„Alles klappt“ (Uraufführung), 6. Juni 2018
F. und ich hatten bei einem Konzertbesuch festgestellt, dass wir öfter zeitgenössische Musik hören möchten. Daher schauten wir schon vor längerer Zeit ins Biennale-Programm und entschieden uns für eine Uraufführung eines kurzen Musiktheaterstücks von Ondřej Adámek, „Alles klappt“, im Marstall des Residenztheaters. Der Ankündigungstext sprach von Archivalien, die durch die Archivar*innen plötzlich zu sprechen beginnen, wenn ich mich richtig erinnere (ich finde ihn nicht mehr online), aber um welche Archivstücke aus welcher Zeit es sich handelte, stand dort meiner Meinung nach nicht.
Das erfuhren wir erst Mittwochabend vor Ort aus dem Programm und mir wurde ein bisschen mulmig: Der Komponist verarbeitete unter anderem Stücke aus seinem Familiennachlass, genauer gesagt, Postkarten aus Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau. Dem Programm beigelegt waren eine undatierte Karte aus Theresienstadt und zwei aus Auschwitz, letztere von Januar und April 1944, auf denen eine Mutter an ihren Sohn in Prag schrieb. Auf diesen befindet sich auch der Stempel mit dem Hinweis, dass eine „Rückantwort nur auf Postkarten in deutscher Sprache über die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ zu geschehen habe. Eine Karte ist erkennbar in Charlottenburg abgestempelt worden, bei der anderen fehlen Briefmarke und Stempel.
Das Stück begann damit, dass der Komponist und Dirigent mit einem Metalldetektor den Bühnenboden absuchte, aber nichts fand. Danach traten nacheinander sechs Sänger*innen und zwei Percussionist*innen auf; einige schoben hölzerne Kisten, andere Schlaginstrumente, die nach und nach von den Musiker*innen bearbeitet wurden. Der Sprechgesang der sechs begann mit – ich hoffe, ich erinnere mich halbwegs korrekt – Beschreibungen von Werterhaltung und Wertzuwachs. Es wurden Möbelstücke und ihre Anzahl aufgezählt, wobei der Sprechgesang stets rhythmisch blieb. Mir fiel erst nach gefühlt zehn Minuten auf, dass der Rhythmus mich an Eisenbahnen und ihr Rollen über Schwellen erinnerte. Es wurde von Menschen auf Transporten gesprochen, immer mehr Instrumente kamen auf die Bühne, Text und Bühnengestaltung ergänzten sich hier sehr intuitiv. Es wurde voller und enger auf der Spielfläche und die gesprochen-gesungenen Zahlen immer höher.
Die sechs Archivar*innen nahmen Gegenstände aus den Holzkisten und wickelten sie in durchsichtige Folie ein, während im Hintergrund Luftpumpen, Blasebälge und eine Sprühdose bearbeitet wurden, mit der man per Druckluft Computerkeyboards reinigen kann. Für mich waren das alles Anspielungen darauf, dass viele der Menschen auf den Transporten keine Luft bekamen – und ein Hinweis auf ihr gewaltsames Ersticken in den Gaskammern.
Die Nennung von Möbelstücken und Orten, aus denen sie kamen, erinnerte mich an die Listen, die ich aus Auktionskatalogen kannte, wo eben nicht nur Bilder und Wertgegenstände der deportierten oder vertriebenen Menschen versteigert wurden, sondern auch Tische, Stühle, Blumenvasen und Kleidung. Die Gegenstände, die unter anderem aus den Kisten geholt wurden, waren einmal, wenn ich das richtig erkannt habe, ein Radio (das jüdische Bürger*innen seit 1939 nicht mehr besitzen durften) und ein Koffer (bei dem ich sofort die Sammlung von Koffern in Auschwitz vor Augen hatte).
Dann trat aber eine Archivarin an eine Kiste und holte eine Brille hervor (auch bei ihr musste ich an die Sammlung in Auschwitz denken). Sie packte sie allerdings nicht in Folie ein, sondern setzte sie auf – und die Besitzerin der Brille sang nun durch sie. Sie sang sinngemäß oder teilweise wortwörtlich die Texte, die wir vorher auf den Postkarten schon hatten lesen können: „Wir sind alle gesund. Seid ihr? Alle danken wir herzlichst für die Postpakete, kamen in Ordnung an. […] Dürfen nur selten schreiben, seid daher unbesorgt, wenn wenig Berichte. Haben uns gut eingewöhnt. Wohne in großem Zimmer gemeinschaftlich. In Gedanken stets bei euch. Wir sehen einander täglich in freier Zeit, arbeiten fleißig.“ (undatierte Karte aus Theresienstadt)
Ein anderer Archivar nahm nun ein Gemälde aus einer Kiste und sang auf tschechisch. Es gab deutsche und englische Übertitel, für die ich recht dankbar war, denn der Klang setzte sich aus Percussion und mehrstimmigem Gesang, der meist eher eine geräuschvolle Wortproduktion war, zusammen. F. meinte nach dem Stück, er habe sehr auf die Percussionist*innen geachtet, während ich die irgendwann völlig vergaß, weil ich so mit den Worten beschäftigt war. Ich versuchte bei jedem Satz zu ergründen, woher er wohl stammte: von einem Reichsgesetzblatt oder der letzten Postkarte, die ein Häftling aus einem Konzentrationslager schrieb? Das war alles andere als ein entspannter Theaterabend, aber ich war gleichzeitig fasziniert, verstört, begeistert und traurig und klatschte danach auch sehr lange.
