Die Hübschheit von Häusern
Eine meiner Einführungsvorlesungen im 1. Semester hieß „Kunstgeschichte I: 500 bis 1500“. Als der Kurs begann, war ich verwirrt – wieso sprachen wir über die karolingische Pfalzkapelle in Aachen und romanische Kirchen in Frankreich? Bis mir einfiel, ach ja, über Architektur sollte man als Kunsthistorikerin wahrscheinlich auch ein bisschen Bescheid wissen. Wochenlang sehnte ich mich nach Bildern, aber als sie dann endlich dran waren, wollte ich gar nicht mehr aus der Gotik weg. Die blöden Kirchenbauten hatten mein Herz komplett erobert, und seitdem gehe ich mit einem anderen Blick durch unsere Großstädte.
Eine unserer Dozentinnen meinte, wie sollten uns einfach mal vor ein Gebäude stellen und uns selbst erzählen, was wir sehen. Damit ging ich dem charmanten Begleiter des Öfteren auf die Nerven, wenn ich bei Schneesturm kurz vor einer Kirche innehalten musste, um mir selbst zu erzählen, dass ich eine Ädikula sehe und so Pseudomaßwerkfenster. Ich ging auch unbekannten Mitmenschen auf die Nerven, indem ich auf dem Weg zum Kino am Odeonsplatz aus der U-Bahn stieg, wie immer einen Blick in Richtung Residenz warf – und eines Tages wie vom Donner gerührt stehenblieb, denn OMG sieht die Residenz aus wie ein italienischer Renaissancepalast oder was? (Wie zum Beispiel der hier.) Was die Dame, die in mich reinlief, weil ich spontan stehenblieb, wahrscheinlich weniger interessiert hat. Vor einigen Tagen ließ ich meinen Bus an mir vorbeifahren, weil ich noch nicht fertig war, mir die Fassade des Hauses, das der Bushaltestelle gegenübersteht, selbst zu erzählen. Und überhaupt gucke ich inzwischen an jeder Bushaltestelle nicht mehr in mein iPhone, sondern an die Häuserwände gegenüber und um mich rum.
Beim Lernen für die Klausuren zur Kunstgeschichte und zur Romanik (das war mein zweiter Kurs: Romanische Skulptur in Frankreich) habe ich die Schönheit dessen, was ich gerade lerne, etwas aus den Augen verloren. Im Mittelpunkt stand da schlicht, mir Zeug zu merken, wo steht was und warum ist das toll. Erst als die Klausuren vorbei waren und ich meine ganzen ausgedruckten Bildchen in eine Mappe warf und das dicke Romanikbuch zuklappen wollte, habe ich gemerkt, wie sehr mich die ganzen Klötzchen faszinieren. Wie verliebt ich in die Skelettbauweise und das Strebewerk einer gotischen Kathedrale bin, wie filigran und schwebend die Bögen aussehen, die außen das Bauwerk zusammenhalten, wie zielgerichtet und übermenschlich hoch die Bögen, die innen das Dach spannen. Wie wunderschön das Licht durch die Fensterrose fällt (Abt Suger in St. Denis: „lux mirabilis et continua“). St. Denis ist die erste gotische Kirche und in ihr sieht man schon, wie sehr sie sich von den romanischen unterscheidet: in der Helligkeit. Die Menschheit hatte inzwischen gelernt, wie man Wände bauen kann, in denen sich große Fensterflächen befinden. Und dieses Licht, verbunden mit der Höhe der Kirchen und ihren nicht enden wollenden Säulen und Pfeilern, fasziniert mich bei jedem Bild. Amiens ist meine liebste Kathedrale, aber Reims liegt fast gleichauf in Sympathie.
Die meisten der Links im Artikel führen zu Mapping Gothic France, eine Website, dir mir gestern von Marguerite Joly empfohlen wurde, die sie ihrerseits bei @bethrharris gefunden hatte. Noch mal danke dafür, denn seitdem spaziere ich breit grinsend durch Frankreich und piepse wehmütig, wenn eine Fensterrose besonders hell leuchtet oder die Spitzbögen ganz besonders weit nach oben reichen.
Ein weiterer dummer Nebeneffekt, außer dem, dass ich überall rumstehe und Menschen in mich reinlaufen, ist, dass ich dringend nach Frankreich und Italien fahren will, um mir alles „in echt“ anzuschauen. Da falle ich wahrscheinlich auch nicht übermäßig auf, weil da überall Touristen und Touristinnen rumstehen, während jemand in sie reinläuft. Auf dem Wunschzettel stehen Autun, Vézelay, Florenz, Amiens, Straßburg … oder vielleicht doch erstmal nach Köln? Da hängt im Dom immerhin das Gero-Kreuz, in das ich mich auch verliebte und an dem ich den schrägen Begriff des „Viernageltypus“ lernte. Ich arbeite daran. Aber erstmal spaziere ich weiter virtuell durch ein paar Spitzbögen.