„Tosca“ ist mein Pony
Ich nehme seit ungefähr anderthalb Jahren Gesangsunterricht. Ich hatte früher schon einmal welchen – ich schrob natürlich darüber –, aber dieses Mal fühlt sich alles anders an. Das liegt an der Lehrerin, an mir und den sechs Lebensjahren, die ich seit dem ersten Unterricht gewonnen habe, und das liegt daran, dass ich nicht mehr nur Musicalsongs und Chansons und Lieder singe, sondern: die große Oper.
Dass ich das wollte, war mir erst klar, als sie auf dem Notenständer lag. Vorher habe ich nicht mal im Traum daran gedacht, mich an einer Opernarie zu vergreifen. Wo kommen wir denn da hin, wenn die kleine Anke plötzlich so was Riesiges wie Tosca singen will? Die erste Arie war Habanera, die ich aber eher pflichtschuldig sang; es war toll, eine Arie zu singen, aber mit Carmen hab ich’s nicht so. Ich hab’s mehr mit dem großen Drama. Muss nicht gleich Wagner sein, aber Puccini ist schon nah dran. Der kommt in meiner persönlichen Komponistenhitliste direkt hinter Richie, und deswegen atmete ich auch erstmal sehr tief durch, als mir meine Lehrerin Vissi d’arte in die zitternden Händchen legte.
Ich steh da also mit der Arie aller Arien aus Tosca, gucke doof die Noten an, erstarre, als ich das zweigestrichene b entdecke … und in dem Moment nimmt mir meine Lehrerin die Noten wieder weg („Du guckst schon wieder nach der höchsten Note“) und fängt an, mir die Arie vorzusingen. Kenne ich natürlich, tausendmal gehört, oft genug auf einer Bühne gesehen, jedesmal ergriffen gewesen – und jetzt soll ich mitsingen? ALSO ICH JETZT? Keine Chance. Bis zum „d’arte“ komme ich, und dann kommen die Tränen.
Das muss man sich als Nicht-Opernfan und Nicht-Selber-Sänger_in so vorstellen. Ich nehme jetzt mal an, du bist riesiger Justin-Bieber-Fan (soll’s ja geben). Und du hast Poster von ihm an den Wänden und besitzt alle Platten und folgst ihm auf Twitter, bist ihm also quasi total nah – und jetzt kriegst du einen Anruf von seinem Management, dass du ein Meet & Greet mit Justin gewonnen hast. Und zwar nicht nur einmal, sondern, wenn du willst, jede Woche.
So fühlt sich das für mich mit Puccini an. Ich darf ihn nicht mehr nur aus der Ferne anhimmeln, nein, ich darf ihn SINGEN. Ich. Ich habe einen ungeheuren Respekt vor dem Mann bzw. vor seinen Werken, und deswegen dauert es jede blöde Woche immer ein bisschen, bis ich mich wirklich traue, den ersten Ton von mir zu geben. Das ist so, als ob du als Riesen-Bieberista das erste Mal vor ihm stehst und nur „Hallo“ sagen willst, aber dich irgendwie nicht traust, denn man kann ja nicht einfach so als kleiner Fan dem Superstar „Hallo“ sagen. Im Kopf glaube ich immer, dass so ziemlich alle Töne, die ich singe, total schief sind und krächzig und schlimm und dass noch kein Fenster zersprungen ist, wenn ich das b” singe, ist eh ein Wunder. Aber da ist plötzlich das „Hallo“: Ich kann das b” nämlich singen. Und es strengt nicht mal an. Jedenfalls brauche ich keine Kraft dafür.
