Radfahren
Das letzte Mal, dass ich auf einem Fahrrad saß, muss Ende der Neunziger in Hannover gewesen sein. Ich erinnere mich, ab und zu damit zum Einkaufen gefahren zu sein, weil der Weg zu meinem Lieblingssupermarkt zu kurz fürs Auto und zu lang für zu Fuß war, aber das war die einzige Gelegenheit, in der ich das Rad benutzte. Es war viel zu nervig, das Ding aus dem Fahrradkeller zu wuchten, außerdem hatte ich ein Motorrad, was viel cooler war (wenn auch nicht zum Einkaufen; ich zieh mir doch nicht die Kutte an, um ne Pizza kaufen zu fahren) und ein Auto, mit dem ich eh alles erledigte. Deswegen verstaubte mein Rad irgendwann. Ich schleppte es zwar noch nach Hamburg, wohin ich 1999 zog, saß aber nie mehr drauf.
Inzwischen ist es 2013, ich wohne zeitweise in München, und was mir an München neben der Uni, dem ehemaligen Mitbewohner, der @kaltmamsell, dem Bier, den Biergärten, der Oper, dem Residenztheater, den vielen Originalversionen in den Kinos, der Ludwigstraße zwischen Siegestor und Feldherrnhalle, dem Königsplatz, der Isar, der Tram, der Allianz-Arena, den Pinakotheken, dem Wetter, dem Essen, meiner Wohnung und dem Dialekt am besten gefällt, ist mein Fahrrad. Mir wurde schon im Winter zugeraunt, dass der Sommer nirgendwo schöner sei als in München und dass man dann auf jeden Fall ein Fahrrad brauche. Das nahm ich mal so hin, aber jedesmal, wenn ich an der Uni die Batterie an Rädern stehen sah, wurde meine Sehnsucht nach diesem Transportmittel größer. Der ehemalige Mitbewohner half mir netterweise beim Kauf und Einstellen, und dann kam der Moment der ersten Runde nach ungefähr 15 Jahren Abstinenz.
Ich wusste nicht mal mehr, wie man auf das Ding elegant raufkommt. Und auch nicht, wie ich nach 50 wackeligen Metern erschreckt feststellte, wieder runter.
In den letzten 15 Jahren ist nämlich einiges passiert. Unter anderem die verkackte Bandscheiben-OP, von der ich Nervenschäden im rechten Fuß zurückbehalten habe. Das Füßchen weiß nicht so genau, was es tut bzw. es sagt meinem Hirn nicht mehr, was es tut, weswegen ich immer gucken muss, wo es gerade ist, denn ich spüre es nicht mehr. Das ist beim Aufsteigen auf ein Rad ein bisschen seltsam, auf den rechten Fuß und das Pedal darunter zu gucken anstatt nach vorne, aber so mache ich das inzwischen und das geht ganz gut. Aber beim ersten Aufsteigen war das ein sehr neues Gefühl, dieses: Ich trete jetzt mal in diese Pedale oder glaube es zu tun, denn ich merke es nicht, aber ich komme vorwärts, also scheine ich zu treten. Abgestiegen bin ich früher, so glaube ich mich zu erinnern, mit dem rechten Fuß auf der Pedale. Das geht nicht mehr; ich verlagere mein Gewicht nie mehr nur auf den rechten Fuß (auf Leitern zum Beispiel), weil ich schlicht nicht merke, ob ich abrutsche. Das merke ich erst, wenn ich abgerutscht bin. Das ist mir einige Male auf schmalen Treppen passiert, und einmal bin ich wirklich nach rechts gefallen, weil ich dachte, mein Fuß hält mich. Hat er aber nicht, und so taumelte ich aus heiterem Himmel im Zimmer herum, bis ich eine Wand zu fassen bekam. Seitdem ist mein linker Fuß der Go-to-guy und der rechte Deko. Deswegen steige ich inzwischen andersherum ab als früher: abbremsen, den linken Fuß auf der Pedale lassen, den rechten beim Stillstand auf den Boden stellen und dann auf die Seite vom linken Fuß heben. Sieht wahrscheinlich ein bisschen umständlich aus, aber ich falle nicht um, und das ist super.