Aber soweit waren wir noch nicht. Nach dem Gemälde, bei dem ich wirklich kurz davor war zu heulen, weil es so nah an dem ist, was ich tagtäglich mache und bei dem ich immer noch hadere, ob ich meine Kraft nicht lieber für Provenienzforschung einsetzten sollte anstatt einem anscheinend eher unbedeutenden, systemkonformen Maler der NS-Zeit nachzuspüren, kamen Gegenstände, über die ich erst nachdenken musste. Eine Archivarin entnahm der Kiste eine Pflanze, ein Archivar eine Peitsche. Bei der Pflanze dachte ich mir, dass sie vielleicht auf den Stellen wächst, an denen früher Lagerbaracken standen, bei der Peitsche dachte ich daran, dass viele Häftlinge gezwungen wurden, sich gegen ihre Mithäftlinge zu stellen. Die vorletzte Archivarin nahm eine große Flasche Kölnisch Wasser und übergoss sich damit, was ich einerseits mit Reinwaschen und andererseits mit Erinnerungen wegwaschen verband – und was den Weg ebnete für den letzten Archivar.
Dieser trug einen grauen Anzug, dessen Jackett er ablegte, bevor er die letzte Kiste öffnete. In ihr befand sich schwere, schwarze Erde, die er nun mühevoll mit beiden Händen und ausgebreiteten Armen auf dem Bühnenboden verteilte. Dann nahm er seinen Kolleg*innen ihre jeweiligen Gegenstände ab und vergrub sie, während alle weiterhin Postkartentexte, Vorschriften oder Sätze über Werterhalt und Besitz sprachsangen. Für mich war das Ablegen des Jacketts ein Bezug auf die vielen Deutschen, die nach 1945 ihre Uniformen vergruben oder verbrannten, die Orden vernichteten und ihre Identität neu aufstellten – oder auf Schreibtischtäter wie Eichmann in grauen Anzügen, die sich eben nicht die Hände schmutzig machten, aber natürlich genau die gleiche Verantwortung trugen.
Schließlich war alles vergraben, der Archivar verdreckt und verschwitzt, die anderen sangen „Schreibt bald“, wobei aus dem ersten Wortteil ein lautes SCHREI- wurde, bevor daran noch ein leistes -bt gesetzt wurde. Die Percussion wurde immer lauter und lauter – und dann war es still. Ich dachte noch, nee, das ist ein doofes Ende, als ein neuer Sprechgesang begann. Den Text konnte ich zunächst nicht zuordnen, er ging ungefähr so: „Ich vermisse meine Gegenstände. Ich wollte nur ein stilles Leben mit meinen Gegenständen.“ Und ich dachte, das ist ja ein noch blöderes Ende, wieso reden wir jetzt über Dinge, wo wir eben so zutiefst menschliche Texte gehört hatten? Bis mir auffiel, dass eben diese Dinge das einzige sind, was noch von ihren Besitzer*innen übrig ist. Ein Koffer. Ein Bild. Eine Brille. Und wir Historiker*innen suchen mit Metalldetektoren oder Archivfindmitteln nach diesen Dingen und nach irgendjemandem, dem wir Schmuck oder Bilder oder Bücher in die Hand drücken können, als ob damit irgendwas wieder gut werden würde.
Gestern, nachdem ich alles ein bisschen hatte sacken lassen können, gab ich den Namen der Absenderin der Postkarten in die Datenbank für die Opfer der Shoah in Yad Vashem ein. Ich hatte sinnloserweise die winzige Hoffnung, dass die Schreiberin den Holocaust überlebt haben könnte. Hat sie nicht. Malvine Pokorny, geboren am 3. Mai 1873, wurde am 15. Dezember 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert, wo sie zu einem unbekannten Zeitpunkt verstarb. Ihre Postkarte vom 15. April 1944 an ihren Sohn Alfred lautete:
„Geliebter Sohn,
bin gesund. Karte 26.1. 16.3 erhalten, sehr erfreut. Alles in bester Ordnung nach meiner [?] und Eurerem Wunsche. Innigste Grüße allerseits. In größter Dankschuld und Liebe
Mutter.“
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Das Stück ist heute und morgen noch im Marstall um 20 Uhr zu sehen, am Sonntag um 17 Uhr. Am 14. Juli wird die Aufführung, die wir gesehen haben und die aufgezeichnet wurde, bei BR Klassik um 20.05 Uhr zu sehen hören sein. Ich werde euch definitiv daran erinnern.