Filmfest München 2013 (1)
Mein zweites Jahr beim Filmfest München – und dieses Mal habe ich nicht nur zwei Tage zur Verfügung, sondern alle acht. Theoretisch, denn der liebste Lieblingskerl von allen besucht mich (AUSGERECHNET!) nächste Woche zum ersten Mal in meiner zweiten Heimat, weswegen ich diese Tage filmfrei halte. Außerdem habe ich natürlich Uni, und deswegen quetsche ich geplante 21 Filme in fünf Tage.
Die Programmauswahl habe ich dieses Mal mit Frau Bechdel und ihrem Test im Hinterkopf gemacht. Jungsfilme – also Filme, in denen Männer die Hauptrolle spielen oder solche, in denen Frauen nur Deko sind – gucke ich seit 30 Jahren. Reicht erstmal. Deswegen habe ich mir dieses Mal bewusst Filme ausgesucht, die entweder von Frauen gedreht oder geschrieben wurden oder, noch besser, in denen es hauptsächlich um sie geht.
Los geht’s mit einem Film, den ich mir sonst eher nicht angeschaut hätte:
Sinapupunan (Thy Womb), Philippinen 2012
Regie: Brillante Mendoza; Drehbuch: Henry Burgos. Hauptdarsteller_innen: Nora Aunur, Bembol Roco.
Shalela ist eine Frau in mittleren Jahren, die ihrem Ehemann Bangas-An kein Kind gebären kann. Eine Adoption kommt für ihn nicht in Frage, weswegen er eine weitere Frau heiraten möchte, die ihn zum Vater macht. Thy Womb erzählt von der Suche der ersten Ehefrau nach einer zweiten für ihren Mann.
Der Film macht gleich in den ersten Minuten sein Thema klar, denn wir schauen erstmal bei einer Geburt zu (so nahe wie ich persönlich noch nie einer Geburt zugeschaut habe), und dann sehen wir Hebamme Shalela auf ihrem Heimweg im Bötchem mit ihrem Mann. Sie leben in einem Wasserdorf in der philippinischen Provinz Tawi-Tawi. Auf ihrem Weg zu ihrer Insel sehen wir überall Kinder: spielende, schwimmende, wartende, lachende. Der Film deutet überhaupt eher an, als dass er stringent erzählt; er arbeitet viel mit großen Bildern und kleinen Szenenabfolgen, viel Farbe, Wasser, Himmel, Sonne im Kontrast zu den engen, selbstgezimmerten Wasserdörfern, die auf ihren schlanken Stelzen im glasklaren Ozean stehen. Sie waren für mich stets ein Sinnbild der fragilen menschlichen Beziehungen in ihrer gefühlten Spontaneität, die doch schwerem Regen trotzen kann. Genauso die bunten Matten, die Shalela aus hunderten von Bändern anfertigt – über dieses Geflecht hat sie die Kontrolle, es wird genau so, wie sie es sich vorgestellt hat. Sämtliche weiteren Beziehungen in ihrem Umfeld versucht sie ähnlich zu kontrollieren, aber es gelingt ihr – natürlich – nicht.
Was mich fast mehr als die Geschichte beeindruckt hat, war die Beiläufigkeit, mit der sie erzählt wird. Dass in ein beschauliches, kleines Leben eines hart arbeitenden Ehepaars die Gewalt der Welt mit Fischdieben und Soldaten einbricht, ohne dass sie großartig mit der Wimper zucken. Sie nehmen es hin, wie sie alles hinnehmen – so wie Shalela es hinnimmt, dass ihr Mann eine zweite Frau will. Überhaupt scheint das Leben der beiden ein einziges Sich-Fügen zu sein: in die Religion, in die geforderte Mitgift für die Mutter der Braut, in das, was sie dafür tun müssen, um diese Mitgift zu erwirtschaften.
Thy Womb hat mich in eine mir sehr fremde Welt mitgenommen, und ich musste mich zwischendurch selbst genau daran erinnern. Das ist nicht mein Land, meine Kultur, meine Religion, ja nicht mal mein Essen oder meine Musik. Was auch immer ich von Shalela und ihrem Tun halte – ich muss es hinnehmen, dass hier eine Frau sehr viel für ihren Mann tut, obwohl sie weiß, dass sie dadurch nur Nachteile hat. Ich habe mich diesem Film gefügt und war dementsprechend beeindruckt.
Bechdel-Test bestanden: nein. Der Film ist größtenteils auf das Ehepaar beschränkt; die wenigen Dialoge zwischen Shalela und weiteren Frauen reichen für mich nicht.
Die Trost-Bechdel: Der Film hat eine klare weibliche Hauptfigur.
