Bücher 2010, August
Jonathan Wilson – Inverting the Pyramid: The History of Football Tactics
Ein sehr gelungenes Buch, auch für mich als Einsteiger, was Fußballtaktik angeht. Wilson beschreibt die Unterschiede zwischen den bzw. die Entwicklung der Spielsysteme über die letzten gut 150 Jahre. Angefangen beim 2-3-5 (2 Verteidiger, 3 Mittelfeldspieler, 5 Stürmer), mit dem die „Erfinder“ des Spiels, die englische Mannschaft, jahrelang alles in Grund und Boden gespielt hat. Wohl auch, weil sie noch keine ernstzunehmenden Gegner hatten. Das änderte sich allerdings relativ schnell, denn Fußball eroberte so ziemlich die ganze Welt – und die ganze Welt beschäftigte sich mit der Frage, wie man mit dem Gegner auf dem Feld fertig werden konnte.
Nach und nach änderte sich die Aufstellung der Spieler auf dem Platz; die Wikipedia hat einen sehr kurzen Abriss und – praktisch – viele schöne Diagramme, die es mir ersparen, hier länger auf die Formationen einzugehen. Denn was mir an Inverting the Pyramid noch besser gefallen hat als die reinen Erklärungen zur Spielkultur, waren die Umstände, die diese Veränderungen mit sich gebracht oder sie überhaupt erzeugt haben. Die verschiedenen Mentalitäten der Länder, die Erwartungen von Zuschauern, die Biografien der Trainer – all das hatte Einfluss auf die Systeme und wie sie weltweit (oder auch nicht) angenommen wurden.
Ich habe mich über die Erwähnung der Erben der Tante Jolesch gefreut, in denen Friedrich Torberg über Matthias Sindelar schreibt, einen Stürmer des österreichischen Wunderteams. Ich mochte die Beschreibung des argentinischen Fußballs. Oder des brasilianischen bzw. die Leidenschaft der Zuschauer_innen, die ihrer Mannschaft die völlig unerwartete 1:2-WM-Finalniederlage gegen Uruguay 1950 jahrelang nicht verziehen haben:
“Bigode, Barbosa and Juvenal – probably not by coincidence Brazil’s three black players – were held responsible. In 1963, (goalkeeper) Barbosa, in an effort to exorcise his demons, even invited friends to a barbecue at which he ceremonially burned the Maracanã goalposts, but he could not escape the opprobrium. The story is told of how, twenty years after the final, he was in a shop when a woman pointed at him. ‘Look at him,’ she said to her young son, ‘He’s the man who made all of Brazil cry.’
‘In Brazil,’ he said shortly before his death in 2000, ‘the maximum sentence is thirty years, but I have served fifty.'”
Ich fand die Beschreibungen von catenaccio faszinierend, Totaalvoetbal, die lange Tradition der Trainer, die im Ausland arbeiten (was ich bis dato für eine recht junge Angelegenheit gehalten hatte), ach, ich habe schlicht und ergreifend das ganze Buch sehr fasziniert durchgelesen. Es gibt einen hervorragenden Ãœberblick über so ziemlich alle Mannschaften, die dieses Spiel geprägt haben, bleibt also nicht stur auf der englischen Mannschaft, die eine eher untergeordnete Rolle spielt – die deutsche bekommt übrigens noch weniger Platz. Der Stil ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, weil man sehr viele Fakten auf einmal serviert bekommt, aber wenn man sich durch die ersten 30 Seiten gekämpft hat, kann man Pyramid nicht mehr weglegen. Riesengroße Empfehlung für Fußballinteressierte und solche in the making (wie mich); leider gibt’s das Buch meines Wissens nicht auf Deutsch.
(Leseprobe bei amazon.co.uk)
(eBook) Barbara Demick – Nothing to envy: Real Lives in North Korea
Die Asienkorrespondentin der Los Angeles Times, Barbara Demick, beschreibt in Nothing to envy das Leben in Nordkorea. So gut das eben geht, wenn man nicht mit Menschen sprechen kann, die noch dort leben. So stützt sich ihr Buch auf die Erfahrungsberichte Geflüchteter, die logischerweise eher weniger gut auf das Regime zu sprechen sind.
Demick verfolgt die Lebensläufe von verschiedenen Personen über die Jahre, meist von Geburt an, bis hin zu ihrer Flucht nach China oder Südkorea, wo sie sie getroffen hat. So ist das Buch streng genommen kein objektiver Lagebericht, sondern arbeitet schon fast literarisch, was es aber sehr lesbar macht. Die einzelnen Schicksale ergeben ein recht gutes Bild vom täglichen Leben in Nordkorea, aber sie erzählen eben „nur“ von Menschen, die sich irgendwann von der Propaganda nicht mehr haben blenden lassen. Das klingt vielleicht etwas blöd, aber so richtig viel Neues habe ich nicht aus dem Buch erfahren. Trotzdem habe ich es gern gelesen, weil ich mich gerne an anderer Leute Leben langhangele.
(eBook) Jonathan Safran Foer – Eating Animals
Zunächst wollte ich das Buch nicht lesen, weil es mich schlicht nicht interessiert hat. Ich habe gedacht, so ungefähr zu wissen, was Massentierhaltung bedeutet und dass ich mir das nicht nochmal durchlesen muss. Durch das Foodcoaching und dem bewussteren Umgang mit Lebensmitteln hat es mich aber doch in den Fingern gejuckt, und als mit der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung jeden Tag zehn Artikel und Interviews mit Autor Foer in meinem Twitterstream auftauchten, dachte ich mir, jetzt lies es schon, dann haste das hinter dir.