Mein Körpergedächtnis hat übrigens neben dem neuen Absteigen noch etwas anderes gelernt. Früher habe ich grundsätzlich die Rücktrittbremse genutzt. Beim Motorradfahren habe ich mir natürlich das Bremsen mit der Hand angewöhnt. Und als ich das erste Mal wieder auf dem Fahrrad saß, bremste ich unwillkürlich mit der Hand, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Das fand ich sehr lustig, und ich musste an das Gefühl am Rücken denken, das ich früher hatte, als ich meine Geige noch auf dem Rücken getragen habe beim Radeln in den Unterricht. Ach, wo wir gerade bei Körper sind: Das ist als dicker Mensch natürlich auch klasse, dass man sein Gewicht mal kurz nicht tragen muss. Ich muss es bewegen, aber ich muss es nicht schleppen. Den Unterschied merke ich inzwischen sehr, wenn ich mal wieder zu Fuß unterwegs bin.
Was ich inzwischen aber selten bin, denn ich habe etwas Großartiges entdeckt: FAHRTWIND! OMG! Ich fahre seit gut zwei Jahren kein Auto mehr, sondern nutze Öffis oder gehe zu Fuß. Wobei Zufußgehen einen winzigen Nachteil hat: Ich gerate ein bisschen ins Schwitzen, wenn ich normales Tempo gehe. Das Konzept von Flanieren oder Bummeln hat sich mir nie erschlossen; wenn ich gehe, dann will ich irgendwo hin, das heißt, ich gehe zackig auf ein Ziel zu. Und weil ich relativ schwer bin, strengt das etwas mehr an als auf der Couch zu liegen, weswegen ich eben schwitze. Auf dem Fahrrad habe ich zwar dieses großartige, schon angesprochene Ding namens FAHRTWIND, das mich trotz aller Anstrengung abkühlt, aber weil ich auch hier rumhetze, schwitze ich trotzdem. Bzw. schwitzte. Imperfekt.
Denn: So sehr ich Bummeln zu Fuß hasse, so sehr mag ich es inzwischen auf dem Rad. Als der ehemalige Mitbewohner und ich die erste Ausfahrt unternahmen (natürlich in Richtung Biergarten), radelte er un.fass.bar.lang.sam vor mir her. Zunächst zuckelte ich mit, dann überholte ich genervt, aber da ich nicht wusste, wo es lang ging, musste ich ihn wieder vorlassen, wo er wieder un.fass.bar.lang.sam fuhr. Und nachdem wir im Biergarten ankamen und ich schon losquengeln wollte, warum wir ne halbe Stunde für fünf Kilometer gebraucht hätten, merkte ich erstaunt: Ich schwitze nicht. Ich bin entspannt von A nach B gekommen, habe mich bewegt – und bin unverschwitzt. Ein großartiges Konzept! WHY DIDN’T YOU TELL ME?
Seitdem lasse ich die U-Bahnen und Trams, so sehr ich sie liebe, weitgehend links liegen und radele durch München. Die Stadt ist gefühlt winzig; meist bin ich mit dem Fahrrad schneller am Ziel als mit den Öffis. (Wenn man die Zeit abzieht, die dafür draufgeht, dass ich anhalte, auf Google Maps auf dem iPhone gucke, wieder losfahre, fünf Minuten später noch mal nachgucke, umdrehe und dieses Mal hoffentlich den richtigen Weg nehme.) Vor dem Radeln kannte ich München nur aus der U-Bahn-Perspektive; meine Orientierungspunkte waren die blauen U-Schilder, und Himmelsrichtungen merkte ich mir an Stationsnamen. Inzwischen habe ich mehrere Punkte, die ich anradeln kann und von denen aus ich weiterfahre: die Uni natürlich bzw. die drei verschiedenen Gebäude, in denen ich studiere; den Königsplatz because OH SO PRETTY, den Marienplatz, denn an dem kommt man eh dauernd vorbei und die Isar, auch wenn ich es schon einmal bei einer meiner ersten Erkundungsfahrten geschafft habe, auf der falschen Seite des Flusses zu sein, ohne es zu bemerken. Ich erinnere mich an meine innere Konversation – „Okay, wenn das hier die Wittelsbacher Brücke ist, dann ist die nächste die Reichenbachbrücke“ –, hatte aber locker die Brücken verwechselt, weil ich eben auf der falschen Seite und dann war ich in Haidhausen statt im Lehel, aber … egal. Immerhin war ich entspannt und unverschwitzt und meine Moves-App konnte schön ein paar Kilometer runterzählen.
