Tagebuch, Freitag bis Sonntag, 5. bis 7. Januar 2018 – Take Me Home (Country Roads)
Freitag war mein zunächst letzter Tag im Texterflöz vor Ort in Hamburg, ab heute sitze ich am Münchner Schreibtisch und arbeite in der bequemen Hose (aber ansonsten korrekt gekleidet). Nachdem ich in den ersten Tagen vor allem Head- und Sublines für drei verschiedene Headline-Konzepte schrieb, bastelte ich Donnerstag und Freitag für ein Konzept auch gleich mal die komplette Copy. Das mache ich ja eh am liebsten; Headlines sind für mich immer die Pflicht, Copy – oder noch besser: Longcopy – die Kür. Je mehr Text, desto besser.
Meine Text-CDeuse war mit dem ersten Entwurf schon zufrieden, meinte aber zu Recht: „Das könnte noch werbischer klingen.“ Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich gerade ein Produkt betexte, das mit Architektur zu tun hat. Ich bin anscheinend mitten im Werben in meinen Uni-Tonfall gerutscht und habe es nicht einmal bemerkt. Bei einigen Details bin ich mir im Nachhinein auch nicht mehr so sicher, ob nur ich alleine die jetzt interessant fand – „OMG, der älteste Hersteller von [Produkt] weltweit und dessen über 100 Jahre alte Originale verarbeitet [unser Kunde] noch weiter?“ – oder ob unsere Zielgruppe mit diesem TOTAL SPANNENDEN FAKT wirklich etwas anfangen kann.
In mir tönte Status Quos resigniertes You’re in the army now, während ich aus wunderschönen kunsthistorischen Details Verkoofe machte, aber es klang auch nach der Ãœberarbeitung noch gut. Ich hatte meinen aktivierenden Tonfall wiedergefunden statt im beschreibenden kunsthistorischen zu bleiben. Well played, CDeuse.
—
Abends brachte ich erstmal meinen Laptop ins Hotel, stieg in die U1 bis zum Hauptbahnhof, um von dort in die U3 zu klettern, die Linie, die überirdisch am Hafen entlangfährt – ich wollte endlich die fertige Elbphilharmonie sehen. Meinen Wegzug aus Hamburg hatte ich leider extrem doof getaktet, das Ding baute die Kräne ab, als ich quasi im Flieger saß, und auch die Kunsthalle hörte erst auf zu renovieren, als ich meinen Wohnungsschlüssel schon mit einer verheulten Notiz auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Das stand daher beides auf meinem Plan. Ich hätte die Elfie (ich weigere mich noch, Elphi zu schreiben) zwar schon gerne tagsüber gesehen, aber ich wusste nicht, ob ich dafür am Samstag Zeit haben würde. Dann wenigstens bei Dunkelheit.
Ich war um kurz vor 7 am Baumwall, stieg aus der U-Bahn, guckte in ihre Richtung – und dachte die ganze Zeit: Wo ist das Ding? Das da drüben am anderen Ufer sah alles nach Bürogebäuden aus. Erst als ich das geschwungene Dach erkennen konnte, wusste ich, dass ich auf das richtige Gebäude starrte, das nur aus hell erleuchteten Fenstern bestand – wie die ganzen Bürotürme um es herum halt auch. Hm. Ich überquerte die Straße und ging bis ans Gebäude heran. Okay: Es ist groß. Es ist echt groß. Kein Wunder, wenn man noch 15 Stockwerke auf einen Speicher ballert. Aber ich war, das muss ich leider zugeben, sehr unterwältigt. Ich hatte auch keine Lust, die schicke goldene Rolltreppe zur Plaza hochzufahren, denn wie der Hafen aussieht, weiß ich ja, ich wollte das Gebäude angucken und nicht die Umgebung des Gebäudes. Ich hatte ein bisschen Lightshow erwartet, aber es war wirklich nur ein riesiger Klotz, der von innen heraus leuchtete, mit einem zugegebenermaßen schicken Dach, von dem ich von unten allerdings auch nicht so irre viel sah.