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Finsterworld, Deutschland 2013
Regie: Frauke Finsterwalder; Drehbuch: Frauke Finsterwalder und Christian Kracht; Hauptdarsteller_innen: Michael Maertens, Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller, Corinna Harfouch, Margit Carstensen, Johannes Krisch.
Volltreffer. Schon der Text im Programmheft hatte mich: „Finsterworld spielt in einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Deutschland. Ein Land, in dem immer die Sonne scheint, Kinder Schuluniformen und Polizisten Bärenkostüme tragen und Fußpfleger alten Damen Kekse schenken. Jedoch lauert hinter der Schönheit dieser Parallelwelt der Abgrund, und dorthin geht die Reise.“
Und wer jetzt glaubt, das wird so eine kleine schräge Komödie, der liegt gnadenlos daneben. Ja, es gibt haufenweise lustige Szenen, von denen eine ein Dialogsatz ist, der überhaupt nicht zum Lachen ist, aber der im Kontext unfassbar grandios ist. Ich plaudere ihn nicht aus, aber wenn ihr den Film seht, was ich euch dringend raten möchte, dann achtet auf die Antwort der Schulklasse im Bus, nachdem der Geschichtslehrer eine Pinkelpause ankündigt. Ach ja, dieser Bus fährt übrigens gerade in ein KZ, das die Klasse sich anguckt, und das ist natürlich auch überhaupt nicht lustig, sorgt aber für diverse OMG-Momente, die ich sehr genossen habe. Diese Momente machen aus dem Film eben deutlich mehr als die kleine schräge Komödie, und es gibt sie auch noch in einem Altersheim, wo ein Fußpfleger seinen Job fast zu gerne macht oder bei einer Dokumentarfilmerin, die ihre Subjekte eher doof als spannend findet.
Gleichzeitig hat der Film eine ganz eigene Sprache, einen hervorragenden Rhythmus und eine trotz aller Groteske hemmunglose Poesie in Geschichte und Dialog, die mich absolut begeistert hat. Jeder Satz und jede Aktion ist schonungslos, und genau damit entlockt der Film dem Publikum ebensolche Reaktionen. Hier gibt’s kein Man könnte mal … oder Wir sollten vielleicht … nee, hier gibt’s auf die Zwölf, und das sitzt dann auch.
Nebenbei: Ich habe Hornhaut noch nie so ästhetisch in Szene gesetzt gesehen.
Bechdel-Test bestanden: leider nein. Auch hier waren es fast überwiegend gemischte Doppel im Dialog. Die wenigen gleichgeschlechtlichen Dialoge waren zwischen zwei Schülern.
Die Trost-Bechdel: Frauke Finsterwalder hat Regie geführt und zusammen mit Christian Kracht (ja, dem Christian Kracht) das Drehbuch geschrieben.
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Foxfire – Confessions of a Girl Gang, Frankreich/Kanada 2012
Regie: Laurent Cantet; Drehbuch: Robin Campillo und Laurent Cantet nach dem Roman von Joyce Carol Oates. Hauptdarstellerinnen: Raven Adamson, Katie Goseni, Claire Mazzarolle, Madeleine Bisson, Paige Moyles, Rachel Nyhuus, Alexandria Ferguson.
Vier Mädchen gründen im Amerika der 50er Jahre eine Bande – den Film wollte ich sehen. Klang leider besser, als er war. Regisseur Cantet war anwesend (im Bild links) und betonte, dass die Darstellerinnen alles Laien seien, und genau das war ein Grund, warum ich den Film nicht ganz so mochte. Ich hatte des Öfteren „stop acting!“ im Hinterkopf, wenn eine der Damen wieder ein bisschen zu dick auftrug, oder im Gegenzug „start acting!“, was immer Katie Goseni betraf, von der ich gerne mehr als einen Gesichtsausdruck gesehen hätte. (Außerdem musste ich dauernd an Happy Schnitzel denken, aber dafür kann die Dame natürlich nichts.)
Die Mädchen tun sich zusammen, weil ihnen von Jungs und Männern Unrecht getan wird. Erstmal ein hübsches Motiv, aber der Film zeigt blöderweise fast nur Klischeemänner mit Schablonensätzen: Entweder sie sind komplette Arschlöcher oder total nett, was aber egal ist, denn sie kriegen alle auf die Nase. Das mindert die Sympathie zu den Mädels etwas, aber das war nicht mein Hauptproblem. Ich habe die Motivation der Hauptfigur nur schwer nachvollziehen können; warum sie die Bande gründet, ist klar, sie will sich rächen, Stärke zeigen, nicht mehr allein sein. Aber auch, als sie Menschen kennenlernt, die sich ehrlich um sie bemühen, bleibt sie dabei, dass die Welt widerlich ist, weswegen sich die abschließende Eskalation übertrieben angefühlt hat. Außerdem ist Foxfire mit 143 Minuten ein ziemlicher Brocken für eine leider recht kleine Geschichte.
