Was nicht nur schön, sondern wundervoll war, Freitag, 6. Oktober 2017 – Tantris

Am Anfang des Studiums erstellte der ehemalige Mitbewohner für mich eine Liste, was ich gefälligst alles in München anzusehen oder mitzumachen hatte. Darauf stand natürlich auch das Tantris, das mir auch im hohen Norden ein Begriff war. Wer zu faul ist, den kurzen Wikipedia-Artikel durchzulesen: Das Tantris unter Eckart Witzigmann begründete 1971 die Gourmetküche in Deutschland, war (soweit ich weiß) das erste Sternerestaurant Deutschlands und hält seit über 20 Jahren ständig zwei Michelin-Sterne (es waren zwischenzeitig mal drei). Es hat mit über 35.000 Flaschen einen der größten Weinkeller in deutschen Restaurants, und von 1991 bis 2011 war Paula Bosch Chef-Sommelière, die erste Frau in Deutschland, die einen derartigen Posten innehatte. Die rot-orange-schwarze Einrichtung sieht heute noch fast genauso aus wie 1971, sie wurde 2002 behutsam erneuert und steht inzwischen unter Denkmalschutz.

(Wer mehr Hintergrundgeschichten lesen möchte, kann das im SZ-Magazin tun sowie hier die Chronologie nachlesen.)

Als ich das Studium begann, überlegte ich mir als Abschluss einen Besuch im Tantris. Das hatte ich immer im Hinterkopf, auch als aus dem Bachelor ein Master wurde. Es war nicht so, dass ich fünf Jahre lang auf diesen Tag hingefiebert hatte, aber als die Masternote online war, wollte ich endlich einen Tisch buchen. Statt des ehemaligen Mitbewohners saß gestern F. mit am Tisch und ich war anfangs völlig überfordert.


(Das Logo auf der Menükarte, die wir uns mitgeben ließen.)

Wenn man sich etwas fünf Jahre lang vornimmt und dann ist der Tag plötzlich da, fühlt sich das alles etwas irreal an. Natürlich kannte ich das Gebäude und die Inneneinrichtung von diversen Bildern und freute mich auf beides fast genauso wie auf das Essen. Natürlich wusste ich um den irrwitzig gut bestückten Weinkeller und freute mich ebenso. Und ich ahnte, dass der Service wie in allen guten Häusern überaus zuvorkommend war, aber als jemand, der gerne seine Jacke zuhause über einen Stuhl schmeißt und entspannt mit dem Teller auf dem Bauch auf dem Sofa isst, sorgt genau dieser Service erstmal für Stress. Ich bin es nicht gewohnt, dass mir jemand aus der Jacke hilft und mir den Stuhl zurechtschiebt, ich will dann bloß nicht auffallen und dumme Fehler machen – falls man dabei einen Fehler machen kann, sich seine Jacke ausziehen zu lassen. Ich war die ersten fünf Minuten jedenfalls völlig überwältigt, auch von den Farben im Innenraum. Es ist schon ein Unterschied zu wissen, dass jetzt die 70er-Jahre-Keule wartet oder dann wirklich fünf Stunden lang auf eine mit orangefarbenem Teppich bezogene Wand zu starren. Ich hatte mich – überfordert – blöderweise auf den Stuhl gesetzt, der zur Wand und zur Fensterfront ging und nicht in den, von dem aus ich in den Laden hätte gucken können. Ich wollte mich dann aber auch nicht umsetzen, obwohl F. es mir ungefähr 80mal anbot; ich wollte einfach nur dasitzen und überfordert-glücklich gucken und essen und trinken.

Und deswegen gibt es auch keine Fotos vom Essen. Mir war eigentlich schon seit Tagen klar, dass ich nicht im Tantris mit dem iPhone rumwedeln und den Teller dreimal drehen wollte, bis das Licht vernünftig ist. Ich wollte nicht den ganzen Abend einen Blogeintrag im Kopf haben und mir innerlich Notizen zu den Weinen machen müssen. Ich wollte einfach nur dasitzen und überfordert-glücklich gucken und essen und trinken. Und OMG habe ich das gemacht.

