November-Journal, 7. bis 9.11.2012
Dienstag
Porträtkurs. Clevere Idee von Menschen, sich dem christlichen Bilderverbot zu widersetzen („Du sollst dir kein Bildnis machen yada-yada-yada“, weswegen Porträts seit der Christianisierung ein totales No-go in Mitteleuropa sind): Man stiftet der Kirche einen Batzen Geld oder ein Landgut oder gleich ne Kirche und kriegt dafür zunächst eine Urkunde. Dann eine Inschrift, vielleicht am Altar. Dann ein winziges Bildnis, auch am Altar. Und irgendwann sind wir beim sogenannten Stifterbild, in dem der Stifter sich mit kirchlichen Würdenträgern oder sogar Herrn Jesus persönlich im Bild befindet.
Wir hörten von Kaiser Justitian und seiner Gattin Theodora, die Mitte des 6. Jahrhunderts vermutlich als erste in einem Stifterbild erscheinen, und von Papst Pascalis, der sich mal eben in der Apsis von Santa Prassede neben Jesus und ein paar Heilige gestellt hat. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht rumzuquietschen, denn diese Kirche hatten wir auf unserer Romreise besichtigt (18. Mai), und der Papst hat genau diesen lustigen blauen eckigen Heiligenschein, der mir damals schon aufgefallen ist (nicht an ihm). Wie toll. Dann kamen noch andere tolle Bilder und dann ein ganz tolles – bzw. ein tolles Kunstwerk, nämlich der Genter Altar von Jan van Eyck.
Der wurde von Jodocus Vijd und seiner Gattin gestiftet bzw. die beiden sind unter anderem zu sehen, und zwar knien sie neben zwei Heiligen. Das Besondere: Die Heiligen sind als Skulptur dargestellt, was van Eycks sehr früher Beitrag zum Paragone ist, dem Wettstreit, ob Bildhauerei oder Malerei nun die tollere Kunst sei. Wenn ich mich richtig erinnere, sind beide gleich toll, aber jetzt beim Aufschreiben bin ich mir nicht mehr sicher. Egal. Toller Altar.
Beim Stichwort „Paragone“ höre ich sofort die Stimme unsere Dozentin, die glaubt, wir seien alle im 8. Semester, denn sie sagt ständig „Kennen Sie ja, wissen Sie ja alles“, und wir gucken verstohlen um ums rum und schütteln vorsichtig die Köpfchen.
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Danach zum Telekom-Laden, um Internet zu bestellen. Danach zu Ikea, um Möbel zu bestellen. Danach zum temporären Mitbwohner, der mit einem Festessen aufwartete. Wobei ich bei Muscheln immer so nach zehn Stück das Gefühl habe, reicht jetzt mit meinen Verwandten (Sternzeichen Fisch), da setzt dann immer ein leichter Widerwille gegen das Zeug ein. But look how pretty.
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Mittwoch
Erste Vorlesung Musikgeschichte, mein Lieblingskurs. Ein begeisterter Professor, der zwischendurch singt und Noten an die Wand wirft und Tonbeispiele raushaut – oder schwungvoll die Abdeckung vom Flügel auffächert als wär’s ein Musketier-Mantel, sich ans Instrument setzt und mal eben vom Blatt ein bisschen Bach spielt. Nein, der andere Bach.
In Kunstgeschichte lernte ich, die riesengroße Monsterabtei von Cluny zu vermissen, die ich nie gesehen habe und auch nie sehen werde, weil nur noch klägliche Reste davon rumstehen. Die zur Vorlesung gehörige Übung musste ich leider ausfallen lassen, weil ich sonst nicht rechtzeitig ins Stadion gekommen wäre.
Danach in charmanter Viererrunde am Küchentisch bei den traditionellen White Russians versackt.
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Donnerstag
Nie wieder White Russians. Sehr müde gewesen, natürlich brav zur Uni gegangen, denn die Messe der Renaissance wartete. Und mit ihr Introitus, Kyrie, Gloria, Oratio, Graduale, Alleluja, Credo, Sanctus, Agnus Dei und Ite Missa Est. Und noch ein paar weitere lustige Vokabeln, die mich kurz seufzen ließen, dass ich nicht katholisch bin, denn dann wäre ich mit dem Kram vielleicht halbwegs groß geworden. Nach ein paar Klangproben ging ich beseelt zu den Skulpturen der Romanik, dem einzigen Kurs, mit dem ich etwas auf Kriegsfuß stehe, denn der Dozent hat ein recht einschläferndes Timbre. Der Raum war abgedunkelt. Es war warm. Ich war müde. Und für eine Sekunde gab ich mich Morpheus’ Armen hin und merkte, dass ich im Sitz runterrutsche. Danach waren meine Augen Clockwork-Orange-weit offen, ich änderte alle zehn Sekunden meine Position, um bloß nicht noch mal einzunicken und freute mich sehr auf die frische Luft im Innenhof vor dem nächsten Kurs.
Der war dann Beethovens Klaviertrios, die wir in diesem Semester analysieren. Zu gestern sollten wir uns das Op. 1 in Es-Dur zu Gemüte führen. Ich habe Stunden am Küchentisch inmitten von vielen Fachbüchern, Ausdrucken und Google verbracht, um mich 200 Takten Musik zu widmen, denn blöderweise ist dieser Kurs ein Vertiefungskurs. Das hatte ich in der Hektik OMG BEETHOVEN! total übersehen, und jetzt sitze ich in einer kleinen Runde von Fünfsemestern und stelle Fragen wie: „Was ist denn eigentlich ein Klaviertrio?“ In den letzten zwei Wochen habe ich mir viel erkämpft und daher jetzt das Gefühl, 200 Vokabeln auswendig zu wissen – aber keinen einzigen Satz sagen zu können.
Umso spannender war die gestrige Sitzung. Natürlich wurde ich gefragt, was ich denn so zu bieten hätte, denn ich bin mit meinen minderbemittelten Ausführungen immer ein guter Ausgangspunkt. Diesmal konnte ich immerhin triumphierend zeigen, wo das erste Thema anfängt, wo das zweite und dass das zweite total schnafte auf der Dominante beginnt, wie es sich für einen anständigen Sonatensatz gehört (die Trios von Beethoven sind im Sonatensatz geschrieben). Mein Lieblingswort von gestern war „Mannheimer Rakete“, was ich dringend im nächsten Small-Talk unterbringen will. Und ich habe mich noch mehr in den Dozenten verknallt: