Zweites Semester, zweite Woche
Montag
Der Gehörbildungskurs fällt wieder aus, und wieder erfahre ich es erst, als ich vor der Tür zum Seminarraum stehe und den dort angeklebten Zettel lese. Gut, dann ziehe ich den geplanten Bibliotheksbesuch um eine Stunde vor, gehe aus dem fünften in den ersten Stock des Schweinchenbaus und suche dort den Handapparat der Dozentin des Werkhörenkurses. (Nebenbemerkung zum Link: Ich kichere seit Minuten darüber, dass auf einer offiziellen LMU-Seite dieser Begriff verwendet wird, wenn auch in Anführungszeichen. Das Gebäude heißt übrigens wegen seiner fiesen pinkfarbenen Fassade so. Armes Ding.)
Ich finde den Handapparat nicht, aber da kommt schon ein Kommilitone auf mich zu, der mich vor dem Regal hat herumirren sehen: „Wir kopieren den Ordner gerade. Sollen wir dir was mitkopieren?“ Ich bejahre, zücke Kleingeld, dann bezahlt wieder jemand anders von uns vieren, dann ich wieder, gerade wie’s halt so passt, und warte auf meine Kopien. Als wir alle mit jeweils 40 Seiten versorgt sind, fragt eine Kommilitonin, was sie mir schulde. Ich bin kurz davor, ihr den Kopf zu tätscheln und meine, die 80 Cent wären schon okay so.
(Das ist nicht der Schweinchenbau, sondern das wunderschöne Hauptgebäude, und ich stehe gerade vor Raum A 214.)
Dienstag
Die erste Sitzung im Kurs „Skulptur und Plastik 1890–1950“. Bei der Dozentin hatte ich letztes Mal den Porträtkurs, und weil ich ihre Kodderschnauze so mag, war schon vor dem Erscheinen des Vorlesungsverzeichnisses klar, dass ich wieder bei ihr sitzen werde. Dieses Mal lerne ich also was über Skulpturen, und das habe ich bitter nötig, denn davon habe ich noch weniger Ahnung als von Bildern. Einer ihrer ersten Sätze ist, dass man sich bei Plastik eh nur um die Jahre 1900 bis 1930 kümmern müsste, davor wäre alles traditionell und danach alles „Jeder ist ein Künstler“. Ich lerne, dass abstrakte Kunst immer noch die Natur als Bezugspunkt hat und sie, ta-daa, abstrahiert, während konkrete Kunst keinen Bezugsrahmen mehr habe. Warum sie dann „konkret“ heißt, habe ich vergessen. (Danke, percanta weiß es: „Bei konkreter Lyrik wird das Prinzip der Autoreferentialität ins Extrem getrieben, Sprache verweist auf sich selbst bzw. stellt sich in der konkreten Lyrik selbst dar.“ So ist es bei der Kunst auch.)
Bei der Referatvergabe schnappe ich mir einen Künstler, von dem ich noch nie gehört habe, mit einem Werk, dass ich noch nie sah. Das hat im letzten Semester mit Hans Memling wunderbar geklappt – ich bin seitdem ein Groupie der alten Niederländer –, das klappt dieses Mal mit Herrn Archipenko und seiner Schreitenden hoffentlich auch.
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Im Propädeutikum, das die Vorlesung „Kunstgeschichte 1500–2000“ begleitet und über das ich hier schon einmal schrieb, befassen wir uns dieses Mal mit der Baugeschichte des Petersdoms. Ich lerne Namen und Begriffe wie Sangallo und UA 1 und stelle erfreut fest, dass ich noch eine Menge der architektonischen Begriffe kenne, die ich für die Klausur auswendig lernen musste. Ich stelle allerdings auch fest, was ich schon wieder alles vergessen habe. (Kolossalordnung! Weiß ich doch!)
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Abends gab’s Fußball im Fernsehen, da schlug so ein bayerischer Verein einen aus Barcelona. Vor meinem Fenster in der äußerst spießigen Maxvorstadt hupten einige Menschen zaghaft, während andere im Vereinstrikot sich lautstark freuten. Ich widerstand dem Drang, mein Gomez-Trikot triumphal aus dem Fenster zu hängen, und prostete anderen Fans imaginär und auf Twitter zu.
Mittwoch
Zweite Stunde Werkhören, in der ich mich etwas dämlicher anstellte als im Skulpturenkurs. Als die Referate vergeben wurden, war ich gänzlich unvorbereitet (ich hätte beim Kopieren am Montag mal die anderen Seiten im Ordner angucken sollen, wo die Themenvorschläge lagen), bat die Dozentin, mir einfach ein Thema zu geben und darf jetzt im Juni bei wahrscheinlich 30 Grad über das Weihnachtsoratorium referieren. Jauchzet, frohlocket.