Und, die übliche persönliche Notiz zum Schluss: Es gibt tollerweise ein dickes Mädchen in der Gang. Weniger toll: Blutüberströmte Mädchen auf der Leinwand – kein Ding. Mädchen, denen Gewalt angetan wird – da stehen wir wortlos drüber. Aber wenn ein dickes Mädchen im BH oder im Bikini zu sehen ist, muss man das anscheinend dringend mit der Begleitung besprechen. Nerv.
Bechdel-Test bestanden: mit Bravour.
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Mr. Morgan’s Last Love, Deutschland/Belgien 2013
Regie: Sandra Nettelbeck; Drehbuch: Sandra Nettelbeck nach einem Roman von Françoise Dorner. Hauptdarsteller_innen: Michael Caine, Clémence Poésy, Justin Kirk, Jane Alexander, Gillian Anderson.
Nach dem langen Meh-Film hatte ich netterweise was fürs Herz zum Abschluss. Die Geschichte klang zwar eher nach Klischee – alternder Witwer in Paris trifft junge Frau –, aber Sir Michael Caine spielt den Witwer und war zudem persönlich anwesend. Gekauft.
Der Film hat mich dann doch sehr positiv überrascht, was zum einen am leichtfüßigen Drehbuch lag und zum anderen am Sir, der mich sowohl hemmungslos lachen und fünf Minuten später ebenso hemmungslos weinen ließ. Natürlich geht es um den Tod und wie wir mit ihm umgehen, aber auch um Familie, Freundschaft und den letzten Gang, den jeder so antreten sollte, wie er oder sie möchte. Im Mittelteil hätte ich gerne ein bisschen was gekürzt; so hat es mich zwar sehr gefreut, Gillian Anderson mal wiederzusehen, aber ihre Figur hat die Geschichte kein winziges bisschen weitergebracht. Und da ich zwei ältere Herren als Nachbarn hatte, die beide die Armlehne als ihr persönliches Eigentum betrachteten und ich außerdem in der dritten Reihe im Carl-Orff-Saal im Gasteig saß und mir den Hals verrenkte, wäre ich persönlich für 15 Minuten weniger Film sehr dankbar gewesen. Auch das Ende zögert sich gefühlt zu sehr hinaus, aber darüber haben mich der routinierte Caine, die bezaubernde und ganz und gar ungekünstelte Poésy und mein ständiger Schmachtfetzen Kirk gut hinwegtrösten können.
Beim anschließenden Q&A – nach einem langen Schlussapplaus – waren dann auch alle guter Laune. Der Produzent der Bavaria erzählte, dass er 1994 zum ersten Mal beim Filmfest war; damals war Quentin Tarantino anwesend und er selbst hatte keine Chance auf eine Karte. Ein Freund von ihm war allerdings Vorführer, und deswegen sah er den Film aus der Vorführerkabine. “And now I’m standing here on stage.” Ich mag solche Geschichten. Auch Poésy hatte mich mit einer ihrer ersten Bemerkungen. Nettelbeck wurde gefragt, wie sie auf Poésy gekommen wäre, woraufhin sie meinte: “We had lunch and she stole my heart.” Poésy: “I stole your fries.” Nettelbeck: “In that order.” Und natürlich hing ich an den Lippen von Michael Caine und war zugegebenermaßen etwas star struck. Er wurde gefragt, warum er diese Rolle angenommen habe: “I am retired. But if someone offers you such a beautiful lead as an 80-year-old man – you take it. Usually, roles for old men are comedy. You have to fall down a lot.”
Nettelbeck erzählte auch, dass sie Caine im Hinterkopf hatte, als sie das Buch schrieb – “something you should never, ever do. What do you do if he declines? I got very lucky.” Auch wegen ihm schrieb sie Referenzen an alte Rollen oder seine Autobiografie ins Drehbuch, zum Beispiel die Liebe zu e.e.cummings, die auch Caines Figur in Hannah and her Sisters hatte. Oder seine Alkoholabhängigkeit, wo sie fast wörtlich aus seiner Autobiografie zitierte: “I used to try alcohol for a while. It didn’t work.” Woraufhin Caine beim C&A meinte: “Someday I just wasn’t thirsty anymore.”
Bechdel-Test bestanden: nein. Schon wieder ein Pärchenfilm.
Die Trost-Bechdel: Regie und Drehbuch von Sandra Nettelbeck.