Charlie and the Chocolate Factory
Charlie and the Chocolate Factory (Charlie und die Schokoladenfabrik, USA 2005, 115 min)
Darsteller: Johnny Depp, Freddie Highmore, David Kelly, Christopher Lee, Deep Roy, Helena Bonham Carter, Noah Taylor
Musik: Danny Elfman
Kamera: Philippe Rousselot
Drehbuch: John August (nach dem Buch von Roald Dahl)
Regie: Tim Burton
Schokolade ist kein perfektes Lebensmittel. Sie besitzt einen geringen Nährwert, hat viel zu viele Kalorien, eine doofe Farbe und muss in fiesem, umweltfeindlichen Stanniolpapier eingewickelt werden. Aber sie kann etwas, was nicht viele andere Lebensmittel können: Sie macht verdammt glücklich.
Der Film Charlie and the Chocolate Factory beruht auf einer Geschichte von Roald Dahl, und es geht um Schokolade. Willy Wonka, der Besitzer der größten Schokoladenfabrik der Welt, lädt eines Tages fünf Kinder dazu ein, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Die Kinder brauchen für die Einladung aber ein wenig Glück: Wonka hat in fünf seiner Schokoriegel, die weltweit verkauft werden, ein goldenes Ticket versteckt, und nur wer eins davon findet, darf in die Fabrik. Vier der Gewinner sind widerliche, verwöhnte Gören, aber einer ist der Traum aller Erziehungsberechtigten: Charlie, ein bettelarmer, wohlgeratener Junge, der mit seinen kreuzehrlichen Eltern und weisen Großeltern in einem Häuschen im Schatten der Fabrik wohnt. Im Laufe des Films erteilt Wonka jeder Bratze und ihrem Erzeuger eine Lektion, bis nur der gute Charlie übrig bleibt, um den superduper Hauptpreis in Empfang zu nehmen – oder auch nicht.
Charlie and the Chocolate Factory ist eindeutig ein Kinderfilm, genau wie die Vorlage ein Kinderbuch ist. Die Erzählweise ist simpel geradeaus und die Figuren allesamt so plakativ, dass ihnen keine Chance bleibt, mehr als freundliche Anteilnahme vom Zuschauer zu bekommen (Charlie und Anhang) oder totale Abscheu und Schadenfreude darüber, was mit ihnen passiert (alle anderen). Die Botschaft, die Charlie vermitteln will, wird einem ungefähr achtzigmal mit dem Silbertablett eingeprügelt: Familie ist das Beste, was einem passieren kann. Und die Story überrascht so gut wie nie, sondern steuert konsequent auf ein fettes Happy End zu, und genau das hat man nach 30 Filmsekunden auch erwartet. Warum sollte man sich also als Erwachsener Charlie and the Chocolate Factory anschauen?
Weil dieser Film einem schlicht und einfach die Chance bietet, wieder Kind sein zu dürfen. Er ist kein Film, dessen bedeutungsschwangere, düstere Bilder man dechiffrieren muss. Stattdessen führt uns Hauptdarsteller Johnny Depp in Kostümen, die unter Drogen entworfen wurden, durch eine – passenderweise – bonbonbunte Fantasiewelt. Wir erleben Flüsse aus Schokolade und Bäume aus Zuckerwatte, wir sehen Eichhörnchen beim Nüsseknacken zu und lernen die Oompa Loompas kennen, kleine Wesen, die für Kakaobohnen alles tun würden, unter anderem pinkfarbene Schiffe in Form eines Seepferdchens rudern und dabei gemeine Lieder über verfressene oder großkotzige Kinder singen. Die Fabrik ist eine Zauberwelt, die sich jedes Kind nur wünschen kann, ein Schlaraffenland ohne langweiligen Grießbrei und stattdessen mit Fudge und Creme und Lollipops. Bei den Kulissen haben sich die Designer richtig ausgetobt, und so ist Charlie in jeder Sekunde bestes Augenfutter – eye candy eben.