Was ich stattdessen brauche, ist eine out-of-body-experience. Wenn ich Oper singe, muss ich vergessen, dass ich Oper singe. Ich muss den Respekt vergessen und die vielen Aufnahmen, die ich schon von dieser Arie gehört habe, ich muss vergessen, dass ich bloß Anke bin, die hier steht, denn Anke kann das nicht. Anke ist viel zu leise und zu piepsig und zu ängstlich, die bittet ja schon Leute um Entschuldigung, wenn sie ihnen nur ne DM auf Twitter schickt, das könnte schließlich gerade stören, oder wenn sie vielleicht Hilfe braucht, das könnte ungelegen kommen. Sie will auch nicht laut sein oder aufdringlich oder sich Platz nehmen, sie nimmt eh so viel Raum ein, das muss ja nicht noch mehr sein. Das ist Anke. Die kann keine Oper singen, auch wenn sie gerade jetzt nichts mehr will als das.
Das da. Das muss ich alles vergessen. Stattdessen breite ich die Arme aus (und muss vergessen, wie albern das aussehen könnte) und stehe breitbeinig da (und muss vergessen, wie undamenhaft das ist) und nehme die Schultern zurück und mache den Mund weit auf und BIN LAUT. UND DA. Und werfe die Töne mit den ausgebreiteten Armen hinter mich und singe gefühlt in mich rein und dadurch glasklar aus mir raus und dann steht da plötzlich das zweigestrichene b, strahlend hell, ohne zu wackeln, es ist einfach da, weil ich es einfach lasse. Weil ich den Rotz, an den ich den ganzen Tag denke, um mich klein zu fühlen, weil ich den vergesse. Stattdessen stehe ich mitten im Raum und singe mir das Herz aus dem Leib. Und es ist total egal, ob ich dann irgendwann wieder heule oder nicht. Meistens verflenne ich nur den Anfang, und wenn das Hindernis, meine Tränen, meine Angst, aus dem Weg sind, dann geht’s. Dann geht’s bis zum b” und bis zum Schluss. Dann stehe ich da und singe Oper.
Und wenn ich dann wieder quengele, warum ich so gut wie immer erstmal heulen muss, bevor was geht, meint meine Lehrerin: „Weil du das so sehr willst und weil du dir jahrelang eingeredet hast, dass du’s nicht kannst. Und es haut dich jedesmal um, wenn du merkst, dass du’s doch kannst – und wie einfach es geht, wenn du dich lässt. Wenn kleine Kinder irgendwas Neues entdecken, vielleicht ein Pony, das da hinten irgendwo rumsteht, dann rennen die auch nicht gleich drauflos. Die gehen drei Schritte vor und wieder zwei zurück, es könnte ja beißen. Das machst du auch. Es könnte dir ja was passieren, wenn du Oper singst. Es könnte jemand sagen, wie doof das klingt und dass du das nicht kannst. Und auch wenn du’s schon mehrere Male gesungen hast und jedesmal bis ganz nach oben gekommen bist, glaubst du bei jedem neuen Versuch wieder, nee, dieses Mal geht’s nicht. Wie das Kind, das weiß, dass das Pony ihm nichts tut – aber es traut der Sache immer noch nicht.“
Ich erschrecke immer wieder selber, wie sehr ich diese beknackten Mechanismen verinnerlicht habe. Das Selbst-Runtermachen, der ewige Selbstzweifel. Hat mich noch nie weitergebracht, ist aber immer noch drin. Das hat mit der ersten Diät angefangen, dass ich mir selber eingeredet habe, dass mit mir was nicht stimmt, und das mache ich heute noch so. Aber: Es wird weniger. Denn mit dem Nie-wieder-Diäten hat das Selbstwertgefühl endlich mal was Nettes zu hören bekommen. Und auf einmal war das gute Gefühl für den eigenen Körper da. Und dann das Gefühl für die eigenen Fähigkeiten. Und dann der Mut, mal eben seinen Beruf zu ändern und umzuziehen und neue Menschen kennenzulernen und eine andere Stadt. Und dann: sich hinzustellen, die Arme auszubreiten, sich Raum zu nehmen und zu singen. Ich habe jedesmal Angst davor, aber ich komme jedesmal ans Ziel. Und irgendwann werde ich das glauben.