Was schön war, Mittwoch, 1. November 2017 – Im Olympiapark

In der eigenen Stadt unternimmt man ja nie die Dinge, die man Besucher*innen von auswärts empfiehlt. (Man = ich.) Ich wohne nun seit fünf Jahren in München – ich unterschrieb den Mietvertrag laut meines eigenen Blogeintrags, den ich eben gesucht habe, am 30. Oktober 2012 – und war erst einmal im Olympiapark und da wohnte ich noch nicht einmal hier. Das war am Tag des Finale dahoams (the game that should not be named), als vor dem eigentlichen Spiel in der Allianz-Arena noch ein bisschen Ringelpiez-Fußball mit alten Allstars im Olympiastadion stattfand. Schon damals war ich von der Anlage fasziniert, hatte aber ganz andere Dinge im Kopf. Jetzt, mit ein bisschen mehr Wissen über Stadionarchitektur und einem freien Tag vor mir, wollte ich noch einmal durch den Park spazieren.

Ich ließ mich vom Bus bis zur Station Olympiaberg chauffieren, denn ich wollte erstmal auf den Berg klettern, um von dort einen Überblick über die gesamte Anlage zu haben. Ich hatte allerdings meine gute Kamera nicht dabei, sondern nur das iPhone. Damit hätte aber auch niemand rechnen können, dass ich aus meinem Spaziergang einen Blogeintrag mache, neinnein. (Ich Hirn. Irgendwann lerne ich dieses Bloggen noch mal richtig.)

Der Olympiaberg wurde zwischen 1947 und 1958 aus Weltkriegsschutt zusammengehäuft. Ich bin nicht ganz bis zum Gipfelkreuz geklettert, sondern gefühlt in dreiviertel Höhe herumspaziert. Wenn das Stadion zum ersten Mal sichtbar wird, sieht es ein bisschen wie ein Ufo aus. Wenn ihr mal zum eben verlinkten Wikipedia-Eintrag klickt, bekommt ihr schöne Hochglanzbilder. Ich mochte es im Nachhinein ganz gerne, dass alles grau in grau war, das verstärkte die irreale Architektur noch mehr.

Der gesamte Olympiapark wurde als bewusstes Gegenstück zum Reichssportgelände von 1936 entworfen, als die bis dahin letzten Olympischen Spiele in Deutschland bzw. dem Deutschen Reich stattfanden. Ich zitiere mal meine eigene Hausarbeit über Sportstadien; ihr findet das Zitat mit allen Quellenangaben auf den Seiten 6/7:

„In Amsterdam 1928 wurden die zusätzlichen Sportanlagen städtebaulich um das Stadion herum gruppiert; es entstand die erste olympische Gesamtanlage. Die Spiele in Berlin 1936 gingen über diese reine Sportanlage deutlich hinaus: Auf dem sogenannten Reichssportfeld entstanden zusätzlich zum Stadion für 100.000 Zuschauer noch „einer einheitlichen Pflege des deutschen Sports dienende[…] Bauten mit Gedächtnis- und Versammlungsstätten der Nation, mit Theater[n] und Denkmälern in einem Festraum vereinigt“.

Geplant wurde das Stadion bereits 1925 von Werner March (1894–1976); die Nationalsozialisten veränderten den modernen Entwurf während der Bauphase zu einem imperialen Monumentalbau im Sinne der staatlichen Überwältigungsarchitektur. Neben dem Stadion lag das Maifeld mit Tribüne, auf dem 250.000 Menschen aufmarschieren konnten. Das Marathontor im Stadion gab den Blick frei auf einen Glockenturm am westlichen Ende des Maifelds, der über der Langemarckhalle stand, in dem deutscher Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Damit war erstmals ein Sportstadion der Neuzeit nicht nur Teil einer staatlichen Repräsentation, sondern seiner Ideologie: Die Spiele sollte nicht nur die Aufrüstung für einen neuen Weltkrieg verschleiern, sondern auch die angebliche Überlegenheit der arischen Rasse demonstrieren. Die Monumentalarchitektur war die Bühne dieser Ideologie.

An den Spielen in München 1972 lässt sich gut ablesen, wie sehr sich das Selbstverständnis eines Staates ändern kann. Die „heiteren Spiele“, die „Spiele im Grünen“, waren architektonisch ein deutlicher Gegenentwurf zu Berlin: „Statt in geordneten Marschkolonnen und in geometrisierter Kanalisierung bewegten sich die Menschen im freien Fluss, im hügeligen Park, unter einer lichtdurchlässigen Zeltlandschaft, geleitet von heiteren Farben zur Orientierung.“ Bei den „heiteren Farben“ hatte man bewusst auf Rot verzichtet, um auch die letzten Assoziationen zu den Berliner Spielen zu tilgen.“

Und auf Seite 8:

