Was schön war, Freitag, 30. März 2018 – Ach was?!?
Morgens bei F. aufgewacht. Den rituellen Gang an sein riesiges Dachfenster gemacht und rausgeguckt, was der Tag so will. Ich erblickte das übliche Gewusel an Kirchtürmen, aber gestern war die Sicht besonders klar, weswegen ich gefühlt direkt hinter den ganzen Gebäuden die Alpen sah. Dutzende von schroffen, weißgrauen Bergspitzen mit kuscheligen Wattewölkchen drüber. Natürlich kann kein Berg jemals gegen das Meer anstinken, wimmerte meine Restnordishness, aber mei, das war schon schön.
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Vormittags gnadenlos Urlaub gemacht. Gelesen aka das Buch in die Hand genommen, weggelegt, die Zeitung in die Hand genommen, weggelegt, drei Serienfolgen geguckt und dabei eingeschlafen. Auf meinem Sterbebett wird mir niemand nachsagen können, ich hätte mich zu wenig entspannt.
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Nachmittags lockte dann aber wieder der Ulysses. Im Sirenen-Kapitel saß ich sehr lange fest, weil ich immer nur zwei Seiten geschafft hatte, bevor mir abends die Augen zufielen. Außerdem liege ich in den letzten Zügen von Fantasyland und habe in Hamburg Die zerrissenen Jahre: 1918 -1938 begonnen (wiegt nicht so viel wie das Hardcover von Fantasyland, kann ich besser rumschleppen), die beide sehr viel Spaß machen. Also Spaß im Sinne von „Ach was?!?“ und „viel gelernt, gerne wieder“.
Gestern wollte ich dieses Kapitel aber endlich abschließen. Nicht weil es so langweilig ist (haha, langweilig. Der Ulysses und langweilig. Ihr seid ja niedlich), sondern … ähm … ich weiß gar nicht, warum ich es so dringend abschließen wollte. Vielleicht einfach nur, um mich ins nächste Kapitel stürzen zu können, das wieder ganz anders klingt. Wobei mir bisher Sirens am besten gefallen hat, denn es liest sich irre musikalisch. Die nachträglich aufgeschlagene Sekundärliteratur verriet mir, dass Joyce 150 Stücke oder Lieder irgendwie anreißt, aber das war mir alles wurst. Dieses Kapitel klingt durch seine vielen Alliterationen, abgekürzte Wörter, Sätze ohne Kommata, wildes Wortgewusel teilweise so, als ob man es singen könnte, was total toll zu den Sirenen passt. (Ach was?!?)
Nebenbei lernte ich neulich auf Twitter, dass Sirenen nicht sexy sind. Das wusste Joyce mit seiner englischen Übersetzung vermutlich nicht; auch darauf weist jemand im Thread hin. Denn das Kapitel kam mir neben seiner Musikalität sehr sinnlich vor, teilweise schon fast niedlich-platt auf die Zwölf, teilweise verführerisch, tastend, langsam, mal sehen, was geht. Und außerdem fand ich in diesem Kapitel meinen Künstlernamen, falls ich jemals einen brauche.
(Hier hätte ich jetzt gerne einen längeren Abschnitt eingefügt, aber ich bin zu faul zum Tippen und das Projekt Gutenberg ist neuerdings in Deutschland geblockt, danke, Urheberrechtsdeppen.)
Jedenfalls geht es in diesem Kapitel um zwei Bardamen, Lydia und Mina. Den beiden werden Bronze und Gold zugeordnet, warum, steht bei der Wikipedia, und zum Schluss verkürzt Joyce mal wieder wild, weil er’s halt kann, auch Namen, und dann kommen Sätze dabei heraus wie: „Blind he was she told George Lidwell second I saw. And played so exquisitely, treat to hear. Exquisite contrast, bronzelid, minagold.“
Mina Gold. Super Name. Die Idee hatte allerdings schon jemand. Und eine Mine ist es auch. Aber bis zum Googeln war ich der Meinung, ich hätte einen schönen Künstlernamen gefunden.
