Clouds of Sils Maria
Clouds of Sils Maria (D/F/SUI 2014, 123 min.)
DarstellerInnen: Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Lars Eidinger, Angela Winkler, Hanns Zischler
Kamera: Yorick Le Saux
Drehbuch und Regie: Olivier Assayas
In Clouds of Sils Maria spielt Juliette Binoche eine Schauspielerin, die ihre Karriere einer Rolle verdankt, die sie als 18-Jährige am Theater spielte – sie definierte die Rolle einer jungen Frau, die sich die Zuneigung einer älteren Frau zunutze macht. Ein Regisseur will dieses Stück jetzt erneut aufführen und bietet Binoche dieses Mal die Rolle der älteren Frau an. Sie überlegt, diskutiert mit ihrer jungen Assistentin (Kristen Stewart), sagt erst ab, dann zu, probt mit Stewart im Haus des Theaterautoren, mit dem sie befreundet war, der aber direkt zu Filmbeginn verstirbt, probt weiter, wandert durch die Schweizer Alpen, zweifelt, raucht, trinkt, und probt einfach weiter.
Klingt erstmal alles sehr unaufregend und hat mich doch zutiefst beeindruckt und begeistert. Das Stück im Stück ist natürlich eine prima Dialogvorlage – alles, was die junge Frau zu älteren im Stück sagt, sagt hier die Assistentin, die durchaus als Vertraute und Fast-Freundin präsentiert wird, zu Binoche, bei der nie ganz klar wird, welches Verhältnis sie gerne zur jüngeren Begleitung hätte. Umgekehrt gilt das auch, und das ist ein Grund, warum ich den Film so mochte. Es wird viel angedeutet, wortlos gezeigt, stehengelassen, es gibt keine Erklärbärsätze, kein Runterdummen des Stoffes. Man hört vielen schlauen Sätzen zu, die kaum jemand wirklich von sich geben würde, aber genau das verstärkt diese seltsam entrückte Stimmung, die in Sils Maria herrscht. Ich twitterte direkt nach dem Kino, dass mir der Film „wie ein kleines, aus der Zeit gefallenes Juwel“ vorgekommen ist.
Sils Maria verwebt viele Themen: Oberflächlich mag es um das Älterwerden gehen und der Auseinandersetzung, wer man mal war und wer man jetzt ist. Das wird auch bei den Proben angesprochen, als Binoche mit ihren Zeilen hadert – liest man einen Text anders, wenn man älter wird, wenn man sich ändert? Liest man Texte in der Rückschau anders? Ich musste an Bücher oder Lieder denken, die einem mit 20 wichtig waren und mit 40 plötzlich egal sind und umgekehrt: Dinge, die ich mit 20 belanglos fand, haben auf einmal eine Wichtigkeit oder einen Platz in meinem Leben, den sie damals nicht hatten. Was ich sehr spannend fand: wie sehr sich Binoches Figur an ihren alten Charakter klammert – so als ob ihr klar wird, dass sie diese Rolle und damit ihre Jugend (und ihre Karriere? die Macht der Jugend und dieser Karriere?) unwiderruflich verlieren wird. Auch darüber sprechen Binoche und Stewart: Die Erfahrung des Alters versus die Energie und Leidenschaft – und vielleicht Rücksichtlosigkeit und Kompromisslosigkeit – der Jugend. Der Film wirft einem ständig Stichworte hin und man kommt kaum hinterher damit, sie an der eigenen Biografie zu überprüfen.