„Das Münchner Olympiagelände inklusive des Stadions war von Anfang an Teil einer zukunftsfähigen Stadtplanung. Zur Vorbereitung der Spiele wurde die Münchner Innenstadt fußgängerfreundlicher gestaltet, die öffentlichen Verkehrsmittel wurden verbessert, 233 neue Straßenkilometer gebaut sowie diverse Einkaufs- und Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen. Das Gelände ist bis heute ein beliebter und belebter Park, und aus dem Olympischen Dorf wurden begehrte Miet- und Eigentumswohnungen. Das Stadion selbst war zwar nicht als bauliche Ikone geplant, sein charakteristisches Zeltdach ist aber inzwischen aus der Stadtsilhouette nicht mehr wegzudenken.“ Das liegt auch daran, dass die Bürger und Bürgerinnen für den Erhalt der olympischen Anlagen kämpften. Nicht in jeder Stadt blieben die Stadien bestehen.“

Eine Fußnote dazu:

„Olympiagelände-Architekt Günter Behnisch schrieb 1987: „Im Bild des Olympiaparks hat sich die Ãœberdachung stärker in den Vordergrund geschoben als dies zunächst geplant war. Ihrer sichtbaren, auffälligen Form wegen […] So übersieht man leicht, daß das Wesentliche unseres Entwurfes unter und neben dem Dach liegt; es ist die Sport- und Spiellandschaft, der Münchner Olympiapark.“

Diese Sport- und Spiellandschaft ist deutlich größer als ich dachte. Ich kannte den Park bisher nur aus der Gegenrichtung, als wir mit einem Uni-Seminar die BMW-Welt besuchten und über ihre ikonische Architektur sprachen. Von einer nahegelegenen Brücke aus ist das Stadiondach sichtbar, aber wie groß der Park mit seiner Seenlandschaft eigentlich ist, konnte ich erst gestern erfassen.

Ich ging am See entlang und überquerte ihn am Fuß des Bergs in Höhe des Olympiaturms. Dort beginnt die Zeltlandschaft; das Zeltdach vom Olympiastadion ist nicht das einzige Gebäude, das mit dieser irrwitzigen Konstruktion überspannt ist. Als erstes wurde die Schwimmhalle sichtbar, die so aussieht, als würde der gewaltige Mast das Dach nach oben ziehen. Hier sind auch schon weitere Stahlseile sichtbar, die auf dem gesamten Gelände immer wieder auftauchen und einen ständig daran erinnern, wie diese Dachlandschaft konstruiert ist. Ich mag diese sichtbare Architektur sehr gern.

Direkt neben der Schwimmhalle liegt die Olympiahalle, die heute unter anderem für Konzerte genutzt wird. Zwischen den beiden Gebäuden geht man durch die Dachlandschaft hindurch. Das sieht auf den Bildern übrigens alles gammeliger aus als es ist. Ich fand es zauberhaft, vor allem den Kontrast aus dem leichten und stets gespannt aussehenden Dach und den massiven Betonblöcken, aus denen die Stahlstützen sprießen.


Wenn man durch diesen Kristallwald gegangen ist, steht man an der Längsseite des Olympiastadions, von dem man nur die schrägen Flutlichtmasten sieht. Geht man nach rechts, kommt man an die alten Olympiakassen mit ihrer dreisprachigen Beschriftung. Okay, die sehen wirklich so gammelig aus und sie sind auch nicht mehr in Benutzung. An einer neueren Kasse kann man sich für 3,50 Euro eine Eintrittskarte fürs Stadion kaufen und dort herumwandern.

Hier sieht man an der Säule die angesprochenen Farben, in denen kein Rot vorkommt. Und natürlich die herrlichen Piktogramme von Otl Aicher. (Gestern war offensichtlich kein Biergarten- und Ausflugswetter. Also genau mein Ding.)

Der einzige Weg durch das Stadion führt einmal außen und oben an den Sitzreihen entlang. Auf halber Höhe hat man dann diesen Ausblick.