Ich ging zum Baumwall zurück und fuhr eine Station weiter zu den Landungsbrücken, um vielleicht mit Abstand einen besseren Blick zu haben, aber auch von dort konnte mich das Haus nicht beeindrucken. Ich hatte auch keine Lust, jetzt noch auf eine Hafenfähre zu klettern, um vielleicht vom anderen Ufer, also vom Musicaltheater aus, mehr zu sehen. Etwas traurig fuhr ich wieder ins Hotel, wo ich immerhin ein nettes Telefonat mit Mama hatte und dann den Feierabend mit Bierchen und Netflix genoss sowie mein Köfferchen für den Heimflug packte.
—
Samstag morgen ließ ich eben dieses Köfferchen an der Rezeption und machte mich auf den Weg zur Kunsthalle. Mit der unrenovierten Version stand ich ein bisschen auf Kriegsfuß. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Böden größtenteils fieses graues Linoleum und irgendwann helles Laminat, die Wände sahen auch eher unmotiviert hellgrau aus, bevor sie in der Moderne weiß wurden, man ging nicht durch den prachtvollen Eingang in Richtung Alster, sondern durch einen kleinen Nebeneingang in Richtung Innenstadt, der immer so aussah wie ein Notausgang, durch den man jetzt eben rein- statt rausging. Es gab gefühlt drei Schließfächer, und man begann den Rundgang, indem man eine 50er-Jahre-Treppe hochkletterte. Die Werke waren natürlich toll, aber wenn man die edlen Stoffe aus der Alten Pinakothek kennt und die liebevollere Beleuchtung in anderen Häusern, dann litt man schon ein bisschen, während man auf grauem Plastik rumlief.
Während des Umbaus hatte man die Werke, die alle toll finden, in die Galerie der Gegenwart gebracht und da im Sockelgeschoss schon ein bisschen für den Umbau geübt: stimmungsvolleres, punktuelleres Licht, nicht alles so neonweiß ausgeleuchtet, mehr Platz zwischen den Werken, farbige Wände. Genau so sieht es jetzt auch im Haupthaus aus und vor allem: Man geht die schicke Prachttreppe hoch, wie sich’s gehört.
Ich ging allerdings erstmal ins Untergeschoss, um mir die erste Retrospektive zu Anita Rée anzuschauen, einer Künstlerin, die sehr mit Hamburg verbunden ist und deren Selbstporträt vor gelbgrünem Hintergrund von 1930 auch schon in der alten Sammlung hing. (F. so: „Das hätten die jetzt schön Réetrospektive nennen können.“ Ich so: „Immer wenn ich denke, ich habe den schlauesten Freund der Welt, kommt so was Schlimmes.“)
Ganz kurz: große Empfehlung. Ich fand die Ausstellung sehr schön gehängt, weil sie nicht stumpf chronologisch arbeitet, sondern in Werkgruppen, ich fand sie überraschend, weil sie mehr zeigt als nur Gemälde und Zeichnungen, und sie bekommt einen Bonuspunkt, weil die Wandtexte nicht nur interessant, sondern auch gut lesbar geschrieben waren. Im ersten Raum bei den frühen Menschenbildern dachte ich schon, oooh, den Katalog hätte ich gerne, aber der steht ja bei uns im ZI. Im zweiten Raum bei den Selbstporträts genauso. Und im dritten Raum bei den Sehnsuchtsorten, von denen ich mir gar nichts versprochen hatte und die dann im Endeffekt fast mein liebster Raum waren, dachte ich: Du hast gerade vier schöne Tagessätze eingefahren, der Katalog kostet vor Ort gerade mal 29 Euro, KAUF DAS DING. Hab ich dann auch gemacht.
