patricia Clarkson, Emily Mortimer, Max von Sydow, Jackie Earle Haley, Ted Levine, John Carroll Lynch, Elias Koteas
Music Supervisor: Robbie Robertson
Kamera: Robert Richardson
Drehbuch: Laeta Kalogridis nach einem Roman von Dennis Lehane
Regie: Martin Scorsese
Alles beginnt auf einem schwankenden Boot, das sich durch schwere See kämpft. Der graue Himmel scheint direkt auf dem Wasser zu liegen, das Licht ist trübe und düster. An Bord übergibt sich Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) zum wiederholten Male, während draußen sein neuer Kollege Chuck Aule (Mark Ruffalo) stoisch im Wind ihr Ziel fixiert: Shutter Island, eine Insel vor der Küste von Boston, auf der sich eine Anstalt für geistesgestörte Kriminelle befindet. Wir befinden uns im Jahr 1954.
Auch auf der Insel wird der Film nicht freundlicher: Die Mauern der drei Gebäude der Klinik glänzen feucht und dunkel, eiserne Tore schnappen ins Schloss, ein Friedhof erscheint kurz im Bild, selbst der grüne Rasen und die Blumenbeete leuchten nicht farbenfroh, sondern bedrohlich. Regisseur Martin Scorsese schafft in den ersten Minuten von Shutter Island eine sehr unheimliche Atmosphäre, die aber seltsam unfassbar bleibt. Man weiß nicht genau, warum man sich selbst auf dem heimischen Sofa so unwohl fühlt, während der Film läuft, aber die ungewisse, angespannte Stimmung überträgt sich sofort.
Mir hätte die Stimmung noch besser gefallen, wenn nicht jedes Detail mit TOTAL SPANNUNGSERZEUGENDEN STREICHERN in brüllender Lautstärke unterfüttert gewesen wäre, die mir mit dem Holzhammer sagen, LOS, HAB ANGST, DU MEMME, obwohl sich gerade nur Leo eine Zigarette anzündet und den Hut gerade rückt. Aber es hat funktioniert: Die Nerven reagieren schon auf das kurze Knistern des Glühfadens in einer Lampe mit „Huch? Was? Ist da jemand? HALLO?“, während im Film die beiden Marshals zum Klinikchef Cawley (Ben Kingsley) geleitet werden. Er erklärt ihnen in seiner freundlichen Samtstimme, dass eine Patientin verschwunden sei. Ihre Zelle sei verschlossen, ihre Kleidung noch vollständig da, aber sie sei eben weg. Teddy und Chuck (auch so Puschelnamen, die gar nicht zum Ambiente passen wollen) schauen sich die Zelle Rachels an, wo Teddy einen kleinen gefalteten Zettel findet – anscheinend eine Botschaft von Rachel, mit der aber niemand etwas anfangen kann: The law of 4. Who is 67?
In der folgenden Filmstunde interviewen Teddy und Chuck die Pfleger und Schwestern und einige Patienten, und je mehr sie über die Klinik erfahren, desto mehr ahnen sie, dass hier etwas vor sich geht, das verheimlicht werden soll. Eine Patientin kritzelt Teddy das Wort „Run“ in sein Notizbuch, Teddy wird von Migräne und Alpträumen geplagt, ein Sturm kommt auf, die Fähre, die sie auf die Insel gebracht hat, fährt nicht mehr. Die beiden sitzen fest und kommen kein Stück weiter.
Außerdem wird Teddy von Flashbacks geplagt: Seine Frau (Michelle Williams), die bei einem Feuer ums Leben gekommen ist, taucht in seinen Träumen auf, die sich mit Erinnerungen an seine Zeit bei der Armee und der Befreiung von Dachau vermischen. Flammen und Schnee, verkohltes Papier, Leichenberge, Blut, Tränen, Elektrozäune – und über allem die VERDAMMTEN STREICHER.
Shutter Island ist eine Stunde lang ein wunderbarer Film: sehr dicht, fast fühlbar in seine Angespannheit, eine düstere und sehr passende Farbigkeit, eine gute Ausstattung – die Materialien sind so haptisch, dass man sich der Handlung sehr nahe fühlt und vor allem Teddy aus seinen Aplträumen reißen will. Dann ergibt sich der Film aber zusehends seinen eigenen Rätseln. DiCaprio wird im Laufe des Films immer einsamer: Zuerst sehen wir ihn nur im Doppelpack mit Ruffalo, dann gesellen sich viele Ärzte und Schwestern und die auf der Insel stationierten Polizisten dazu, aber je länger Teddy sich auf Shutter Island rumtreibt, desto weniger Menschen begegnen ihm. Stattdessen ist er irgendwann davon überzeugt, dass auf der Insel Experimente stattfinden und außerdem hier der Mann eingesperrt ist, der damals das Appartement angezündet hat, in dem seine Frau starb. Je mehr sich Teddy mit seinen Ahnungen, Verdächtigungen und Ermittlungen befasst, desto einsamer wird er – und desto wirrer wird auch der Film.
Wir rennen durch unzählige Gänge, treffen Menschen, die es eigentlich nicht geben darf, bekommen mehr und mehr Details aufgezählt, von denen wir wissen, dass sie nicht stimmen können, so dass ich ganz persönlich irgendwann gar nicht mehr versucht habe, im Kopf mitzukommen. Irgendwann war ich nur noch genervt davon, dass sich der Film nicht entscheiden kann, wo es hingehen soll – so hat es sich jedenfalls angefühlt. Selbst die wunderschöne Atmosphäre ging mir irgendwann auf den Keks – wahrscheinlich sollte sie das – und ich wollte bloß noch ein Fenster aufmachen und den Kopf ausschütteln.
Aber kurz bevor ich aufgegeben habe, fängt sich Shutter Island wieder und serviert mir die Lösung auf dem Silbertablett. Die ich ziemlich doof fand. Und dann sagt Leonardo seinen letzten Satz in die Kamera, und auf einmal fand ich alles wieder toll. Weil auf einmal sein ganzer Charakter eine Wendung bekommt, die mich persönlich überrascht hat und die dazu auch noch passt.
Shutter Island hat eine wirklich großartige Exposition, einen elend zähen Mittelteil und ein solala-Finale. Wie gesagt, der letzte Satz reißt ne Menge raus, aber auf den muss man leider zweieinhalb Stunden warten, von denen ich mir gerne eine geschenkt hätte. Trotzdem. Alleine für die erste Stunde lohnt sich der Film. Halbgare Empfehlung, ich weiß. Ist aber auch nur ein halbgarer Film.
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Bechdel-Test bestanden?
1. Es müssen mindestens zwei Frauen mitspielen, die
2. miteinander reden
3. und zwar über etwas anderes als Männer.
Es spielen Rachel und Leos Gattin mit, mehrere Schwestern und Patientinnen (keine Ärztin). Von denen redet aber niemand miteinander, sondern nur mit den Kerlen.
Bechdel-Test bestanden? Nein.