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Nach dem Kurs trug mich mein Fahrrad mit dem schönen Namen Grane (das googeln Sie bitte mal selbst, am sinnigsten im Zusammenhang mit Wagners Ring) vom Schweinchenbau ins Hauptgebäude, wo ein weiterer Lieblingsdozent mit der Vorlesung „Altniederländische Malerei“ auf mich wartete. Auch bei ihm war klar, den wähle ich, ganz egal worüber er redet, aber dass es ausgerechnet meine neuen Lieblinge sind, macht das ganze natürlich noch toller. In der letzten Stunde meinte er zur Einleitung: „Ich kann Sie nur zu Ihrer hervorragenden Kurswahl beglückwünschen. Die Geschichte der europäischen Malerei ist ohne die Niederländer nicht nachzuvollziehen.“ Nach den schmeichelhaften Worten folgten allerdings 90 Minuten lang verschiedene Stammbäume aus Burgund und Flandern aus 200 Jahren und der dringende Hinweis, das auswendig zu lernen, „das begegnet Ihnen immer wieder.“ Ächz.
In dieser Stunde kamen zu den Namen wie Johann Ohnefurcht, Philipp der Gute, Maria von Burgund und Maximilian von Österreich die passenden Ländereien dazu. Wir streiften per Powerpoint durch Brügge, Antwerpen, Breda, Utrecht, Brüssel und Gent, ich lernte die Lukas-Madonna (Lukas hat ein Buch in der Hand; er gilt als der Evangelist, der die erste Biografie der Mutter Gottes schrieb) und Maria lactans als Überbegriff kennen und ergötzte mich zum wiederholten Male an allem, was Jan van Eyck jemals gemalt hatte.
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Abends gab’s Fußball im Fernsehen, da schlug so ein Verein aus Dortmund einen aus Madrid, was ich aber erst ab der zweiten Halbzeit bewusst mitbekam, weil ich davor unplanmäßig viel arbeiten musste. So für Geld. Mach ich ja auch noch.
Donnerstag
Erste Sitzung in Musikwissenschaft bzw. der Ringvorlesung Musikgeschichte. In diesem Semester befassen wir uns mit allem zwischen 1830 und heute, was ich für ein ziemlich gewagtes Unterfangen hielt, weil das alles in meinem Kopf noch nicht recht zusammenpassen will, so von Wagner zu Cage und so. Aber: Der Professor begann schlauerweise damit, uns einen kurzen gesellschaftspolitischen Abriss über das 19. und 20. Jahrhundert zu geben und so Strömungen aufzuzeigen, die sich auch musikalisch niederschlugen und die sich teilweise sogar glichen. Also zum Beispiel die vielen technischen Neuerungen, die das 19. Jahrhundert mit sich brachte und so neue Instrumente schuf; unser heutiges Klavier ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, und die Bläser arbeiten auf einmal mit Ventilen anstatt mit Klappen. Der Klang verändert sich, die Möglichkeiten für das Orchester verändern sich – genau wie im 20. Jahrhundert, wo auf einmal Synthesizer und Computer zum Instrumentarium gehörten. Technik bedeutete auch, dass durch Schallplatten, CDs und MP3s aus dem ephemeren Kunstwerk Musik auf einmal ein ständig präsentes wurde. Die Arbeitsbedingungen von Künstlern änderten sich; sie wurden von Hofkomponisten zu eigenständigen Unternehmern und sind es bis heute. Wagner legte mit seinem soganannten „Kunstwerk der Zukunft“ und seiner „unendlichen Melodie“ den Grundstein für die Zwölftonmusik, den Bruch von Dur- und Moll-Tonalitäten und das „Gesamtkunstwerk“. Im 20. Jahrhundert begann Schönberg mit Farben die „Befreiung von Klang und Geräusch“ – es gibt keine Melodie mehr, der man folgt, sondern nur noch „changierende Klänge“. Weitere Stichworte: Filmmusik, politische Musik, populäre Musik, Globalisierung. Okay, sold. Gimme more.
(Dress like a MuWi-student.)
