DieUnigehtweiter, dieUnigehtweiter, OMGDIEUNIGEHTWEITER!

Nachdem ich in den Sommerferien längst nicht so viele schlaue Texte gelesen hatte wie ich mir vorgenommen hatte und auch mein Tagesablauf immer mehr zum Couchsurfing in der eigenen Wohnung wurde, habe ich mich sehr darüber gefreut, mit dem Semesteranfang wieder einen geregelten Tagesablauf aufgedrückt zu kriegen. Und schlaue Texte. Die erste Woche fiel allerdings aus bzw. ich lag flach (ich jammerte darüber), weswegen ich am Montag ein bisschen das Gefühl hatte, ins kalte Wasser zu springen. Kein gemütliches Akklimatisieren, kein Ãœberblick über das ganze Semester, worum geht’s in dieser Veranstaltung, was muss man machen, um die ECTS-Punkte einzusacken, welches Referat hätten’S denn gern – das habe ich in diesem Semester alles nicht mitgekriegt, sondern fing gleich mit Action an. Aber hallo!

Mein erstes Seminar in Kunstgeschichte trägt den schönen Titel „Provenienzforschung. Einführung, Überblick, Perspektiven“ und befasst sich hauptsächlich mit Raubkunst zurzeit des Nationalsozialismus. Wobei: „Raubkunst“ sagen wir nicht gerne, wie ich gelernt habe. Stattdessen nutzen wir das Ungetüm „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut“, denn es geht nicht nur um Kunstwerke im klassischen Sinn, sondern auch um Gegenstände zur Ausübung der jüdischen Religion (so fanden die Alliierten in den Sammelstellen der Nazis zum Beispiel Tora-Rollen en masse), Möbel, Porzellan usw. In meiner gutgläubigen Naivität dachte ich, das meiste, was nach Kriegsende aufgefunden wurde, wäre wieder dort, wo es hingehört, aber das ist natürlich Quatsch. Sie können sich ja mal den Wikipedia-Eintrag zu Egon Schieles Wally durchlesen, da bekommt man einen kleinen Eindruck davon, was heute in Museen hängt, das vielleicht eher bei einer Privatperson über dem Sofa hängen sollte. Die Affäre um Wally sorgte 1998 (!) immerhin für die Entstehung der sogenannten Washington Principles, die besagen, dass „gerechte und faire“ Lösungen gefunden werden sollten, um das jahrzehntelange Unrecht wiedergutzumachen. Die Bundesregierung veröffentlichte 1999 eine Handreichung, die Museen und Institutionen eine kleine Anleitung gibt, wie sie in ihren Beständen forschen könnten, um eventuell geraubte Güter zu identifizieren, die sich da in den Jahrzehnten nach dem Krieg eingeschlichen haben könnten. Zusätzlich wurde eine Koordinierungsstelle eingerichtet, in der alle Bemühungen zusammenlaufen; auf der Website LostArt kann man sich weiter schlau machen.

Mich haben die Zahlen etwas erschreckt; es ist kaum festzustellen, wieviele Gegenstände überhaupt geraubt wurden, teilweise wurden ganze Bibliotheken und Sammlungen gestohlen oder abgepresst. Die Alliierten gehen von 600.000 Stücken aus, während die russischen, sogenannten Trophäenbrigaden von 2 Millionen sprechen. Direkt nach Kriegsende schafften die Amerikaner das meiste Raubgut aus den bayerischen Stollen, Bergwerken und Sammelstellen der Nazis nach München, um es im Central Collecting Point (dem heutigen Zentralinstitut für Kunstgeschichte) zu sortieren und wenn möglich zurückzugeben. Laut ihren Unterlagen haben sie 250.000 Stücke restituieren können – der Rest wanderte treuhändisch in den Besitz der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des ‘Dritten Reiches’, von wo es auf einzelne Museen verteilt und inventarisiert wurde.

Die Fristen für die Antragsteller auf ihnen oder ihren Verwandten geraubte Kunst waren teilweise viel zu kurz, um sie wahrnehmen zu können: Die erste verstrich, wenn ich mich richtig erinnere, bereits 1949, die zweite 1969. Viele Familien waren emigriert und wussten teilweise nicht einmal, dass sie Ansprüche hätten geltend machen können; andere wurden völlig vernichtet. Nur so kann ich mir eine Story wie die von Wally erklären.

Im Seminar werden wir uns in Münchner Archive begeben und dort selbst den Kulturgütern nachforschen, was sich für mich irrwitzig spannend anhört. Es ist auch eine ganz andere Herangehensweise an die Kunstgeschichte; bisher habe ich mich nur mit Theorien über Bilder und Skulpturen befasst, habe Künstler- und Künsterinnenbiografien kennengelernt, Epochen, Stile, wichtige Daten und Fakten. Aber das hier ist anders: Auf einmal ist Geschichte nicht mehr irgendwas, mit dem ich mich entspannt aus der Distanz in einer Bibliothek befasse. Stattdessen ist sie etwas, das noch nicht allzulange her ist und uns heute noch beschäftigt. Und ich darf dabei mitmachen.