Als Gruß aus der Küche gab es, wenn ich mich richtig erinnere, ein kleines Stück Zander in einer knusprigen Panade auf kühlem Gemüse. Und schon damit war klar, dass dieser Abend kulinarisch unvergesslich werden würde. Es waren keine irrwitzig überraschenden Geschmäcker, es gab kein modernistisch angerichtetes Eventfood, auf keinem Teller fanden sich effektvolle Saucenkleckse oder molekulare Experimente. Das nehme ich sonst gerne alles mit, aber im Tantris herrscht eine klassische Küche vor – in einer Perfektion, die für mich neu war. In diesem Fall war es die Panade, die so knusprig war wie nichts, was ich jemals gegessen hatte, mit einem winzigen, stimmigen Kontrast aus Heiß und Kalt. So simpel, so großartig. Das war jedenfalls mein Fazit, als wir nach fünf Stunden und acht Gängen wieder gingen: Ich hatte noch nie so stimmig, so irreführend schlicht, denn das war es natürlich nicht, so klar, so perfekt gegessen.

Der erste Gang bestand aus pochierter Entenleberterrine mit Räucheraal, grünem Apfel, rosa Entenbrust und roter Bete. Ich war darauf vorbereitet, dass der Räucheraal alles erschlagen würde, die roten Bete mit ihrer Erdigkeit dagegen anmaulen würden, vielleicht gäbe es ein paar frische Spitzen vom Apfel, und alles zusammen war vermutlich irre kräftig. War es nicht; alles fügte sich harmonisch zusammen, die Entenleber zerschmolz auf der Zunge, der Räucheraal war deutlich zu schmecken, nahm sich aber sofort wieder zurück, um nicht aufdringlich zu werden, die Bete waren frisch statt erdig, und wenn es Spitzen gab, dann waren sie so fein dosiert, dass ich sie nicht als solche wahrnahm.

Zum zweiten Gang – ausgelöster Hummer mit Butternusskürbispüree und Sternaniscreme – wurde uns von einem der drei Sommeliers ein Wein serviert, über den F. und ich seitdem nicht aufhören können zu reden. Überhaupt sprachen wir eigentlich, seit wir aus der Tantris-Tür gingen, über nichts anderes mehr als das Tantris, das Essen, den Wein, den Service, das Ambiente. Aber dieser Wein! Der 2011er Hermitage blanc von Jean-Louis Chave war der teuerste Wein des Abends; für ein Glas 0,1 l zahlten wir 55 Euro, und damit höre ich auch auf, von Geld zu reden. Ja, das war mit Abstand das teuerste Essen, das ich jemals hatte, aber wie gesagt: Es war auch mit Abstand das beste, das ich jemals hatte.

Ich kann den Wein nicht mal beschreiben, weil er nach nichts schmeckte, das ich kannte. Normalerweise definiert sich ein Weißwein über Zucker oder Säure, so weit ich weiß, aber der hier hatte gefühlt nichts von beidem. Er war einfach da, souverän und ausdrucksstark, und er wurde immer klarer, je länger er im Glas war. Er war ein Cuvée aus Marsanne- und Rousanne-Trauben, die ich beide nicht kannte. Ich roch keine Frucht, ich schmeckte auch keine, jedenfalls keine, die ich hätte definieren können. Dieser Wein war so weit außerhalb meines bisherigen Geschmackshorizonts, dass ich nur stumm und ehrfürchtig ein ums andere Mal am Glas nippte und immer kleinere Schlucke nahm, damit er möglichst lange im Glas blieb. Irgendwann musste ich dann aber doch Abschied von ihm nehmen.

