„Und, Anke, wie war so dein erstes Semester?“

Ich habe gelernt, dass es gar nicht schlimm ist, 20 Jahre älter zu sein als der Rest des Kurses, weil ich in so gut wie allen Kursen nicht die einzige meiner Altersklasse war – und in einigen Kursen gab es auch Vertreterinnen, die altersmäßig über mir lagen. Gasthörer und -hörerinnen gingen mir allerdings fast ausnahmslos auf den Keks, vor allem, wenn sie a) 70 Prozent aller Teilnehmenden ausmachten, b) sich mit genau diesen Prozent unterhielten und c) das direkt hinter mir, während ich versuchte, dem Dozenten zuzuhören. Trotzdem ahne ich, dass ich in 20 Jahren genau da sitzen werde wo jetzt meine Nervensägen sitzen und zwar in Germanistik- und Philosophieseminaren. Und dann erzähle ich auch allen, wie schön es 2025 in Florenz war.

Ich habe gelernt, wie entspannt ich bei Referaten, Protokollen und Klausuren bin. Ich kann vor Kunden reden, dann kann ich das auch vor Kommilitonen und Kommilitoninnen. Ich kann so ziemlich über alles schreiben, dann auch über Beethoven, den Sonatensatz und was E.T.A. Hoffmann Schlaues zum Trio Op. 70,2 sagt. Und ich löse freiwillig jedes Onlinequiz, das mir über den Weg läuft, dann ist der Schritt zur Klausur geistig auch nicht so groß. Ich war etwas nervös vor der ersten Klausur, weil ich ihre Form noch nicht kannte, die Art, wie gefragt wurde, aber das legte sich nach 30 Sekunden, und vor der zweiten war ich ziemlich tiefenentspannt. Außerdem bin ich, ganz genau wie vor 25 Jahren, immer noch viel zu früh fertig. In der Schule habe ich die Sechs-Stunden-Klausuren nach vier abgegeben, heute war ich mit der 30-Minuten-Klausur nach zehn durch.

Ich habe gelernt, dass die Generation der 20-Jährigen, die grad an der Uni sitzt, alles andere als doof und ungebildet ist. Manchmal ein bisschen verstrahlt, was Alltagsanforderungen angeht, aber wenn ich mir meine Twittertimeline angucke (auch meine eigene), ahne ich, dass das nie aufhört.

Ich habe gelernt, dass ich locker 90 Minuten lang jemandem zuhören kann, solange es hell und kühl genug ist. Falls das nicht der Fall ist und der Dozent dazu auch noch über relativ wenig Modulation verfügt, kann es sein, dass ich trotz allem Interesse am Stoff einschlafe. Aber nur kurz! Und nur einmal! (Wo wir grad dabei sein: Ich bin auch schon mal in der Oper eingeschlafen. Bei Wagner. Jetzt isses raus.)

Ich habe gelernt, wie vielfältig die Darstellungsmöglichkeiten eines menschlichen Gesichts sind und wie unterschiedlich die christliche Ikonografie sein kann. Ich habe meine Liebe zu Botticelli und Dürer vertieft und die zu van Eyck und Memling entdeckt. Ich wollte wegen der Renaissance studieren, aber als sie endlich in der Vorlesung dran war, wäre ich viel lieber in der Gotik geblieben. Ich weiß jetzt, dass die Romanik kein grober Klotz ist, sondern voll naiver Schönheit, dass die Gotik nicht nur riesengroß ist, sondern auch zart und filigran, dass sich Italien von den Niederländern doch noch ne Scheibe abschneiden kann und dass auch in Deutschland ganz hübsch gepinselt wurde.

Ich habe gelernt, Haydn und Mozart zu schätzen und stehe weiterhin fassungslos vor Beethoven. Ich kenne Septakkorde und weiß, dass die irgendwo hinwollen und finde Variationssätze toller als andere. Ich weiß jetzt, dass man auch im wissenschaftlichen Umgang mit Musik über Gefühle reden kann oder was Stücke mit einem machen. Ich weiß jetzt allerdings auch, wie mathematisch Musik ist, was sie mir einerseits unheimlich macht und andererseits total neugierig auf moderne Musik, denn die lässt sich ja von keinem Fach mehr was sagen.

Ich habe gelernt, dass mich alles interessiert, solange die richtige Person es mir erzählt. Ich habe im Vorlesungsverzeichnis fürs nächste Semester schon einige Kurse nach Dozent ausgesucht, weil mich der jeweilige Mensch und seine Vortragsweise so faszinieren, dass ich mir alles von ihm oder ihr anhören würde.

Ich habe gelernt, wie gerne ich lerne.

Die häufigste Frage, die ich von meinen Kollegen und Freundinnen in den letzten Monaten gehört habe, war: „Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“

Und meine Antwort war nach einer Woche die gleiche wie jetzt nach vier Monaten: „Es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Nur noch viel toller.“