Am Dienstag klingelte der Wecker bereits um 6 Uhr morgens, denn um 8 wartete die Vorlesung „Einführung ins Mittelalter“ auf mich. Und da ich gerne entspannt in den Tag starte, stehe ich in diesem Semester freiwillig zweimal die Woche so früh auf. Im Dunkeln. (Hass.) Lohnt sich aber, denn um 8 ist die Uni noch wohltuend leer, wie ich feststellen durfte. Alles ist deutlich unhektischer, und so saß ich gut gelaunt in einem kleinen Hörsaal und ließ in 90 Minuten die Karolinger an mir vorbeiziehen. Mir ist ein bisschen schlecht bei dem Gedanken, in der Klausur nach einzelnen Herrschern gefragt zu werden (immer Pippin, Ludwig oder Karl schreiben, wird schon passen) und ich weiß noch nicht, wie ich Stammbäume auswendig lernen soll, aber darüber mache ich mir im Januar Gedanken.

LMU_reader

Danach hatte ich zwei Stunden frei, die ich nutzen wollte, um zwei Reader zu kopieren. In zwei Seminaren wartet ein Berg von Texten auf mich, die laut Dozentinnenmail in den Copyshops bereitlägen. Ich verstand das so, dass da der Handapparat steht und ich viel Geld in einen Kopierer schmeißen müsste, um die Texte zu vervielfältigen. Weit gefehlt: In den Copyshops lagen fein gebunden zwei dicke Blattsammlungen, die ich einfach so mitnehmen konnte. Toll. Da blieb sogar noch Zeit, nach Hause zu fahren, denn ich wohne ja bekanntlich nur zehn Minuten vom Hauptgebäude der LMU weg. Augen auf bei der Standortwahl!

Anderthalb Stunden später zerrte ich mein Fahrrad aus dem Keller. Morgens hatte ich mich lieber in den Bus gesetzt, denn so ganz fit bin ich noch nicht. Das schöne Provenienz-Seminar litt jedenfalls sehr darunter, dass ich gefühlt alle 20 Minuten auf den Flur hastete, um dort fünf Minuten am Stück rumzuhusten. Mein Kreislauf ist auch noch etwas memmig, und daher wagte ich erst nachmittags den Griff zum Rad, denn zwischen 13.45 und 14.15 Uhr muss ich vom Hauptgebäude zum kunsthistorischen Seminar, und das liegt etwas weiter weg von der Bushaltestelle. Allein der Weg vom Hörsaal zum Bus dauert zehn Minuten (große Uni ist groß), und eigentlich schafft man den Weg nur in einer halben Stunde, wenn der Bus genau dann kommt, wenn man selbst an die Haltestelle hastet. Mit dem Fahrrad dagegen schaffe ich sogar noch eine Pinkelpause. Also: Fahrrad. Wird schon schiefgehen.

Ging’s auch. Bis auf die Tatsache, dass mein treues Ross anscheinend löcherige Reifen hat; ich habe gepumpt, bis meine Arme abfielen und trotzdem hatte ich das Gefühl, direkt auf den Felgen zu fahren. Meh. Das hat meine Laune aber nicht großartig beeinträchtigt – es war SO. SCHÖN!, wieder auf dem Fahrrad zu sitzen und meine Lieblingsstrecke zur Uni zu radeln.

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Der zweite Termin des Tages war die Vorlesung (Achtung, langer Titel) „Diskurse, Paradigmenwechsel und Kanonbildung: Ausstellungen im westlichen Europa nach 1960“. Heißt: Die Dozentin erzählt uns was zur documenta, zu Fluxus, zur Biennale oder, hatte ich peinlicherweise noch nie gehört, zu Family of Man. Wir hörten etwas zum Ziel der Ausstellung, zum Aufbau, zum Kurator, zur Rezeption und natürlich Kritik an der Ausstellung. Dabei schaffte die Dozentin immer Verknüpfungen zu anderen Ausstellungen, Persönlichkeiten oder geschichtlichen Ereignissen und ordnete die Ausstellung damit sehr nachvollziehbar in ihre Zeit ein. Außerdem pickte sie einige Kunstwerke aus der Masse heraus, die auch über die Ausstellung hinaus eine Bedeutung hätten. So sprachen wir (natürlich) über Dorothea Langes Migrant Mother und, für mich etwas unerwartet in einer amerikanischen Ausstellung von 1955, August Sanders Jungbauern von 1914.

Ich hatte mich im Vorfeld für diese Vorlesung entschieden, weil mich verschiedene Ausstellungskonzepte interessieren. Ich glaube, das war ein Volltreffer.

Der letzte Kurs des Tages war ein Lektürekurs, in dem wir Klassiker der Kunstgeschichte lesen und erörtern. Den Anfang machte ein Text von Vasari (war ja klar, von wem auch sonst, Godfather of Art History halt) und danach kam lustigerweise ein Text, den ich schon kannte: Caravaggio’s Deaths von Philip Sohm. Den hatte uns im letzten Semester mal eine Dozentin spaßeshalber hochgeladen („Können Sie ja mal reingucken“), was ich natürlich gemacht habe. Praktisch, dieses Strebertum. Auch das wird, glaube ich, ein toller Kurs, denn wie ich schon im Sommersemester überrascht feststellen durfte, macht es mir sehr viel Spaß, mich mit dem theoretischen Ãœberbau des Fachs zu befassen.

Jetzt müsste nur noch der Husten endlich weggehen.