Bücher Januar–März 2014
Meine Leseliste nimmt erschreckend kurze Formen an – das sah vor meinem Studium ganz anders aus. Aber seitdem steckt mein Hirn eben eher in Fachbüchern, Aufsätzen und Texten, die uns die Dozierenden als zentimeterdicken Reader vorlegen. Ich lese das alles sehr gerne, aber darüber kommt die Nebenbeilektüre anscheinend völlig unter die Räder. Aber hey: Für vier Bücher hat’s gereicht. Okay, eigentlich drei, das Geschichtsbuch habe ich an einem Tag als Klausurvorbereitung gelesen, aber sonst ist die Liste echt zu lächerlich für meine Verhältnisse.
Irmgard Keun – Gilgi – eine von uns
Warum ich das Buch lesen wollte, habe ich schon mal beschrieben, und was ich mir erhofft hatte, ist eingetreten: Ich habe einen sehr persönlichen Einblick in eine zu dem Zeitpunkt neue weibliche Art der Lebensführung bekommen. Das Buch verwendet recht oft Zitate oder Liedtexte, so wie das heutige Popliteratur auch macht und bei der ich mich beim Lesen immer frage, ob man das in 20 Jahren per Fußnote erklären muss. Ähnlich ist es bei Gilgi: Ich konnte die wenigsten Schlager zuordnen, aber als atmosphärischer Hintergrund haben sie sehr gut funktioniert, vor allem als Kontrast zur sehr preußischen Arbeitsdisziplin, die Gilgi an den Tag legt, bevor ihr die Liebe und der Traum von einem anderen Leben, das vielleicht eine andere Gilgi erfordert, dazwischenfunken.
Stefan Weinfurter – Das Reich im Mittelalter. Kleine deutsche Geschichte von 500 bis 1500
Streng genommen keine Vergnügungslektüre, wie ich oben erwähnte, aber das Buch lege ich euch trotzdem mal ans Herz. Wenn ihr einen schnellen Überblick über das Mittelalter haben wollt, wäre das ein Tipp. Liest sich sehr entspannt und unwissenschaftlich weg, bietet aber natürlich genug Wissenschaft, um es schön in einer Hausarbeit zitieren zu können. (Ja, ich achte inzwischen auf sowas.)
Eduard von Keyserling – Bunte Herzen. Dumala. Fürstinnen.
Auf den Herrn von Keyserling bin ich lustigerweise in Kunstgeschichte gestoßen, als ich auf der Suche nach Raubkunst in den Regalen der kunsthistorischen Bibliothek ein Buch fand, das ihm gehört hatte. Daraufhin wollte ich dringend was von ihm lesen. Im obigen Band stehen drei Novellen, von denen ich erst zwei durchgelesen habe, aber ich bin mir sicher, die dritte ist genauso unaufgeregt, geradeaus und stimmungsvoll. Ein wunderschöner Stil, der gefühlt dafür sorgt, dass mein Blutdruck beim Lesen runtergeht und meine Mundwinkel sich zu einem Lächeln verziehen. Die alte Welt mit ihren alten Werten. Gut, dass ich nicht in ihr lebe, aber schön, dass ich über sie lesen darf.
David Foster Wallace (Ulrich Blumenbach, Übers.) – Unendlicher Spaß
Das Beste zum Schluss. Über Unendlicher Spaß wurde, glaube ich, schon alles geschrieben – und das Tolle ist, ich hatte nichts davon gelesen, bevor ich das eBook öffnete. Deswegen hatte ich wirklich keine Ahnung, worum es in dem Brocken von Buch ging, und ich musste auch erstmal 600 Seiten lesen, bevor ich es herausfand. (Mein eBook hatte 1899 Seiten, davon waren 500 Seiten Fußnoten.) Aber selbst, als ich ahnte, was der rote Faden im Buch sein sollte, war der nicht mehr als dünner Zwirn, während sich um ihn herum ein riesiges Wollknäuel aus Personen, Orten, Zeiten und Geschichten wickelte. Das kann man total langweilig und zugequatscht finden (völlig okay) – oder sich darauf einlassen.
Ich habe es beim Lesen mit einem dieser reizvollen Filme verglichen, die einen die ersten 20 Minuten im Unklaren lassen, aber nach und nach ordnen sich die Einzelteile und zum Schluss erkennen wir ein riesiges Panorama, gehen glücklich aus dem Kino und diskutieren mit der Begleitung noch mal die einzelnen Stufen der Story durch. Das Buch ist im Prinzip genauso – aber weil es eben so dick ist, kommt der Moment der Erkenntnis erst nach einer längeren Zeitspanne. Aber spätestens dann möchte man ganz dringend mit jemandem reden. Ich habe das zwischendrin des Öfteren auf Twitter erledigt.