Für mich war das eine kleine Mutprobe, einmal bis nach ganz oben zu den alten Kommentatorenkabinen zu wandern. Ich fühle mich schon auf Leitern in Altbauwohnungen in zwei Meter Höhe nicht so recht wohl, und hier geht man auf einem einen Meter breiten Betonsteg nach oben bis in circa 40 Meter Höhe, der links zu den Sitzen offen ist und rechts nur mit einem Gitter und Geländer vor dem Abgrund schützt. Ich hielt mich mit der rechten Hand konstant fest und blickte immer ins Stadioninnere. Ab und zu wagte ich einen Blick nach rechts, um die massiven Pfeiler zu bewundern, an denen die Dachkonstruktion hängt, aber nie lange. Ich fand das sehr unangenehm, dort oben rumzuturnen. Außerdem fiel mir auf, dass es im gesamten Stadionrund keine Geländer und nur wenige Trennzäune gibt; die Sitze sind kaum unterteilt, man kann durch fast alle Blöcke einfach hindurchwandern. Das klappt soweit ich weiß in keinem modernen Stadion mehr, vermutlich aus Sicherheitsgründen (marodierende Fanhorden und so, kennt man ja, schlimme Fußballfans. Daher auch immer die Blocksperre für Gästefans nach Abpfiff). In der Allianz-Arena gibt es an den Treppen in den Blöcken auch keine Geländer, was mich jedesmal irre macht, weil ich mich halt gerne ab und zu irgendwo festhalte. Die Blöcke sind in neuen Stadien deutlich steiler; man kann dadurch eindeutig besser Fußball gucken, aber es geht eben auch sehr steil auf- und abwärts. Gerade abwärts freue ich mich über etwas, das mir fußlahmen Fan etwas Sicherheit bietet. In Augsburg sind an den einzelnen Sitzreihen Metallstäbe, an denen ich mich wenigstens temporär festhalten kann. In der Allianz-Arena greife ich durchaus mal nach der Schulter eines Vordermanns, wenn ich das Gefühl habe, nicht sicher zu stehen. Das führt meist zu freundlichen Kennenlernsituationen; ich habe bis jetzt jedenfalls noch keinen Ärger bekommen, wenn ich erkläre, dass ich wackelig stehe. Ist trotzdem doof, wildfremde Menschen angrabschen zu müssen, weil es sonst nichts anderes zum Festhalten gibt. (Kleiner Exkurs Ende.)


Wenn man das Stadion einmal halb umrundet hat, kommt man an der nicht überdachten Seite wieder heraus. Dort bewunderte ich die schon erwähnten schrägen Flutlichtmasten, die gefühlt an einem seidenen Faden hängen, um nicht umzukippen. Die Masten und das Dach sehen aus, als würden sie konstant unter Spannung stehen; die Neigung der Masten verstärkt dazu noch das Gefühl von Dynamik, das bereits das Dach erweckt, alles scheint sich zum Innenraum zu neigen und zu drängen. Sportstadien sind ja gerne massive Klötze, die brutal in der Gegend herumstehen. Das Olympiastadion vermittelt einen ganz anderen Eindruck, es wirkt leicht und offen, einladend und fast bewegt. Ich konnte mich überhaupt nicht sattsehen.

Von der nicht überdachten Seite sieht man noch einmal das Schwimmstadion.

Und nach den vorhin schon gezeigten Olympiakassen geht man durch eine weitere zerklüftete Dach- und Seilkonstruktion und verlässt das Olympiagelände in Richtung U-Bahn und BMW-Welt. Unten im Bild, unter der tiefsten Zeltwölbung, ist ein parallel zur Erde ausgerichteter Balken zu sehen.

Das ist die Skulptur „Klagebalken“ von Fritz Koenig. Auf ihm sind die Namen der elf israelischen Opfer in Hebräisch sowie der Name des deutschen Opfers des Olympia-Attentats 1972 in lateinischen Buchstaben eingemeißelt.

Als ich den Klagebalken betrachtete, fiel mir ein, dass erst in diesem Jahr ein neuer Erinnerungsort eingeweiht wurde. Hatte ich den übersehen? Ich wusste nicht, wo er war und wie er aussah. Aber ich ahnte, dass ich auf ihn zulief, als mir kurz vor der U-Bahn-Station eine Art abgetragene Grasnarbe auffiel. Es sieht aus, als hätte man die Rasenfläche um zwei Meter angehoben, um darunter einen kleinen Ort des Gedenkens einzurichten. Eine breite Stele trägt das Dach, der dadurch entstandene Raum ist zu drei Seiten geöffnet, die vierte Wand ist eine Videowand, auf der Filmausschnitte aus der Zeit des Attentats laufen. Ich sah unter anderem Ausschnitte aus der Rede von Avery Brundage mit seinen bekannten Worten: „The games must go on.“ Vor der Videowand standen einige Teelichter.


Auf der breiten Stele sind die Biografien der zwölf Getöteten in deutsch und englisch abgedruckt. Alle enden mit der Abbildung eines persönlichen Gegenstands; der letzte Brief, den einer der Athleten schrieb, die Kippa, die alle israelischen Sportler für die Einmarschzeremonie erhalten hatten oder das Stoffmaskottchen Waldi, das André Spitzer für seine Tochter gekauft hatte.

Ich wunderte mich zunächst über den Standort des Memorials, es kam mir so seltsam in die Landschaft gesetzt vor. Erst als ich die Stele umwanderte, wurde mir klar, warum es hier stand: Von der einen Seite blickt man auf das Olympiagelände, den Ort, weswegen die Menschen alle hier waren; von der anderen Seite sieht man genau auf das olympische Dorf, dem Tatort des Anschlags.

Ein bisschen stiller als gedacht ging ich zur U-Bahn. Rechts davon tauchte die BMW-Welt auf, deren Architektur ich eigentlich ziemlich beeindruckend fand, als ich sie mit dem Seminar genauer betrachtet hatte. Jetzt, mit den Eindrücken des Olympiageländes, kam sie mir plötzlich ziemlich banal vor.