Was ich inzwischen auch mag: das Gefühl zu wissen, was man tut. Im Auto habe ich es sehr genossen, irgendwann die Stadt und ihren Verkehr so gut zu kennen, dass ich wusste, auf welcher Spur man im Feierabendverkehr am besten vorankommt, wo es sich lohnt, Gas zu geben, um das nächste Grün noch mitzunehmen und wo nicht, wo man am besten parkt usw. Dieses Wissen eigne ich mir langsam auf dem Rad in München an. So weiß ich inzwischen auf dem Weg zum Schweinchenbau an der Leopoldstraße, dass ich beim Überqueren der Nordendstraße an der roten Ampel dringend die Pole Position brauche. Denn dann kann ich, sobald die Ampel auf Grün springt, lossprinten, um die Grünphase der nächsten Kreuzung an der Kurfürstenstraße noch zu erwischen, die gefühlt fünf Sekunden lang ist, wonach man gefühlt fünf Minuten auf die nächste wartet. Ich weiß inzwischen, welche Straßen Radwege habe und welche nicht und wann sich welche eher lohnt. Ich weiß, dass es sicher ist, die Schellingstraße nach Hause zu fahren, wenn mein Seminar pünktlich zu Ende ist, denn dann fahren ALLE Studis der LMU die Schellingstraße lang und die Autofahrer müssen sich zähneknirschend hinter dem Pulk einreihen. Ich weiß außerdem, dass Kinder sehr unberechenbar sind, wenn sie auf Fußwegen nicht angeleint sind, dass Autofahrer keine Lust haben, mal den Kopf zu drehen und zu gucken, ob ich gerade angeschlichen komme, und dass „Schritttempo“ ein weiter Begriff ist, wenn es auf den Marienplatz geht. (Ich glaube, ich gehe da nie wieder als Fußgänger rüber.) Durch die letzten drei Dinge weiß ich leider auch, dass ich mir wahrscheinlich einen Helm zulegen werde.
Was aber das Wichtigste ist: Es macht so unfassbar viel Spaß! Ich gucke inzwischen bei neuen Adressen nicht mehr auf den U-Bahn-Fahrplan, sondern auf Google Maps und die Radfahranzeige. Ich fahre nach der Uni gerne einen Umweg, weil ich lieber die schöne Strecke an der Franz-Joseph- und Elisabethstraße langfahre als die schnelle Route an der Schellingstraße. Und wenn ich nachts unterwegs bin, fahre ich fast immer irgendwie zum Königsplatz, sei es, um ihn zu überqueren oder ihn rechts von mir zu lassen, einfach weil es so wunderschön ist, an ihm vorbeizukommen. Links leuchtet der Goldkubus des Lenbachhauses, rechts die angestrahlten Propyläen und die Glyptothek, das Pflaster ist relativ neu und gut befahrbar, und ab einer gewissen Uhrzeit sind kaum noch Autofahrer unterwegs. So gut wie jedesmal, wenn ich dort entlangfahre, will ich anhalten und ein Foto twittern. Aber dann spüre ich den Fahrtwind und meine Beine und mein glückliches Grinsen, weil ich gerade verdammt noch mal durch München radele. Und dann fahre ich weiter.