Das mag jetzt doof klingen, aber ich glaube, es hat mir geholfen, dass ich einen ähnlichen Brocken, nämlich die Recherche, schon hinter mir hatte. Ich kenne also das Gefühl, sich gerade mitten in einer Handlung zu befinden, von der man überhaupt nicht weiß, was sie da soll, die man aber trotzdem bockig weiterliest, denn irgendeinen Sinn muss sie ja haben, sonst hätten Proust oder Wallace sie nicht aufgeschrieben, so, bäh. Und ähnlich wie die Recherche entwickelt Spaß irgendwann einen unwiderstehlichen Sog. Ja, es macht Mühe, das Buch zu lesen, ja, manchmal habe ich mich ein winziges bisschen gelangweilt, wenn es um eine Person ging, die ich nicht so spannend fand, aber dafür haben mich andere Textstrecken wieder entschädigt. Das Buch strotzt nur so vor Figuren und Storys, und alle bringen sie weitere Figuren und Storys mit, und je mehr man sich auf sie einlässt, desto weniger kommt man von ihnen weg. Irgendwann haben sie dich halt – jedenfalls hatten sie mich – und dann liest man eben 1899 Seiten und 500 Fußnoten, die teilweise nur aus einem Wort bestehen und teilweise aus seitenlangen Nebensträngen, ohne deren Lektüre man den Hauptstrang nicht mehr kapiert. Oder etwas weniger.
Darüber kann man sicher auch streiten, ob es an dem Werk überhaupt was zu kapieren gibt oder ob es nur das ist, was es sagt: Kanada und die USA sind in einer nicht näher definierten Zukunft nicht mehr das, was sie heute sind; zwischen ihnen befindet sich die Große Konkavität (was das ist, muss man erst herausfinden), es gibt eine Terroristengruppe in Rollstühlen (warum das nur Männer sind und warum sie im Rollstuhl sitzen, kommt ungefähr 200 Seiten vor Schluss), es gibt eine Tennis-Akademie, eine Radiostation, eine Einrichtung für Drogenabhängige, es geht um einen verstorbenen Regisseur (wie er starb, erzählt eine 50 Seiten lange Fußnote), dessen drei Söhne Hauptfiguren im Buch sind, es gibt die Mutter, eine Radiomoderatorin, die gleichzeitig eine Geliebte ist, einen ehemals Drogenabhängigen, der nun als cleaner Betreuer arbeitet, und das sind nur einige der Charaktere, um die sich viele, viele, viele Geschichten ranken. Ich mochte die erwähnte, nicht näher definierte Zukunft, in der die Jahre keine Jahreszahlen mehr tragen, sondern von Firmen gesponsert werden, weswegen sie so schöne Namen tragen wie „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche“ oder „Jahr der Milchprodukte aus dem Herzen Amerikas“. Ich mochte die vielen kleinen Sprachstückchen, die wie ein Wort klingen, das ich kenne, in Wirklichkeit aber knapp daneben liegen. (In diesem Zusammenhang: Hut ab vor dem Übersetzer.) Und ich mochte das Gefühl, dass man sich nie sicher sein konnte, irgendwas kapiert zu haben, denn die nächste Figur und die nächste Story könnten das alles wieder kippen.
Zurück zum Anfang des letzten Absatzes: Man kann das Ding sicherlich als überbordende Zukunftsmusik lesen. Man kann aber auch nach Motiven gucken, nach Themen, die mitschwingen, und dann wird aus dem Schmöker plötzlich das Suchtmittel, um das es geht: Es wird selbst zum unendlichen Spaß. Es ist selbst sein roter Faden und alles, worum es geht.
Spaß ist nicht ganz so plüschig wie die Recherche. Proust deckt einen gefühlt mit 3.500 Seiten zu und gibt einem einen Gute-Nacht-Kuss, während Wallace einem eher zwei Kilo Literatur auf den Hinterkopf haut und einen dann im Rinnstein liegenlässt. Ich habe das Buch nicht ganz so verliebt zugeklappt wie die Recherche, aber das Gefühl dabei war das gleiche wie bei Proust: das Wissen darum, etwas ganz Besonderes gelesen zu haben.
—
(Alle Links zu Amazon sind Affiliate Links.)