Jedenfalls habe ich das gemacht. Vielleicht auch, weil ich hier zwei weibliche Figuren vor mit hatte, mit denen ich mich ganz simpel besser identifizieren kann als mit männlichen (obwohl das ständig von mir im Kino erwartet wird). Auch über das Thema Weiblichkeit kann man bei dem Film lang und breit nachdenken. Was mir aufgefallen ist: wie selten die beiden der Klischeeweiblichkeit entsprechen, die ich in 30 Jahren Konsum hauptsächlich amerikanischer Filme, Massenmedien und seit ein paar Jahren dem Internet verinnerlicht habe. Stewart trägt Jeans und Bandshirts, ihre Tattoos sind sichtbar, ihre Haare gerne strähnig und ungekämmt. Sie trägt derbe Schuhe, raucht und flucht und ist fast den ganzen Film damit beschäftigt, zu arbeiten. Sie organisiert Termine, regelt den Tag ihres Bosses, spielt Chauffeuse, Probenpartnerin, Freundin. Man erfährt sehr wenig Privates über sie – bis auf kleine Details. In einer Szene an einem Bergsee, an den die beiden Frauen nach einer Wanderung gelangen, ziehen sie sich aus und baden, wobei Stewart ihre Unterwäsche anbehält. Sie trägt einen schlichten, schwarzen BH und einen fast Boxershorts-artigen weißen Baumwollschlüpfer, über den ich ewig nachgedacht habe, weil er so gar nicht der Unterwäsche entsprach, die ich inzwischen an einem normschönen, jungen Körper erwarte.
Die zweite Szene: Stewart nimmt sich ein paar Stunden frei und trifft sich mit einem Fotografen, dem sie etwas nähergekommen ist – auch hier nur Andeutungen, kurze Momente des Zusammenstehens neben der Arbeit. Wir sehen, wie sie sich ins Auto setzt und losfährt, um ein paar Stunden später wieder in das Berghaus zurückzukehren, in dem Binoche und sie für das Stück leben und arbeiten. Sie ist müde, entkleidet sich nur halb, wie wir aus Binoches Perspektive sehen, die nach ihr schaut, wirft sich aufs Bett und trägt dabei einen schwarzen String. Ich habe keine Ahnung, ob das eine zufällige Klamottenwahl des Kostümdepartments war, aber dafür waren mir beide Kleidungsstücke zu sehr sichtbar, und sie haben mir nebenbei gesagt, dass Stewart im Job die Kleidung trägt, die halt grad praktisch ist und in ihrem Leben neben der Arbeit anscheinend andere Dinge wichtig sind. Über die erfahren wir aber nichts, sie werden nur in dieser Autofahrt, einem nicht sichtbaren Treffen und einem kleinen Stück Stoff angedeutet.
Auch über Binoches Kleidung habe ich nachgedacht. Der Film beginnt mit einer Ehrung für den gestorbenen Dichter; Binoche hält eine Rede und wird dafür von Chanel eingekleidet. Es ist das einzige Mal im Film, dass wir sie in typisch weiblich konnotierter Kleidung sehen: lange Abendrobe mit tiefem Ausschnitt, hohe Absätze und ihre Haare sind schulterlang. Ich habe das an ihr, genau wie die Bandshirts an Stewart, als Arbeitskleidung gesehen. Sie repräsentiert eine gefeierte Schauspielerin und so sehen gefeierte Schauspielerinnen halt aus. Wie anders lässt es sich erklären, dass es bergeweise Websites gibt, die Fotos von ungeschminkten Schauspielerinnen in Jeans und Crocs veröffentlichen und damit anscheinend gut Kohle machen? Weil es ein Anblick ist, der anscheinend etwas besonderes ist (oder von diesen Quatschsites zu einem besonderen Anblick hochgejazzt wird).
Sobald die Probenarbeit beginnt, trägt Binoche ihre Haare kurz – ich musste an die übel beleumdeten, sogenannten praktischen Kurzhaarfrisuren für Frauen über 40 denken –, dazu entweder Jeans oder bei offiziellen Anlässen wie dem Treffen mit ihrer jungen Kollegin, die ihre alte Rolle übernimmt, eine Art geschlechtsloses Outfit aus Blazer und Bluse, das genauso gut ein Jackett und ein Hemd sein könnte. Ihr jüngeres Ich hingegen trägt ein Kleid und lange Haare, und auch ihre Figur hat eine Botschaft. Chloë Grace Moretz spielt eine junge Frau, die von TMZ gejagt und abfotografiert wird, in Interviews eher uninformierten Quatsch von sich gibt und bis jetzt nur in Superheldenfilmen mitgespielt hat: das Klischee-It-Girl, hübsch und dumm.