Der Sommelier, der uns danach einen weißen Rioja kredenzte, meinte dann auch fast entschuldigend, dass es jeder Wein schwer habe, auf diesen zu folgen. Der Rioja schlug sich aber sehr ordentlich. Und er passte natürlich hervorragend zur konfierten Seezunge mit Bohnen, Ricottaravioli und Oliven-Sardellensud. Auch hier wieder: Oliven! Sardellen! Unglaublich intensive Geschmäcker, aber sie waren nicht die Hauptdarsteller, im Gegenteil, sie stützten mit ihrer Würze den feinen Fisch und den hauchdünnen Raviolo, in dessen Innerem sich der schmelzigste Ricotta verbarg, den ich jemals gegessen hatte. (Ich müsste mit diesen Superlativen langsam aufhören, es kommen schließlich noch drei Gänge, aber sie sind angebracht. Sorry not sorry.) Unter Ricotta verstand ich bisher bröckeliges weißes Zeug, mit dem ich nie etwas anzufangen weiß außer es mit Spinat zu kombinieren. Und Oliven waren für mich halt das herbsäuerliche Zeug, das im griechischen Salat liegt. Mit Sardellen stelle ich nur Dressing für Caesar Salad her oder packe sie auf Pizza, und Bohnen sind meine liebste Gemüsebegleitung, weil sie so schön knackig sind. Dieser Gang warf mal eben alles über den Haufen, was ich bisher über diese Zutaten gelernt und verinnerlicht hatte. Ich lernte, dass Oliven auch einfach nur würzen können und dass Bohnen auch unknackig hervorragend sind. Ich hätte auch gerne gelernt, wie man Pastateig so unfassbar dünn ausrollen kann, so dass der Löffel quasi hindurchgleitet, er aber fest genug ist, um im Wasser nicht auseinanderzufallen.

Ich war bei jedem Gang damit beschäftigt, die ganzen winzigen Kleinigkeiten zu bewundern, von denen ich nur ahnen kann, wieviel Arbeit sie gemacht haben. Die Gemüsewürfelchen in der folgenden Ochsenschwanzessenz wurden vermutlich mit einem Skalpell geschnitten, und trotzdem schmeckte man Möhre und Zwiebel aus diesem zwei Millimeter kleinen Ding heraus.

Der Fleischgang bestand aus gratiniertem Lammrücken mit Spinat, Artischocken und Petersilienpolenta. Und hier, und es ist mir ein bisschen peinlich es zuzugeben, war ich kurz davor zu heulen. Es ist doch nur ein blöder Lammrücken mit einer blöden Kräuterkruste und blöder Polenta, aber es war dann eben doch so unglaublich viel mehr. Wo ich bisher noch auf Details der Zutaten oder der Zubereitung geachtet hatte, warf mich hier der Geschmack endgültig um, ich war schlicht überwältigt von diesen mir eigentlich bekannten Aromen in ihrer mir bisher nicht bekannten Vollendung. Ich weiß, es ist „nur“ Essen, aber genauso könnte ich vor Rogier van der Weydens Kreuzabnahme im Prado stehen und sagen, es ist nur ein Bild. Dieses Essen hatte ein Niveau, das mich schlicht überforderte – mich damit aber sehr beglücken konnte.

Den Käsegang (Ziegenfrischkäse auf Mispeln, OMG) und die beiden Desserts nahm ich fast nur noch als Konsistenz war, so fertig waren meine Geschmacksnerven. Ich erinnere mich daran, beim Mohr im Hemd – ein kleines Schokoküchlein mit Rumsahne und geschmolzener Schokolade und Kaffeeeis – nur noch über die unfassbare Fluffigkeit des Küchleins gebrabbelt zu haben: Wie kann man einen Kuchen so backen, dass er sich anfühlt, als würde man in süße Luft beißen? Und wie kann ein Süßwein bitte nach Kaffee schmecken? Das Passionsfruchtsorbet auf Mango räumte dann den Magen wieder etwas auf, aber für mehr als einen Espresso reichte meine Kraft nicht mehr, keinen Schnaps mehr, danke. Ich wollte abends auch gar nicht Zähneputzen, um möglichst lange die letzten Geschmacksmoleküle zu retten.

Ich habe so noch nie gegessen – und ich werde wieder ein paar Jahre verstreichen lassen, bis ich mir das noch einmal gönne. Das war ein unvergesslicher Abend, und als wir uns auf dem Weg zur U-Bahn noch einmal zum Restaurant umdrehten, hatte ich dann doch ein paar Tränchen in den Augen. Ich bin so dankbar, etwas so Wundervolles erlebt und genossen zu haben. Und ich bin einer meiner Leserinnen genauso dankbar, dass sie mir diesen Abend finanziert hat; ich konnte die ganze Zeit schmecken und riechen und staunen anstatt daran zu denken, dass ich gerade dreiviertel meiner Monatsmiete für eine Mahlzeit ausgebe.

Den nächsten Tisch dort buche ich, wenn die Dissertation abgegeben ist. Ich freue mich jetzt schon darauf.