Saisonabschluss
Freitag, 18. Mai
Im Gomez-Trikot nach München. Eine Mitarbeiterin am Security Check am Hamburger Flughafen meint, sie drücke den Bayern die Daumen. Am Flughafen München warten die ersten Kamerateams schon an der Drehtür zwischen Terminal 2 und 1. Ich setze einen distinguierten Gesichtsausdruck auf und zupfe das Trikot noch mal hübsch. Die Angeber tragen ihre Presseausweise am Champions-League-Bändchen deutlich sichtbar um den Hals. Ich klettere neidisch in die S-Bahn, wo sich zwei Businesskasper darüber aufdotzen, dass die ganze Stadt am Wochenende mit Fußballfans voll sei. iPod lauter, langsam vorhibbeln.
Abend mit Gastgeber Kai alias @probek in der Innenstadt ein bisschen adidas-Werbung an der Fassade von Hirmer geguckt. Sieht auf YouTube schick aus, ist aber vor Ort ein bisschen lang und belanglos. Wir warten das Endergebnis nicht ab – hat Chelsea hier auch gewonnen? – und fahren wieder nach Hause.
Samstag, 19. Mai
Matchday. Wir beginnen den Tag im Olympiastadion, das ich noch nicht kannte und ich das ich mich spontan verliebt habe. Was für eine herrliche Anlage! Natürlich übersät mit Bayern-Fans, überall rote Trikots, Fahnen, gut gelaunte, entspannte Menschen. Um 12 Uhr findet ein All-Stars-Spiel statt – eine Weltauswahl gegen ehemalige Bayern-Spieler. Und so toll das Olympiastadion aussieht und so hübsch die Akustik der feiernden Fans ist – man sitzt irre weit weg vom Rasen. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Ur-Schnucki Fabio Cannavaro überhaupt mitgespielt hat. Immerhin habe ich Pierre Littbarski an seinen O-Beinen und Carsten Jancker an seiner Frisur erkannt.
Im Stadion treffen wir @GNetzer mit seiner Freundin, der schon sehr nervös wegen des kleinen Spielchens am Abend ist. Kais zweiter Gast Mathias (@bunkinho) ist auch da, genau wie Stefen (@fcblogin) und Gunnar (@Breisacher), die den Weg zu uns finden, indem Kai fünf Minuten lang seine mitgebrachte rotweiße Fahne schwenkt. „Siehst du uns jetzt? Jetzt?“
Nach dem Spiel trennen wir uns. Stefen, Kai und ich setzen uns in die Tram (Ich so: „TRAMFAHREN! TRAMFAHREN!”), um in den Augustiner Biergarten in der Nähe des Hauptbahnhofs zu kommen. Das letzte Stück gehen wir zu Fuß, wobei wir an einer Kneipe vorbeikommen, wo ein paar blau gekleidete Chelsea-Fans in der Tür stehen und auf den Stühlen davor sitzen. Einer von ihnen greift sich Kais Fahne, ich nehme sie ihm wieder ab, wir fangen uns ein paar Sprüche und gehen einfach weiter. Im Biergarten ist die Atmosphäre deutlich anders. Zwar sind von den ungefähr 5.000 Gästen 4.500 Bayern-Fans, aber die blauen Grüppchen feiern genau wie die roten entspannt aneinander vorbei. Und manchmal schüttelt man sich auch die Hände.
(Foto von @fcblogin, danke.)
Wir essen Steckerlfisch und trinken Radler (ich werde jedesmal höflich, aber bestimmt korrigiert, wenn ich „Alster“ sage). Zwischendurch müssten wir theoretisch aufstehen und singen, weil immer irgendwer Bayern-Fangesänge anstimmt oder den Klassiker „Steht auf, wenn ihr Bayern seid“ bringt. Und da beginnt meine Zwiespältigkeit, was das Konstrukt Fußballfan angeht. In der Arena brülle ich gerne alberne Schlachtrufe und stehe auch auf, wenn man das von mir erwartet, weil ich im Trikot im Stadion eben ein Bayer bin. Aber im Biergarten bin ich Anke, die Fisch essen und Radler trinken will. Ich kann absolut verstehen, warum die halbe Stadt von den Fußballfans genervt ist, denn gerade in der Masse sind sie des Öfteren einfach nur anstrengend, und wenn man Pech hat, auch noch bedrohlich. Und auch wenn ich außerhalb des Stadions das Trikot trage, muss ich nicht dauernd „Stern des Südens“ anstimmen – dafür habe ich jetzt ja auch eine Ente, danke, Kai – oder grölend durch Innenstädte ziehen.