Und Futter für die sonst brav unterdrückte Schadenfreude. Die vier Ekelkids laden geradezu dazu ein, sich ungestraft über sie lustig zu machen und damit endlich mal politisch unkorrekt lästern zu dürfen. Die kleine britische Prinzessin, deren reicher Vater tausende von Schokoriegeln kauft, damit sie ein Ticket kriegt und die den Fund desselben mit einem leisen Lächeln registriert – und dem Satz: “Daddy, I want another pony.” Der fernseh- und videospielsüchtige Kerl, der lieber auf den Köstlichkeiten in der Fabrik herumtrampelt, anstatt sie zu essen – “He said to enjoy ourselves.” Die blonde Eislauftochter der blonden Eislaufmutti, die Rekordhalterin im Kaugummikauen ist und die – ohmeingott! – keine Schokolade mag. Und am schönsten, jedenfalls in der Originalfassung, weil mit wunderbarem Akzent: der dicke deutsche Junge, der das goldene Ticket in seiner Schokogier fast gegessen hätte und dessen Vater natürlich Metzger ist und Würste produziert. Alle vier möchte man sofort verprügeln, sobald man sie sieht. Aber sie bekommen natürlich, was sie verdienen, und schon ist die Welt wieder gut.
Aber der Film ist nicht nur holzhammerlustig und quietschebunt. In seinen wenigen stillen Augenblicken ist er fürchterlich sentimental und will uns ums Verrecken rühren. Und das schafft er auch. Wahrscheinlich weil die Story eben so schlicht ist und weil die Figuren eben entweder zu gut für diese Welt oder zu widerlich sind. Ich habe fast vor Freude geheult, als Charlie sein Ticket gefunden hat, obwohl ich natürlich wusste, dass er es findet, sonst wäre der Film nach zehn Minuten zuende gewesen. Aber ich war von der ersten Sekunde an genauso alt wie meine ganzen Sitznachbarn im Kino, die einen Meter kleiner waren als ich. Ich habe mit offenem Mund den Erzählungen von Großvater Joe zugehört, so als ob mir jemand eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hätte, und ich war kurz davor, mittendrin laut „Oh, guck mal, ein SCHOKOWASSERFALL!“ zu brüllen und mit dem Finger auf die Leinwand zu zeigen.
Und ich war schlicht und einfach gerührt von einigen Sätzen und Szenen, die über die Hauptbotschaft hinausgingen. Wenn zum Beispiel Großvater George Charlie verbietet, das Ticket zu verkaufen, um dringend benötigtes Geld für die Familie zu verdienen: Geld gebe es auf der Welt doch wie Heu, aber nur fünf goldene Tickets. Oder wie Großvater Joe Charlie darauf vorbereitet, nicht enttäuscht zu sein, wenn in seinem Schokoriegel kein Ticket ist: “We will still have the candy.” Genau: Wir werden immer etwas haben, was uns glücklich macht, selbst wenn wir nicht reich sind oder berühmt oder wunderschön oder was für Zielen wir sonst hinterherjagen. Wir werden immer eine Kleinigkeit haben, die uns in diesem einen Augenblick mehr freut als alles andere und die nichts oder fast nichts kostet und deswegen doppelt so wertvoll ist: eine Erinnerung an einen lieben Menschen, ein Sonnenaufgang am Meer, ein Lieblingsbuch, ein Kleidungsstück – oder eben eine Tafel Schokolade nach einem beschissenen Tag.
Charlie macht absolut keinen Spaß, wenn man intellektuelle Filmkunst erwartet und sich ein Gurkensandwich plus Stoffserviette mit ins Kino gebracht hat. Aber Charlie ist großartig, wenn man sich schlicht und einfach über einen herzerwärmenden Film freuen möchte und einen Berg Süßkram dabei hat. (Das würde ich übrigens wirklich empfehlen – der Film ist Folter, wenn man nicht wenigstens ein paar Bonbons lutschen kann. Noch besser allerdings: zwei Tafeln Lindt Vollmilch. Denkt an meine Worte.)
Charlie and the Chocolate Factory ist kein perfekter Film. Er wird wahrscheinlich nie eine Liste der besten Filme aller Zeiten anführen, sein Inhalt ist eine zu schlichte Moral, sein Plakat ist viel zu bunt und Johnny Depp hat eine fürchterliche Frisur. Aber er kann etwas, was fast alle Tim Burton-Filme können: Er macht in seinen besten Momenten verdammt glücklich. Und das ganz ohne Kalorien.