Konfettiwochenende
Morgens in den Zug nach Dresden gestiegen. Die ganze Zeit aufs Elbpanorama gefreut, das mich bei der letzten Anfahrt so begeistert hatte, nur um gut vier Stunden später festzustellen, dass entweder der Bahnhof oder die Elbe versetzt wurde oder dass ich beim letzten Mal aus einer anderen Richtung gekommen bin – kein Elbpanorama, keine Arme, keine Kekse.
Es sind zehn Grad mehr als in Hamburg, es ist stickig, gelbliches Licht liegt über der Stadt. Das Intercity-Hotel ist dafür auf Hamburger Verhältnisse runtergekühlt, ich bekomme ein Öffiticket in die Hand gedrückt, freue mich darüber und nutze es sofort, um mit der 8 oder der 9 in Richtung Zwinger/Semperoper/Grünes Gewölbe und was da noch alles rumsteht zu fahren. Tramfahren! Jeder Tag ist ein guter, an dem man Tram fahren kann.
Der Zwinger ist, im Gegensatz zum letzten Mal, schön voll. Zehn Euro zahlen, nur um zwei Raffaels anzugucken: ich. Im Stechschritt durch die flämischen Meister, ein hilfloser Blick an den Wänden entlang, schließlich frage ich: die italienische Renaissance? und werde freundlich in die richtige Richtung geschickt.
Ein kleiner abgetrennter Bereich weist auf die Sonderausstellung „Himmlischer Glanz“ hin: „Raffael malte die große, mehr als drei Meter hohe Altartafel der „Madonna di Foligno“ 1512, bevor er im gleichen Jahr von Papst Julius II. den Auftrag zur „Sixtinischen Madonna“ erhielt. Beide Gemälde standen also vor circa fünf Jahrhunderten mutmaßlich zeitgleich in Raffaels Atelier und werden jetzt erstmalig wieder vereint.“ Ich bin verzückt von den Engelchen der Sixtinischen Madonna, obwohl ich damit gerechnet habe, sie eher belanglos zu finden, weil ich sie von Keksdosen und Kitsch kenne, und verzaubert von den Farben der Madonna di Foligno. Alles ist erleuchtet.
Ein kleiner Bummel an den restlichen Exponaten vorbei, nichts, was mich fängt außer dem Heiligen Sebastian von Regnier, der ein ständiger Gast in Dresden ist. Wieder raus, ein dickes Lächeln im Gesicht, Zwinger, Semperoper, Grünes Gewölbe, wunderschön, das Licht, die Luft, nur gut gelaunte Menschen, und in 90 Minuten bin ich schon wieder hier, um mir Dvoraks Rusalka in der Inszenierung von Stefan Herheim anzuschauen.
Zurück ins Hotel und opernfein machen. Theoretisch. Die schwarzen Schuhe vergessen, weswegen ich zu schwarzem Hemd und Hose meine weißblaupinken Nikes trage. Der Dresscode der restlichen Besucher ist allerdings teilweise noch legerer, was mich erstaunt und erleichtert. Ein kurzer Einführungsvortrag erklärt mir, dass heute abend nicht Rusalka die Hauptperson ist, sondern der Wassermann: Er steht stellvertretend für „den Mann“, der sich mit „den Frauen“ auseinandersetzt, mit den Vorstellungen, die er von ihnen hat und damit, wie sie ihn damit kleinkriegen. Ich bin ein bisschen quengelig, weil ich mit dem üblichen Aufmarsch von Huren und Heiligen rechne, aber schauen wir mal.
Huren und Heilige habe ich dann auch bekommen, und so ganz überzeugt hat mich die Deutung nicht, aber scheißegal. Denn was ich noch bekommen habe: wieder einiges, was ich so noch nie in der Oper gesehen hatte. Schon der Anfang hat mich erwischt. Sonst so: Das Saallicht erlischt, die/der Dirigent_in kommt in den Orchestergraben, freundliches Klatschen, Stille, Ouvertüre, Vorhang hoch, los geht’s. Hier so: Das Saallicht wird gedimmt, bleibt aber an, der Vorhang geht auf, und die Handlung beginnt einfach mal ohne Musik. Und mittendrin geht sie dann los, ohne dass ich mitbekommen hätte, dass der Dirigent reingekommen ist. Und wie in Herheims Parsifal, der mich völlig fertiggemacht hat, passieren auch hier wieder lauter Dinge, die ich erst mitbekomme, wenn sie passiert sind. Außerdem tanzen Gummipuppen und Barhocker, Spiegel schieben sich vor Gebäude, eine U-Bahnstation ist ein Blumenladen, der Förster ist ein Kiffer, die Nixen schweben anstatt zu schwimmen, irgendwann tauchen Wasserwesen im Saal auf, und plötzlich regnet es rotes Glitzerkonfetti auf das Publikum. Ich muss mich beherrschen, nicht zwischendurch zu klatschen oder kurz mal „Ihr seid alle irre, aber meine Güte, macht das alles Spaß!” in Richtung Akteure und Akteurinnen zu brüllen, weil es so herrlich ist, so frisch und aufregend und überhaupt nicht märchenhaft-schnarchig, und gleichzeitig so poetisch und tieftraurig. Wundervolle Stimmen, tolle Inszenierung. In der Pause stehe ich mit Sektglas und Zur-Feier-des-Tages-Zigarette zwischen Oper und Zwinger, die nachts beleuchtet sind, gucke um mich rum auf die ganze Historie vor und hinter mir, atme tief ein und aus und ein und aus und bin glücklich.