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Theoretisch hätte ich jetzt zwei Stunden Pause bis zur Vorlesung in KuGi, aber wer sind wir denn, im Café rumsitzen kann ich auch wann anders: Ich setze mich stattdessen in die Vorlesung „Französische Kunst des 17. Jahrhunderts: Architektur, Skulptur, Malerei“. Tolles Thema – eher untoller Dozent. Das ist nämlich der Herr, bei dem ich im letzten Semester was über die Romanik lernen durfte, und er ist der einzige, bei dem ich mal eingeschlafen bin. Und: Er rückt seine Folien erst nach Aufforderung heraus, was im Wintersemester so aussah: Zu Weihnachten, also zwei Monate nach Vorlesungsbeginn, standen sie zum Download bereit, jedenfalls der erste Teil – 250 Seiten unbeschriftete Bilder, 300 MB. Ist klar. Wenn ich nicht einen riesigen Bildband zum Thema besessen hätte, aus dem nebenbei fast alle Bilder stammten, wäre ich mit Pauken und Trompeten durch die Klausur gefallen. Ich habe in der VL nie einen roten Faden gesehen, wir sprangen von Kirche zu Kirche, hier ein Kapitell, da ein Tympanon, dort ein Kreuzgang, ich wusste nie, warum und wieso und ich war dauernd genervt. Aber: Nach der letzten Stunde dachte ich nicht mehr, schnarch, Romanik, sondern WOW, ROMANIK! Anscheinend hat er mir doch etwas beibringen können bzw., noch besser, die Liebe zu einer Epoche in mir wecken können, ohne dass ich es gemerkt habe.
Daher setze ich mich jetzt in seine neue Vorlesung, in der wieder zu 95 Prozent Senior_innen sitzen (letztes Mal waren wir 14 Leute in der Klausur aus einem Hörsaal, in den 150 Menschen reinpassen und der immer gut gefüllt war) und versuche wachzubleiben. Das klappt bis jetzt, aber genau wie beim letzten Mal springen wir gerade von einer Schlossfassade zur nächsten, dann ne Kirche in Paris, dann ein Platz in habichvergessen … egal, ich muss nicht mitschreiben, ich kriege hier keine Punkte, und irgendwas wird schon hängenbleiben.
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Und dann endlich die Vorlesung zur Kunstgeschichte, Renaissance bis heute, bei einem neuen Dozenten. Eine meiner Kommilitoninnen beschwerte sich im Skulpturenkurs bei mir, dass sie ihn nicht so toll fände, woraufhin ich händewedelnd widersprach. Der gute Mann hat es nämlich drauf, seine Folien fast werbisch zu verfassen. Immer schön Dinge anteasern, die man nur versteht, wenn man ihm zuhört – Zusammenhänge, Details, Künstler und was die mit anderen Künstlern zu tun haben. Oder mit diesem Bild, was wir gerade sehen. Oder mit dem, was wir vor fünf Minuten gesehen haben. Ich persönlich habe 20 Aha-Effekte in jeder Sitzung und hänge an seinen Lippen. Außerdem bewundere ich ihn für seine Contenance, denn in der ersten Sitzung meldete sich mitten im Satz eine Dame in der ersten Reihe und hielt ihre Hand stoisch fünf Minuten hoch, bis er sie sah, woraufhin sie die Kracherfrage losließ, ob das klausurrelevant sei. Klausurrelevant. Erste Sitzung. Ich war schon beim Fremdschämen, als er meinte, über die „technischen Details“ des Kurses sprächen wir am Ende, als sie noch mal nachlegte: „Wann ist denn die Klausur?“ Und daraufhin wurde er ein bisschen lauter und meinte, wenn das unsere einzige Sorge wäre, ob irgendwas klausurrelevant sei, dann sollten wir unsere Studienwahl bitte noch mal überdenken. An mein Herz!
(Die LMU eröffnet den Sommer: Die Springbrunnen sind an.)
Freitag
Wie Montag ein sehr kurzer Unitag, der nur aus einem Kurs besteht, nämlich der Übung zur Vorlesung in Musikgeschichte. Auch wieder ein neuer Dozent, und der wird es etwas schwerer haben, an mein Herz zu kommen: Er kann nämlich nicht stillhalten. Wenn er nicht in der Gegend rumwandert und gestikuliert, steht er vorne am Pult oder am Overheadprojektor oder am Rechner oder am CD-Spieler und daddelt mit irgendwas rum, mit Kreide, mit der Beamer-Fernbedienung, mit einem Stift, mit seinen Unterlagen. Es. Macht. Mich. Wahnsinnig. Ich habe irgendwann nur noch in mein Moleskine geguckt, auch wenn ich gerade nichts zur Symphonie Fantastique von Berlioz zu notieren hatte, aber sonst wäre ich irgendwann aufgesprungen und hätte ihn an irgendwas gefesselt.