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Den Abend verbrachte ich bei F. und wir öffneten einen schönen italienischen Weißwein zum Fisch und danach noch einen serbischen Rosé, weil der Abend wirklich nett war und alles so gut schmeckte. Der Rosé war der Kracher; hätte ich nicht gewusst, was im Glas war, hätte ich auf einen Rotwein getippt. Rosé ist ja gerne fies süß oder fies sauer, aber der hier war perfekt. Großer Mund, erst Himbeere, dann eine kleine schraddelige Vanilleschote, irgendwo am Gaumen hat sich eine Kirsche festgesetzt und alles hat Körper und Kraft.
Wir sprachen über Kunst und die Welt, regten uns mal nicht über Politik oder Twitter auf, sondern hatten wirklich angenehme Gesprächsthemen, unter anderem Ulysses. Mir fiel gestern erstmals auf, warum dieses Buch so ist wie kein anderes, das ich bisher gelesen habe. Ich war noch nie so nah an irgendwelchen Figuren dran, und durch ihren ständigen Stream of Consciousness kann man ihnen auch nicht entkommen. Man kann Ulysses, jedenfalls beim ersten Mal, meiner Meinung nach nicht distanziert lesen oder pflichtschuldig. Man kann sich nur besinnungslos hineinfallen und mitnehmen lassen. Oder eben auch nicht. Proust, den Joyce bewunderte, hat die Tür weit aufgestoßen für irrwitzig subjektive Literatur, und Joyce dreht die Schraube gefühlt noch eine Ecke weiter: „3500 Seiten Monolog von Swann, ja gut, aber wie wär’s mit diversen Figuren, die alle gleichzeitig monologisieren, und zwischendurch werfe ich ein paar lautmalerische Beschreibungen von Örtlichkeiten, Dingen und Gefühlen rein? Challenge accepted!“ Wir sprachen darüber, ob man eine gewisse Lese-Reife haben müsse, um sich an Ulysses ranzuwagen, also ob man vorher hundert, tausend, wasweißichwieviele andere Bücher gelesen haben muss, um die Andersartigkeit, nein, die Einzigartigkeit von Ulysses würdigen zu können? Gestern waren wir der Meinung ja, aber heute denke ich: Vielleicht ist Ulysses auch ein grandioses Einsteigerbuch für ein Lektüreleben. Danach kann man, glaube ich, jedes weitere Buch äußerst entspannt runterlesen, nachdem man sich hier so ausliefern musste.
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Wir sprachen auch über meine Diss. Das Doktorandenkolloquium und mein Archivtag haben mich nicht nur motiviert, sondern mich auch davon überzeugt, dass meine Grundidee eine gute ist, an der ich weiter forschen sollte. Seit ich wieder werbe, merke ich aber, dass es – natürlich – viel langsamer vor sich geht als früher die Hausarbeiten und Referate. Ich muss mir Zeit freischaufeln für die Wissenschaft und ich habe ein bisschen Angst davor, dass der Lockruf des Geldes oder aber schlicht die lange Strecke, die vor mir liegt, mich vielleicht doch überwältigen. Ich weiß manchmal selbst nicht, ob mein Atem lang genug ist. Wir sprachen über die Motivation für wissenschaftliche Arbeit und dass ich die Angst vor der Langstrecke jetzt erst recht habe, weil ich inzwischen weiß, dass aus der Diss keine Karriere mehr wird, sondern sie nur ein exzentrisches Hobby ist. Vielleicht lasse ich das auch irgendwann einfach sein wie Golf oder Singen, wenn was Spannenderes um die Ecke kommt? Woraufhin F. meinte: „Wenn du kein Geld verdienen müsstest, was würdest du ab morgen machen? Urlaub, Verreisen, Golf, Singen?“ Ich: „Acht Stunden am Tag an der Diss sitzen.“ F.: „And there you go.“
War mir auch noch nie so aufgefallen, dass meine Motivation schlicht die ist: weil ich Lust darauf habe. Und nicht: weil mir ein Doktorhut gut steht und meine Vistenkarte cooler wird. (Ach was?!?)