Beim Rausgehen ein bisschen Glitzerkonfetti aufgehoben und ins Portemonnaie gesteckt.
Im Hotel Twitter nachlesen; viele Menschen haben die Nudeldicke Deern in der Post und freuen sich oder sie schon durchgelesen und freuen sich. Ich lese Tweets und freue mich noch mehr und poste die bekannteste Arie aus Rusalka.
Der nächste Morgen wirft mich früh aus dem Bett, ein Taxi bringt mich zum Flughafen. Der Taxifahrer weist mich auf das Elbpanorama hin, und ich bin versöhnt. Außerdem erzählt er mir, dass Dresden die höchste Geburtenrate Deutschlands habe. Kein Wunder. Hier scheint sich’s aushalten zu lassen.
Eine gute Stunde später bin ich in München, wo die Lufthansa uns launig ein „zünftiges G’suffa“ wünscht. Mein charmanter Begleiter und ich telefonieren erstmal 20 Minuten, bis wir uns gefunden haben. „Du musst links rausgehen!“ – „Welches links?“ Dann fahren wir in die älteste Brauerei der Welt, um zu frühstücken. Ich esse das erste Mal im Leben Käsespätzle zum Frühstück, verstehe den Kellner nicht, weil er eine Mischung aus kroatisch und bayerisch spricht, bin aber sowieso weichgekocht, weil wir die ganze Zeit mit Humtata aus dem Lautsprecher begleitet werden.
Der Spaziergang im botanischen Garten führt zur ersten Niederlage meiner Nordischkeit, als ich zugeben muss, dem bösen Münchener Regen nichts Adäquates entegegenzusetzen zu haben. Meine schnuffige Kapuzenjacke ist eine Memme, aber mein Begleiter hat nicht nur zwei Regenjacken, sondern auch noch einen Schirm dabei. Ich lerne erstaunt, dass es einen Lebkuchenbaum gibt, wir amüsieren uns über Zieräpfel in der Größe von Mirabellen und verstehen nicht, warum Rosen nicht immer Rosen heißen.
Auf der Autobahn beginne ich Musik zu schätzen, von der ich nie gedacht hätte, dass ich sie mag, was daran liegen könnte, dass sie herrlich laut ist, und Musik kann ja nie laut genug sein. Wir brüllen uns bis nach München an, ich bekomme eine Quasi-Stadtführung aus dem Auto heraus, die an der Säbener Straße endet, beim Trainingsgelände von Bayern München. Der Begleiter ignoriert die geschlossene Schranke, ich peer-pressure-Küken stolpere hinterher, und wir werden beide zu Recht von irgendeinem Aufpasser angeschnauzt. Der Verein ist mir sofort unsympathisch, aber das hält nur 30 Sekunden, bis ich durchs Fenster drei fette Europapokale erspähe.
Bei Kaffee und Käsekuchen werden dann bei ihm Stoppuhren ignoriert und Münchener Reiseführer gewälzt, wir diskutieren die Theorie, dass Frauen immer frieren („Frauen frieren nur, wenn sie nichts essen, und außerdem zieht dein Backofen.“ – „Ja, der ist ein bisschen psychotisch drauf.“), die größten kulturellen Errungenschaften, auf die wir nicht verzichten wollen („Bayreuth“ – „Champions League“), und dann ist es schon Zeit, um sich zur Kneipe aufzumachen, wo das Spiel Schalke-Bayern übertragen wird. Wir verteidigen tapfer unsere Plätze gegen allzu zutrauliche Menschen, Currywurst und Bier für ihn, Bier und Bier für mich, zweimal Torjubel, und ich verleihe Petersen den Ehrentitel Schnucki 2.
Die Zeit reicht kaum noch für einen anständigen Abschied, aber ich hysterische Zu-früh-am-Gate-Seierin habe Angst, den letzten Flug zu verpassen. Wieder alles richtig gemacht, denn die Gepäckschlange ist ziemlich lang, und ich bin zehn Minuten vor Boarding am Gate, wo gerade die Aufschrift blinkt, dass der Flieger eine halbe Stunde Verspätung habe.
Ich bin voll mit Eindrücken, Stimmen, Melodien (und Bier) und gucke nur noch still nach draußen ins nasse Dunkel. Ohne Musik auf den Ohren. Ohne Twitter zu checken. Ohne alles. Nur da sein und satt sein und glücklich sein.
Und ich habe jetzt immer Konfetti dabei.