Wenn ich 14 wäre, würde ich dafür Geld kriegen
Ich bin gestern das erste Mal ernsthaften Patentantenpflichten nachgekommen, denn die Mutter meines liebreizenden Patenkinds wollte auf einem Kirchenflohmarkt einkaufen – nicht nur für Emilia, sondern auch für das demnächst ankommende Geschwisterchen. Wie wir wissen, ist ein Flohmarkt nichts anderes als ein getarnter Sommerschlussverkauf, weswegen Mama beide Hände frei haben muss. Und wenn Papa sich beim ADC rumtreibt, muss sich halt die Patentante um 8 Uhr morgens widerwillig aus den Armen vom Kerl schälen, um um 8.50 Uhr das Kind in Empfang zu nehmen bzw. den Abschied von Mama zu übertünchen, die sich um Punkt 9 auf die Klamotten, Bücher, Spielzeuge und wasauchimmer stürzen möchte.
Ich war noch nie mit Emilia alleine, außer wenn sie geschlafen hat. Und deswegen war ich ein wenig nervös, denn ich kann immer noch nichts mit Kindern anfangen, ich will immer noch keine haben, und wenn ich ganz ehrlich bin, machen mir Kinder ein ganz kleines bisschen Angst. Einfach, weil sie mir noch nicht in bestem Hochdeutsch vermitteln können, was denn ihr Begehr sei. Wenn ich bei den Kindseltern Blumen gieße, bekomme ich von der Kindsmutter immer einen deppensicheren Plan, wie zu verfahren ist (nein, ich kann auch nicht mit Pflanzen). So eine Anleitung habe ich mir für gestern auch erbeten, aber anscheinend hat die Zeit nicht gereicht. Mir wurde nur gesagt, dass der Nemo-Ball uns gehört – andere Blagen auf dem kleinen Spielplatz an der Kirche dürften gerne damit spielen, aber ich solle bitte darauf achten, wo der Ball bliebe. Was zur Folge hatte, dass ich eher auf den Ball als auf Emilia geachtet habe. Außerdem wurde mir eine Tasche in die Hand gedrückt mit Getränken, Keksen, Taschentüchern, Emilias Lieblingsbuch und Windeln, deren Vorhandensein mich kurz erstarren ließ. Dann war Mama weg und Emilia guckte mich an.
„Ake“.
„Ja, genau, ich bin die Anke. Du kennst mich von tollen Geburtstagsgeschenken und Fotos, auf denen du an meiner Kreuzkette rumzerrst und mir die Mütze vom Kopf haust.“
„Ake.“
(Das wird die längste Stunde meines Lebens.)
„Mama.“
„Mama ist im Shoppingrausch, aber die kommt gleich wieder. Willst du auf das komische Pferdchen hier?“
„Mama.“
„Mama kommt gleich wieder. Mit nem Berg Ringelshirts vermutlich. Willst du mal auf das Bobby-Car dahinten?“
„Mama.“
„Mama kommt gleich wieder. Willst du mal den Ball haben?“
„Nemo.“
„Ja, das ist der Nemo-Ball. Wollen wir Ball spielen?“
Das Kind dreht sich wortlos weg, lässt den Ball liegen und geht in ein kleines Holzhaus, wo es aus dem Fenster guckt. Ake geht hinterher und guckt ins Fenster rein.
„Huhu!“
Da! Ein erstes Lächeln. Das probiere ich nochmal, das ging ja einfach.
„Huhuhuhuuuu!“
Sie lacht! Sie hat Spaß! Ich bin nicht komplett unbegabt in zwischenmenschlichen Beziehungen! Yay!
„Bus.“
„Ja, da ist ein Bus. Ein großer Bus.“
„Bus.“
„Ja, ein Bus.“ (Hoffentlich sieht mich keiner.)
„Bus weg.“
„Ja, jetzt ist der Bus weggefahren.“
„Auo.“
„Ja, das ist ein Auto.“ (This is a yellow bus. This is a red bus. Watch the yellow bus. Bzzz.)
„Auo ot.“
„Ja, das ist ein rotes Auto.“
Schweigen.
„Huhu!“
Und sie lacht wieder. Ake rennt in den folgenden zehn Minuten von Fenster zu Tür zu anderem Fenster, singsangt „Huhu“, und Emilia lacht. Dann läuten die Kirchenglocken, und Emilia kriecht aus dem Haus.
„Bimbim.“
„Ja, das sind die Glocken, die machen bimbim.“ (Verwirrt es sie, wenn ich anfange, bimbam zu sagen?)
„Ahn.“
„Ja, da ist ein Hahn oben auf der Kirche. Guck mal, der dreht sich.“
„Ahn.“
„Ja, das ist ein Hahn.“
„Bimbimbimbimbimbim.“
(Mama.)