Hab ich leider nicht. Denn ehrlich gesagt war mir das Ausmaß von Massentierhaltung nicht bewusst: 99 unfassbare Prozent von all dem Fleisch, das in Amerika auf den Tellern landet, stammt aus Massentierhaltung, und in der EU sieht es nicht viel besser aus. Mein naives Bild im Hinterkopf von den puscheligen Biokühen, die in Ruhe 20 Jahre alt werden, bevor sie ein Biobauer liebevoll und schmerzlos … äh … hm …sie genauso um die Ecke bringt wie der Massen„farmer“, damit ich sie essen kann, ist leider nicht mehr zu halten. Auch der wunderbare Ausdruck „Zuchtfische“ ist ein blöder Euphemismus: Die Tiere sind genauso zusammengepfercht wie ihre Artgenossen mit Federn oder Fell, bekommen ebenso von ihrem ersten Lebenstag bis zum letzten Antibiotika und jede Menge Dreck zu fressen, und leiden vor allem genau wie anscheinend jedes Tier, das der Mensch irgendwann mal essen will. Besser gesagt, lieber heute als morgen, weswegen kein Tier mehr wirklich alt wird.
Ich will jetzt gar nicht auf die unzähligen Details eingehen, die mich, ehrlich gesagt, manchmal um eine ruhige Nacht gebracht haben; schon Calvin wusste, dass ignorance bliss ist. Aber trotz des ekligen Inhalts möchte ich euch das Buch ans Herz legen, denn was mir wirklich gut gefallen hat, war die Art, wie Foer mit dem Fleischverzehr umgeht. Er beginnt mit der sehr persönlichen Auseinandersetzung – wie soll ich meinem Sohn klarmachen, dass wir Kühe töten, aber Hunde nicht? – und kommt so von der kleinen Frage zur riesigen Industrie. Denn nicht anderes sind Nutztiere heute leider: eine Industrie. Genau wie uns die Nahrungsmittelkonzerne Zeug aus 19 Zutaten, davon 7 mit einem E davor, verkaufen und es „Brot“ nennen, sind für die Massentierhalter Tiere eben nur Material, das irgendwie in Steakform zu kriegen sein muss. Foer rechnet aber nicht mit der Industrie ab, sondern bemüht sich um eine ausgewogene Darstellung; er lässt auch die Gegenseite zu Wort kommen, die natürlich das Argument bemüht: Ohne billiges Fleisch würden wir alle verhungern. Was Blödsinn ist, denn um ein Pfund Fleisch zu erzeugen, braucht man bis zu 16 Pfund an Getreide. Wieviele Menschen man von dieser Menge sattkriegen würde, darüber sagen die Massentierhalter nichts.
Ich mochte den Schreibstil von Foer gerne, dem man anmerkt, dass er literarischer Autor ist und kein Sachbuchschreiber: Das Buch hat Spannungsbögen, ohne die Information zu kurz kommen zu lassen, und der persönliche Bezug hat mich als Leserin ständig an die Hand genommen, bevor ich mein Hirn ausmachen konnte, weil ich nicht noch mehr darüber lesen wollte, wie sehr die Tiere ihr Leben lang leiden.
Bisherige Folgen: Ich gucke noch genauer, wann ich Fleisch esse. Beim Selberkochen ist es kaum noch da, und Aufschnitt habe ich gegen Nutella getauscht (eines dieser Lebensmittel mit den 19 Zutaten und dem LECKER). Auf Fisch zu verzichten, wird mir schwerer fallen, weil ich mich an den gerade erst rangegessen habe und ich gerne noch ein paar Varianten kennengelernt hätte. Mal sehen. Ich habe allerdings auch gemerkt: Wenn ich nicht aufpasse, liegt zack! wieder Fleisch auf dem Teller. Ich bin gerade nicht im Heimatstädchen gebucht und wohne im Hotel, d.h. ich kann nicht selber kochen. Und als ich mittags mit einer Kollegin essen war und im Gespräch vertieft bestellt habe, ist mir wirklich erst aufgefallen, was ich da bestellt habe, als ich das Clubsandwich mit Pute und Ei vor mir liegen hatte. Ohne Widerstand in den alten Zustand des Ignorierens zurückgefallen. Schönwettervegetarismus. Meh. Besser als nix.
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David Mack – Kabuki Vol. 1: Circle of Blood
Großartig, genau wie Kabuki 5, das ich lustigerweise vor der ersten Folge gelesen habe. Sieht ganz anders aus, ist viel mehr ein traditioneller Comic mit Panels und einer deutlicher zusammenhängenden Story als Kabuki 5, das mir immer mehr wie eine Meditation auf Papier vorkommt. Die Geschichte von Kabuki entfaltet sich über viele Kapitel, in denen wir ihre Mutter kennenlernen, die während des 2. Weltkriegs entführt wurde und als sogenannte comfort woman dienen musste. Wir lernen den General kennen, der die seiner Truppe zugeteilten Frauen Theaterstücke aufführen lässt – Kabuki eben –, und wir erfahren, wie die Figuren zusammenhängen. Das Ganze in einer sehr reizvollen Optik, die japanische mit eher westlich aussehenden Zeichnungen verbindet, die teilweise sehr filmisch funktionieren und die nebenbei eine äußerst blutige Geschichte erzählen. Der Titel arbeitet auf vielen Ebenen gleichzeitig: Die japanische Fahne könnte als Blutkreis gedeutet werden, die runde Sichel, Kabukis Waffe, die sich mit dem Blut ihrer Feinde färbt, aber auch der Kreislauf des Lebens, der sie mit ihrer Mutter verbindet, ist mit Blut geschrieben. Noch eine Empfehlung.
(Leseprobe bei amazon.de)