Nach einem kurzen Sabbern bei Dallmayr („Haben die noch was außer Kaffee und Pralinen?“ – „Anke! Wir gehen da mal kurz vorbei! Ts. Kaffee und Pralinen. Unglaublich.“) geht es per S-Bahn für Kai und mich dann wieder nach Hause, während Mathias in die Arena fährt. Kein Public Viewing, keine Arena für uns, sondern das Sofa. Ich persönlich bin keine Freundin davon, mit 30.000 Leuten auf eine Leinwand zu starren, und auch wenn die Stimmung wahrscheinlich ausgelassener ist als im „eigenen“ Wohnzimmer, sind mir ein großer Fernseher, Bier in Griffweite und ein ungeteiltes Klo doch lieber.
Bevor das Spiel losgeht, gönne ich mir allerdings ein bisschen Kontrastprogramm. Die Bayerische Staatsoper streamt ab 19 Uhr eine Oper live und zwar Bellinis I Capuleti e i Montecchi, das auf Shakespeares Romeo und Julia beruht. Der Twitterer des Opernhauses weiß ganz genau, gegen wen sie anspielen und twittert daher grandioserweise:
(All my hearts are belong to you.)
Um 20 Uhr muss ich die Oper allerdings abbrechen, weil ich nur noch rumhibbele und dauernd zum Fernseher gucke, wo sich SAT.1 seit Stunden einen Wolf sendet. Ich verfolge die Mannschaftsbusse auf dem Weg in die Arena, die Aufstellungen, die Hymne, alles egal, ich esse atemlos Erdnussflips und vergesse völlig zu twittern. 88 Minuten lang glaube ich, dass wir den Pott in der Stadt behalten. Und dann sind irgendwann 120 Minuten rum und dann werden Elfer ge- oder verschossen und dann ist Schluss.
Von irgendeiner WM ist mir ein Bild im Gedächtnis geblieben: ein weiblicher italienischer Fan, der nach der Niederlage seiner Mannschaft noch im leeren Stadion sitzt, im blauen Trikot, in eine Fahne gehüllt, mit rotweißgrünen Streifen im Gesicht. Sie weint. Und ich habe mich jahrelang gefragt, wie man wegen eines Fußballspiels – eines Spiels! – weinen kann. Bis ich Didier Drogba dabei zusehe, einen Elfmeter an Manuel Neuer vorbeizuschieben. Im Moment des Abpfiffs bin ich leer. Fassungslos. Traurig. Und plötzlich sind die Tränen da, und ich denke noch, wie albern ist das denn, aber ich kann nichts dagegen tun.
(„Barcelona“)
Sonntag, 20. Mai
Der Abend wird zur Nacht. Wir sitzen zu dritt bis fünf Uhr morgens in der Küche und reden über Fußball, die Bayern, Fußball, die Bayern, Fußball, die Bayern und dann über Fußball und die Bayern. Kurz geschlafen, geduscht, und beim Frühstück geht das Gespräch weiter über Fußball, die Bayern, Fußball, die Bayern und außerdem noch über Fußball und die Bayern. Mein Weg zum Flughafen führt über einen weiteren Biergarten, diesmal der Hirschgarten. Wir sitzen zu dritt in Kais Auto, zwei von uns tragen Trikot (jetzt erst recht), am Fahrzeug weht ein Bayern-Wimpel. An einer Ampel beugt sich ein Radfahrer zu uns ans geöffnete Fenster: „War Pech.“ Wir nicken dankbar für die Anteilnahme. An einer Kreuzung steht uns jemand im Trikot gegenüber: Er zuckt mit den Schultern, „was soll man machen?“ Wir zucken auch und gehen was trinken. Ich kriege wieder ein Alster – „RADLER!” – und wir reden über französische Philosophen und Kochrezepte. Nein, Quatsch, wir reden über Fußball und die Bayern.
Und genau deshalb wollte ich die Saison in München beenden. Am liebsten hätte ich gefeiert, aber nun gut. Jetzt, bei der Niederlage, hätte mich meine Timeline zwar auch getröstet, aber nicht so. Ich wäre den Sonntag über auch in Hamburg brastig und/oder traurig gewesen. In München hatte ich aber das Gefühl, nicht allein zu sein mit diesem seltsamen Gefühl, an etwas zu leiden, an dem ich objektiverweise nicht leiden müsste, wenn ich nicht wollte. Im Biergarten sitzen noch weitere Menschen im Trikot, eine rotweiße Fahne weht, und ich frage Kai, wie lange das denn erfahrungsgemäß dauert, bis eine Champions-League-Finalniederlage nicht mehr so weh tut. „Och, nur ein paar Jahre.“
Ja dann.
Nach der Saison ist vor der Saison. Hallo, 2012/13. Und: Geh weg, EM.