Der Spielplatz wird voller. Um 9 Uhr durften zuerst die Schwangeren den Saal stürmen (ich habe einige Mütterpässe im Anschlag gesehen), bevor um 9.30 Uhr auch der Rest des Volks eingelassen wurde. Beziehungsweise weitere Frauen. Um mich herum tummeln sich inzwischen vier bis sechs Väter und mindestens zehn Kinder. Drei davon habe ich sofort als Arschlochkinder identifiziert, weil sie das Holzhaus mit Bobby-Cars verrammeln und Emilia nicht mehr rein kann. Ist ihr egal. Sie guckt weiterhin dem sich drehenden Wetterhahn zu, und ich suche mal wieder nach Nemo.
„Nemo.“
„Ja, das ist Nemo. Hier, hol den Ball.“ (Hol’s Stöckchen!)
Funktioniert auch. Ich klatsche in die Hände, wenn ich den Ball will, und nach wenigen Minuten macht Emilia das auch. Dann hält sie die Hände vor den Bauch, als ob sie ihn fangen will. Ich rolle den Ball zu ihr, bis er ihr an die Füße kullert, und sie hält weiterhin die Hände hoch. Erst wenn ich sage, dass ich den Ball möchte, löst sie sich aus dieser sehr putzig anzusehenden Stellung, hebt den Ball auf und wirft ihn mir zu.
„Ball.“
„Ja, das ist der Ball. Schön, dass du weißt, dass das Ding Ball heißt und nicht Nemo.“
„Mama.“
Emilia macht sich auf den Weg zum Eingang des Kirchengebäudes, wo sie Mama vermutet. Zwischen ihr und dem Eingang liegt ein kleines Schneefeld, das es zu durchstapfen gilt. Ich gehe neben ihr her, und auf einmal greift sie nach meiner Hand, um sicheren Tritt zu finden. Ich muss zugeben, dass ich so verfickt gerührt war wie selten, weswegen hier auch ein Kraftausdruck hinmuss, damit sich mein Uterus wieder beruhigt. Nach dem Schnee kommt fester Boden, und ich merke, dass sie verdammt schnell ist, wenn sie will. Ich kann sie gerade noch kurz vor der Tür schnappen, und weil mir nichts Besseres einfällt, nehme ich sie auf den Arm. Scheint ihr auch recht zu sein. Ihr Gesicht ist zehn Zentimeter von meinem weg, und sie guckt mich an.
„Ake.“
(Ich fang gleich an zu heulen. Welcher Idiot hat mich ausgerechnet am Tag meines Eisprungs zum Babysitten angeheuert?)
Ich hatte in den vergangenen Minuten Zeit, die Papas zu beobachten, wenn sie ihre Blagen auf dem Arm haben, und genau wie sie hüpfe ich jetzt mit Emilia in der Gegend rum und schaukele sie wild umher. Sie kreischt vor Vergnügen, und ich frage mich, warum ich die viel zu dicke Winterjacke angezogen habe. Ob ich ihren Apfelsaft trinken darf?
Ich setze sie wieder ab, und sie rennt schnurstracks zum Holzhaus. Gerne. Ich setze mich auf die Bank neben das Fenster im Haus und führe die gleiche Unterhaltung über Busse und Autos wie oben. Mal sehen, ob sie sich die Begriffe Mercedes, BMW, Golf und Ampelschaltung gemerkt hat, wenn ich sie wiedersehe.
Mein Handy klingelt. Der Kindsvater ruft aus Berlin an, um sich an meinem Schicksal zu weiden. Ich jammere erwartungsgemäß ein wenig, muss aber zugeben, doch irgendwie Spaß zu haben. Die Arschlochkinder wollen ins Haus, aber als sie die gackernde Emilia sehen, drehen sie ab. Und auf einmal ist Mama wieder da. Ich bin ein ganz kleines bisschen stolz, dass sich Emilia nicht sofort auf sie stürzt („Oh Gott, ich dachte, ich sehe dich nie wieder, sondern muss bei dieser seltsam ungelenken Frau aufwachsen”), sondern nur kurz „Mama“ sagt und dann „Bus weg“.
Wir packen die diversen Einkäufe in den familienfreundlichen Van („Mama art.“ „Ja, Mama arbeitet.“ „Ich glaube, sie meint, ich habe einen Bart“), verstauen Emilia im Kindersitz, verabschieden uns, und ich gehe zu meinem familienunfreundlichen Uralt-BMW. Ich fühle mich komisch. Komisch gut. Komisch, weil ich immer noch keine eigenen Kinder haben will. Aber gleichzeitig gut, weil sie anscheinend doch nicht so seltsam sind wie ich dachte. Wieder was gelernt. Ake schlau.