Aber auch sie hat eine andere Seite, die wir, wie die von Stewart, nur angedeutet bekommen, hier ein Satz, dort ein kaltes Lächeln. Die einzige Frau, die sich im Film vor uns entblößt und schutzlos macht wie ihre Figur im Theaterstück, ist Binoche. Ich mochte den Kontrast, den der Film zunächst aufbaut, indem er Alter mit Erfahrung und Sicherheit gleichsetzt und genau diese Prämisse dann Stück für Stück demontiert, indem die beiden jüngeren Frauen viel besser wissen, was sie können und wollen, während die ältere immer noch sucht und stolpert.
Moretz’ Figur hat aber noch eine weitere Funktion: Sie ist die Verbindung zwischen Kunst und Alltag, der, Zitat, „eigenen Subjektivität“ des Theaters, das auf eine Außenwelt trifft, die keine Zeit mehr haben will für Kunst und Reflektionen, wenn Klicks und Hektik mehr Umsatz machen. Und sie ist eine Figur, an der die Medien mehr Interesse haben als an dem Stück, in dem sie auftritt. Hier löst sich der Film gefühlt kurz von seiner Zeit- und Ortlosigkeit, denn natürlich musste ich an Stewart und ihre Twilight-Zeit denken, in der jede ihrer Privatangelegenheiten im Netz und in den Klatschspalten begleitet wurden und jeder andere Film, den sie zu der Zeit machte, völlig unterging. Der Film lässt den Regisseur des Theaterstücks sagen, dass er nicht glaube, dass diese Außenwelt dem Stück irgendwie zu nahe kommen könnte bzw. diese zwei Welten sich vermischen, aber ich ahne, dass das ein Satz ist, der wunschgedacht ist.
Ich habe den Film trotzdem – oder gerade wegen dieses Dialogs – als eine sehr bewusste Pause vom Alltag empfunden, von der Realität, die draußen vor dem Kino rumstresst, vor den Anforderungen, die täglich in mich gesetzt werden bzw. die ich mir selber setze. Hier durfte ich einfach zuschauen, zuhören, mitfühlen und vor allem mitdenken. Der Film lief beim Filmfest München, ist dort heute und morgen noch mal zu sehen und startet regulär am 18. Dezember in den deutschen Kinos, und ich bitte euch jetzt schon mal, den Termin im Kalender einzutragen. Meiner Meinung nach lohnt sich Sils Maria sehr. (Und guckt euch nicht den Trailer an, der verzerrt den Film völlig.)
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Bechdel-Test bestanden?
Mit Bravour.
Mein Lieblingsgenöle nach so gut wie jedem Film ist der Satz: „Die und die Rolle hätten auch von einer Frau gespielt werden können, hätte keinen Unterschied gemacht.“ Bei diesem Film habe ich mich gefragt, ob die drei großen Frauenrollen auch von Männern hätten gespielt werden können. Ich denke ja, aber das wäre dann ein ganz anderer Film geworden. Es hätten auch drei Männer sein müssen, gemischtgeschlechtlich funktioniert der Film nicht, glaube ich. Aber, auch auf die Gefahr hin, jetzt selbst in die Klischeefalle zu stolpern, was der Film so wunderbar vermeidet: Ich glaube, Älterwerden ist für Männer kein so großes Thema wie es vielleicht für einige Frauen ist. Die biologische Komponente hockt uns mehr im Nacken als euch – jedenfalls den Frauen, die sich fortpflanzen möchten. Und dass grauhaarige Frauen mit Falten genauso sexy gefunden werden wie Männer, sehe ich leider auch nicht.