Für mich war die Schau aufschlussreich, weil sie mal wieder mein Bild der Kunstszene in der Weimarer Republik erweitern konnte. Ich mochte auch den lokalen Bezug, den ich sehr spannend finde. Ich glaube, ich habe auch so gerne an Leo von Welden rumgedengelt, weil ich quasi täglich an seinem ehemaligen Atelier vorbeigefahren bin und die Stadt und das Haus der Kunst natürlich kenne.
—
Nach Frau Rée sprintete ich durch 500 Jahre Kunstgeschichte im Hauptgebäude. Ich begann bei den gotischen Altären und den Alten Meistern, die jetzt auf einem atemberaubenden dunklen Blau hängen; so prächtig habe ich noch keinen Goldgrund glänzen gesehen. Mein Liebling, Leibls Drei Frauen in der Kirche hängen jetzt alleine an einer Schrägwand, die das Bild leider etwas kleiner wirken lässt; vorher hing es mit anderen in einer längeren Reihe. Menzelns blöde Atelierwand hat jetzt sogar ein Handout bekommen, das an einer Tür bereitliegt und mit dem man vor dem Bild stehen kann (diese Art Angebot mochte ich schon im Kunsthistorischen Museum in Wien sehr gerne). Durch das gedämpfte Licht und die schicken Strahler fand ich auf einmal sogar Runges verquasten Morgen irgendwie reizvoll. Und auch der eigentlich totgesehende Wanderer über dem Nebelmeer wirkt auf edlem Taubenblaugrau wie neu (wobei mein liebster Friedrich in Hamburg ja das Eismeer ist). Ich fand leider Rachel Ruyschs Blumenstillleben nicht mehr wieder, aber ausgerechnet im Stilllebenkabinett drängte sich auch gerade eine Führung, der ich weiträumig auswich. In einem anderen Kabinett sah ich aber immerhin meine geliebten Interieurs von gotischen Kathedralen aus den Niederlanden, von denen ich mir nie die Malernamen merken kann, aber ich gucke bekanntermaßen halt gerne Räume und Häuserchen an.
Die bunten Wände reichten genau bis zur Moderne, ab da waren wir wieder im White Cube, und wenn ich richtig geguckt habe, war der Fußboden nicht mehr edeldunkelbraun, sondern ikeabirkenhell. Da ich wirklich kaum stehenblieb, sondern alle Räume nur durchschritt, war das ein ziemlicher Clash, aus dem ruhigen Bunt ins grelle Weiß zu kommen. Ich nahm mir hierfür noch weniger Zeit, merkte nur, dass die Brücke-Jungs auf mehrere Räume verteilt worden waren, wo sie vorher einen riesigen Saal hatten, der mich jedesmal überforderte. Ich grinste darüber, dass Dali, den ich überhaupt nicht mag, nur in einem kleinen Kabinett hing, und trauerte der schönen Blickachse von Lehmbrucks Denker hinterher; der stand vorher so, dass man, wenn man hinter ihm stand, in einen Saal schauen konnte, was ihm eine gewisse Aura verlieh; jetzt steht er etwas eingezwängter. (Hier ein Dankeschön an die Pinakothek der Moderne, die den Gestürzten ganz alleine stehen lässt.)
—
Nach knapp drei Stunden ging ich zum Rathausmarkt, um mir im Bucerius-Kunstforum noch Die Geburt des Kunstmarkts anzuschauen, für die diverse Bilder aus dem Goldenen Zeitalter nach Hamburg geschafft wurden, darunter auch ein paar Rembrandts. Ich hänge nicht so an Rembrandt, aber wenn er schon mal da ist und ich ins Kunstforum umsonst reinkomme (dankeschön!), dann sag ich halt Hallo.
Auch hier nur kurz: Ich merkte recht schnell, dass mir für dieses Thema ein bebilderter Aufsatz gereicht hätte. Ein paar Bildbeispiele fand ich aufschlussreich, ansonsten hätte ich über den Kunstmarkt auch einfach den Katalog durchlesen können. Da ich noch ein bisschen Zeit hatte, bis ich zum Flughafen musste, habe ich das dann auch getan. Im Kunstforum liegen im Obergeschoss grundsätzlich mehrere Kataloge aus, schön an beleuchteten Tischen mit bequemen Stühlen, worauf ich bisher bei jeder Ausstellung gerne zurückgekommen bin.
