Les Misérables

Les Misérables, UK 2012, 158 min
Mit: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Eddie Redmayne, Amanda Seyfried, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter, Aaron Tveit, Samantha Barks
Musik: Claude-Michel Schönberg
Kamera: Danny Cohen
Drehbuch: William Nicholson & Alain Boublil (Drehbuch); Alain Boublil (Libretto der Bühnenfassung) nach einem Roman von Victor Hugo
Regie: Tom Hooper

Trailer

Offizielle Seite

Räumen wir erstmal den Elefanten aus dem Raum: Ja, Anne Hathaways Version des totgehörten Schmachtfetzens „I dreamed a dream“ hat jeden Preis verdient, der irgendwo rumsteht. Ihre Nummer überstrahlt alles, was der Film sonst noch aufbietet, und oh dear God gibt er sich Mühe, ne Menge aufzubieten. Das klappt manchmal sehr gut, manchmal gar nicht, aber trotzdem: Alleine für die drei Minuten Hathaway lohnen sich auch die restlichen 155. Auch wenn sie gerade im dritten Akt sehr, sehr lang werden.

Die Geschichte liest sich bitte jeder in der Wikipedia durch, und ich gehe davon aus, dass viele, die diese Zeilen lesen, das Ding auch schon auf der Bühne gesehen haben. (Wenn nicht: WARUM NICHT?) Der Film hält sich sehr brav an die Musicalvorlage – warum auch an einer Erfolgsformel rumdrehen? Das Dumme ist nur: Auf der Bühne verzeiht man die übergroßen Gesten dann doch mal, denn die müssen schließlich auch noch in Reihe 35 ankommen. Auf der Bühne darf es von mir aus vor Pathos tropfen, und da mag ich es auch gerne, wenn die Damen und Herren mit der klassischen Musicalausbildung genauso klingen.

Im Film ist das anders, und genau deswegen hat mich Frau Hathaway so umgehauen. Dass die Lieder live am Set eingesungen wurden, dürfte auch schon jeder mitbekommen haben, und das rettet den Film meiner Meinung nach auch davor, komplett im oben erwähnen Pathos zu ertrinken, obwohl er von der Story her natürlich dafür prädestiniert ist (Liebe! Rache! Barrikaden! Tod! Revolution! Und noch mal Liebe! Ta-daaaa!) Das Live-Singen gibt den Schauspielern und Schauspielerinnen nämlich die Möglichkeit, ihre Songtexte wie Dialogzeilen zu behandeln und sie mit der gleichen Empathie von sich zu geben, wie sie es mit einem gesprochenen Text machen würden. Meine Gesangslehrerin hat immer einen guten Tipp parat, wenn ich – gerade bei solchen Krachern wie dem von Hathaway oder dem weiteren Les-Miz-Evergreen „On my own“ – mal wieder die großen Gesten auspacke und imaginär eine Showtreppe runterkomme: „Erzähl mir einfach, wie’s dir geht.“ Also eben nicht die Showtreppe runterkommen, wenn ich eine verliebte Frau im regnerischen Paris bin, die weiß, dass der Kerl, den sie liebt, eine andere toll findet. Stattdessen eben die verliebte Frau sein, die vor sich hinträumt, ganz leise, dann verzweifelt, weil sie weiß, dass sie ihn nie haben wird, und dann resigniert, weil sie es langsam einsieht. Wenn es einem so geht, kommt man keine Treppe runter, sondern umklammert vielleicht seine Knie, während man schlimme Musik hört und gleichzeitig – bei guter Körperbeherrschung – noch einen Becher Ben & Jerry’s erledigt oder wahlweise eine Flasche Wein. Aber da hat man keine großen Gesten drauf, sondern ist bei sich und sehr alleine. Und genau das kriegt Hathaway hin, die einsehen muss, dass ihr Traum von einem guten Leben aber sowas von an die Wand gefahren wurde (“Now life has killed the dream I dreamed”). Und das singt sie, als ob sie es der Weinflasche erzählen würde, nur mit so schmerzhafter Intensität, dass ich meinem Make-up schon nach zehn Sekunden „Auf Wiedersehen“ gesagt habe. Sie greift nie zu dieser typischen Musicalstimme, die natürlich weiß, wann die Noten kommen, die das Publikum endgültig rumkriegen. Das hat sie gar nicht nötig, denn sie hat dich eben nach zehn Sekunden.

