Brainiac
Gestern im Seminar „Die Anfänge der Porträtmalerei im 14. und 15. Jahrhundert“ hörten wir spannende Dinge über unter anderem Pisanellos Porträt des Leonello d’Este von 1441. Das sieht so aus:
Ich mag die Kodderschnauze unserer Dozentin sehr, die gerne mal mitten im Referat laut äußert, dass manche Kunsthistoriker aber auch total beknackte Theorien entwickelt hätten. „Auf was für Ideen die Herren manchmal kommen. Naja. Aber machen Sie mal weiter, bitte.“ Gestern hatten wir wieder eine solche Theorie.
Am Hof der Este war man Anhänger des neu entstandenen Humanismus und erinnerte sich an die Antike, die als Norm für viele Lebensbereiche gelten sollte. Leonollo ließ sich daher im Profil abbilden, ganz wie die antiken Herrscher auf ihren alten Münzen, und nicht im 3/4-Profil, wie es nördlich der Alpen um die Zeit schon Usus war. Auch hier konnte die Dozentin sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: „Es heißt ja immer, die italienische Renaissance wäre der Ausgangspunkt für quasi alles gewesen; vor Dürers Reise nach Italien hätte Nordeuropa noch keine Ahnung von anständiger Malerei gehabt. Das müssen Sie sich abschminken, dass alles mit den niedlichen Raffael-Bildern angefangen hat.“ Frau Gröner fasste sich an ihre kleine Nase und hörte weiterhin aufmerksam zu.
Das Lustige an unseren Referaten ist, dass wir so ziemlich alle keine Ahnung haben. Die meisten von uns sind im ersten Semester und vertrauen daher der Literatur, die wir so finden. Was bleibt uns übrig? Daher brachte die Referentin gestern auch im Brustton der Überzeugung die Idee vor, dass die seltsame Kopfform ein Hinweis auf die besondere Klugheit des Herrschers sei – Pisanello habe das Gehirn (!) des Fürsten betonen wollen. Woraufhin die Dozentin den oben zitierten Satz brachte und launig fragte, ab wann denn die Menschen überhaupt wussten, wie ein Gehirn aussähe. Ich erinnerte mich an Michelangelo und dass der lustig an Leichen rumgeschnippelt hatte, um die Muskeln zu sehen, die unter der Haut spielten und die Bewegungen erzeugten, die er darstellen wollte. Der Kurs war der gleichen Meinung – „so ab 1500?“ – und lag fast richtig: Leonardo da Vinci hatte sich schon vor Michelangelo für unser Gewebe interessiert. Pisanello aber noch nicht. Und von diversen niederländischen Gemälden kennen wir diese hoch anrasierten Schläfen, den ausrasierten Nacken und sogar die rasierte Stirn auch schon. „Der Gute hatte einfach viele Locken, und deswegen bauscht sich das bei ihm eben so. Aber nein, das ist nicht sein Gehirn, das behaupte ich jetzt einfach mal so.“
Ein weiteres Bildnis des Fürsten findet sich übrigens auf ebenfalls von Pisanello angefertigten Medaillen, auch so ein wiederentdecktes antikes Ding. Von Leonello gibt es fünf Medaillen, die an andere Höfe verschenkt wurden. Die Vorderseite ist stets sein Porträt, aber auf der Rückseite finden sich verschiedene Darstellungen. In der italienischen Wikipedia sind sie zu sehen, und laut der Referentin, die hier unwidersprochen blieb, können wir uns nur noch auf eine Rückseite einen Reim machen. Auf dieser Medaille sehen wir einen nackten jungen Mann in einer Art Busch liegen, und hinter ihm befindet sich ein Gefäß. Laut der Literatur, die ich hier wild aus dem Gedächtnis zitiere, spielt dieses Motiv auf die Vergänglichkeit des Körpers an, der nur ein Gefäß für unsere unsterbliche Seele ist. Kurz vor der Erstellung der Medaille hatte Este seine erste Frau verloren und beschäftigte sich seitdem mit Fragen zum Leben und zum Tod.
Alle anderen Medaillen bleiben uns verschlossen. Wir wissen nicht einmal, ob die damaligen Empfänger etwas mit ihnen anfangen konnten, aber: Das sollten sie auf jeden Fall. Ein beliebtes Spiel unter humanistisch eingestellten Menschen war es, sich derartige Rätsel aufzugeben. Doof, dass wir auch nach 500 Jahren noch keine Lösung gefunden haben, obwohl sich diverse Kunsthistoriker_innen bereits daran versucht haben, allen voran Aby Warburg. Ein Name, den ich fast jede Woche höre, zusammen mit Wölfflin, Morelli und Panofsky. Überhaupt erstaunlich, was in doch recht kurzer Zeit schon alles im Kopf hängengeblieben ist und unwillkürlich lustige neue Bahnen zu anderen Dingen knüpft, die da schon rumliegen wie Michelangelo-Biografien oder altdeutsche Malerei. Toll.