—
Für die Elbphilharmonie reichte die Zeit dann nicht mehr. Ich trank noch einen Kaffee, weil ich seit dem Frühstück, das auch nur aus Kaffee und Müsli mit Obst bestanden hatte, nichts mehr gegessen hatte, dann fuhr ich wieder ins Hotel, holte den Koffer, verstaute darin noch schnell den Rée-Katalog und rollerte wieder zur U-Bahn. Es war schön leer, wie auch die S-Bahn, in die ich in Ohlsdorf umstieg, und spätestens hier, wo ich während meiner Pendelzeit schon tausendmal umgestiegen war, erwischte mich dann auch der Satz: endlich nach Hause.
Ich hatte schon in den vergangenen Tagen gemerkt, dass ich mich eher wie eine Touristin als wie eine ehemalige Bewohnerin in Hamburg bewegte. Ich guckte mir vieles an wie ich Dinge in Wien und Madrid angeguckt hatte, während die Momente, vor denen ich im Vorfeld Angst gehabt hatte, recht selten waren. Ich hatte mich davor gefürchtet, alle fünf Minuten zu denken, ach da warst du mit Kai, da hast du dies und das gemacht, da haben wir dies und das gemacht. Das kam recht selten und wenn, dann war es ein bedauerndes, aber realistisches Wissen, dass die Entscheidung für den Umzug richtig gewesen war. Vielleicht haben ein paar Dinge die Tage einfacher gemacht: Ich kannte die Agentur noch nicht, ich war früher nicht oft in Winterhude oder St. Georg, wo mein Hotel war (war halt nicht meine Hood), die Kunsthalle sah neu aus, die Elfie, soweit ich das beurteilen kann, auch, ich aß nur in Läden, die ich noch nicht kannte und benutzte einen Bus, den ich früher auch kaum gefahren war. Bis auf das Treffen mit Kai war das alles nicht mein Hamburg, und als ich in der U-Bahn zum Flughafen saß, wusste ich, dass es das auch nicht mehr werden würde. Es war schön zu merken, dass München jetzt wirklich zuhause ist und nicht mehr dieses komische Ding, in dem ich nur wohne, weil ich halt nicht mehr in Hamburg wohnen kann. Ich wohne inzwischen hier, weil ich hier wohnen möchte und nicht, weil ich muss.
—
Am Münchner Flughafen drehte ich das iPhone auf und hörte die ganze S-Bahn- bzw. U-Bahn-Fahrt Musik. Und so peinlich es mir ist, es zuzugeben, weil ich mein ganzes wundervolles norddeutsches Erbe verrate, aber ich freute mich darüber, wieder bairisch zu hören. Ich mochte den Hamburger Slang eigentlich immer gerne, aber im Kunstforum hatte ich zwei typische Eisenten vor mir, die auch gerne im Weg standen und halt hamburgisch snakten. Das ging mir auf einmal fürchterlich auf den Zeiger, und als ich in der Münchner U-Bahn das gewohnte bayerische Geknödele hörte, dachte ich ernsthaft: endlich normale Leute.
Und dann spielte mein iPhone den Refrain dieses Liedes, als ich die U-Bahn-Treppe zu meiner Straße hochrollte. Der Text passt überhaupt nicht bis auf die Zeile „But I’m into it, I’m kinda into it“. Ich hatte die Lautstärke ganz weit oben und war the queen of the world.
—
Samstagabend bei F. Viel Rotwein, guter Käse, Brezn OMG BREZN, vier Tage lang nacherzählt und nacherzählen lassen. Noch mehr Rotwein, zu spät schlafen gehen, den Sonntag halb im Bett vergammeln und über Pynchon, Joyce und Rée reden. Normale Leute halt. Home is where my Bücherstapel is.