Wie gut sie ist, lässt sich an „On my own“ messen, der Bravournummer von Éponine (Samantha Barks). Die Dame ist Musicalsängerin und keine Schauspielerin wie ihre vielen Kollegen und Kolleginnen am Set – und das killt diese Nummer. Denn sie macht genau das, was Hathaway nicht macht: singen, als ob sie auf einer Bühne steht. „On my own“ hat musikalisch einen ähnlichen Verlauf wie „I dreamed a dream“ – nach Einleitung, Strophe und Break kommt irgendwann der klassische Weg nach oben, die große Showstopper-Note … und dann der leise, in beiden Fällen verzweifelte Ausklang. Und was einem bei Hathaway das Herz bricht, entlockt einem bei Barks nur ein müdes Ochjo. Das kann allerdings auch an der Inszenierung liegen, und damit komme ich endlich mal zu den Bildern. Die sind nämlich gerade bei „On my own“ von einer nachlässigen Einfallslosigkeit, wie es banaler kaum geht. Bei der Liedzeile „Sometimes I walk alone at night / When everybody else is sleeping“ schlendert sie einsam über einen schäbigen, dunklen Platz (ach was) und natürlich regnet es, denn kurz darauf erklingt ja „In the rain / the pavement shines like silver“. Schnarch. Hathaway hat die ganze Leinwand für sich gehabt, wir sehen nur ihr Gesicht, das jede Regung des Songs bravourös widerspiegelt – und die arme Barks darf durch die üblichen Pariser Pappkulissen laufen wie so viele Schultheater-Éponines vor ihr. Das haben weder der Song noch sie verdient, auch wenn ich sie von allen Darstellern und Darstellerinnen am schwächsten fand.

Wer mich dagegen extrem positiv überrascht hat, war Russell Crowe. Im Trailer fällt seine Art zu singen, völlig raus, und nachdem ich die Ausschnitte gesehen hatte, wollte ich den Film kaum noch sehen. Gut, dass ich es trotzdem getan habe, denn der Mann ist großartig. Wie Hathaway spricht er singend, und jeder Satz hat mich überzeugt. Seine übliche grumpycatige Mimik tut ihr Übriges – Crowe ist ein wunderbarer Bösewicht und zwar einer, dem man seine Überzeugungen abnimmt anstatt sie auf das schablonenhafte Drehbuch zu schieben.

Aber auch er hat unter der Bebilderung zu leiden. Bei seiner ersten großen Nummer („Stars“) steht er allen Ernstes auf dem Dach (oder der Brüstung) einer Kirche, hinter sich Notre Dame, über sich der unheilvolle Mond, der durch die dunklen Wolken blitzt. Von den besungenen Sternen sieht man allerdings keinen, da hat die CGI-Abteilung anscheinend schon geschlafen. Er balanciert am Abgrund, vor dem er sich sicher fühlt, und dieses Bild wird bei seiner Reprise („Javert’s Suicide“) wieder aufgenommen. Das kam mir extrem schulmeisterlich vor, so nach dem Motto, vastehste, Einsicht, Umkehr, vastehste, vastehste, warte, ich zeig’s dir noch mal. Und ich gebe zu, ich musste laut lachen, als ich sah, dass selbst Notre Dame ihm jetzt ihren Rücken zuwendet, während er auf dem Brückengeländer balanciert. (Psst: Eigentlich ist es der Ostchor, aber das nur unter uns Kunstgeschichtsstudent_innen.)

Auch die restlichen Bilder können nicht so recht überzeugen. Schon die große Schiffsszene zu Beginn ist eher albern, und die Barrikade zum Schluss zwar eine schöne Reminiszenz an die Bühne, aber trotzdem sieht beides sehr nach Photoshop aus. Beide Sets wollen riesengroß sein, aber weil man weiß, dass Paris heute anders aussieht, ist das eher peinlich als bewegend, und man sucht die ganze Zeit nach Fehlpixeln oder dem Eiffelturm, den jemand vergessen hat wegzustempeln. Da hätten mir ein paar Close-ups auch gereicht. Aber auch da verlässt sich Regisseur Hooper manchmal nicht auf seine Akteure und Aktricen: Wenn sich Cosette (Amanda Seyfried) und Marius (Eddie Redmayne) das erste Mal zärtlich ansingen, dann braucht man, verdammt nochmal, nicht noch einen animierten Schmetter-fucking-ling, der an Cosettes Hand herumflattert, um ihre verspielte Jugend zu verdeutlichen. Und wenn die schauspielerischen und komödiantischen Schwergewichte Sacha Baron Cohen und Helena Bonham Carter als Ehepaar Thénardier die Szene betreten, dann wären sie auch ohne den kompletten Overkill an Props und Nebenhandlungen puppenlustig gewesen.

Les Misérables hat mir trotz aller Macken gefallen, denn was er hinkriegt, ist auch die Stärke der Bühnenfassung: trotz totalem Klischee mit großartigen Songs zu begeistern. Der Funke springt auch im Kino über, und man will genauso mitsingen wie im Plüschsessel eines Musicaltheaters. Am stärksten ist der Film in den Momenten, wo er seine Darsteller und Darstellerinnen einfach mal machen lässt, Hathaway leiden, Redmayne trauern, Jackman hoffen. Da ist der Film so groß wie seine Geschichte, und da passiert genau das, was bei guten Songs immer passiert: Man spürt Wahrheit, Hoffnung, Vertrauen. Und man schnauft tief durch und geht bewegt und erfüllt aus dem Theater oder dem Kino. Singend.