Kunst gucken: Unpainted 14, Postpalast München
(Dieser Eintrag steht auch in meinem Zweitblog, in dem die Videos eine anständige Größe haben.)
Ich klaue mal von der offiziellen Website: „Die UNPAINTED media art fair ist Münchens erste Messe für digitale Kunst und Medienkunst.“ Heißt im Klartext: relativ wenig Raum für relativ viele Kabel, Monitore, Festplattenrecorder, DVD-Player und Ausstellungsstücke. Im runden Postpalast konnte man in der Mitte halbwegs ordentlich um die Kunstwerke rumgehen oder auch mal Abstand zu ihnen gewinnen; in den umliegenden Kabinetten war das manchmal etwas schwerer, weil die gerne sehr voll waren und gefühlt zehn Quadratmeter pro Kabinett eben schnell voll sind. Daher sind mir auch mehr im Innenraum Werke aufgefallen, weil ich bei denen nicht ständig das Gefühl hatte, irgendwem im Weg zu stehen.
Meine erste Entdeckung ist schon über 20 Jahre alt, aber das würde ich mir sofort an die Wand hängen: Die Serie Leaving Shadows (1989–97) von Stephan Reusse hat mir sehr gefallen. Am ersten Bild stand noch nichts von den Schatten dran, daher habe ich mir selbst zusammengereimt, dass das wohl Wärmespuren sind oder einfach gefakte Hinterlassenschaften eines Menschen, der jetzt nicht mehr da ist. Mir gefiel es sehr, einen Gegenstand zu sehen, der noch menschliche Spuren trägt, eine Erinnerung, eine Anmutung – ein totes Objekt zeigt ein lebendes. In der Ausstellung hingen unter anderem der Blue Chair (siehe Link) und der Thonet Chair, der leider nicht online ist, aber für 5.400 Euro meiner gewesen wäre.
Ebenfalls auf meiner Einkaufsliste hätten die Aluminium-Captchas von Aram Bartholl gestanden (Serie Are You Human? (2009–13), die ich schlicht clever finde. Beim Durchblättern des Ausstellungskatalogs fiel uns auf, wie viel man von Bartoll kennt: Map zum Beispiel, die Dead Drops oder How to Build a Fake Google Street View Car – alles Werke, die man durch Twitter oder Blogs mitbekommen hat, was für mich schön die Vernetzung von Netzkunst zeigt.
Sehr gut unterhalten hat mich Uterus Man (2013), ein Anime von Lu Yang, der netterweise komplett online steht (ihr könnt euch also die 15 Euro Eintritt sparen, aber die Ausstellung läuft eh nur noch heute). Ich mochte die Idee sehr, dass eine ureigene weibliche Eigenschaft als Superkraft interpretiert wird, was sie ja auch ist – da können wir mal etwas, was wirklich noch kein Mann jemals hinbekommen hat. Bis Uterus Man kam, der die Nabelschnur als Peitsche benutzt, eine Monatsbinde als Skateboard und das Baby als Waffe. Ist übrigens sehr interessant, wie er das Baby zur Welt bringt. Ich stand elf Minuten gut unterhalten im Kabinett.
Uterus Man full version 2013 finally released !!! by LuYang from LuYang on Vimeo.
Ich verweilte noch bei Sabine Pigalle, deren Dutch Last Supper (2012) mir natürlich gefallen hat, weil es so viel verbindet: ein klassisches Motiv (Abendmahl) mit klassischen Stilrichtungen (Stillleben) und der feministische Blick, indem die Männer aus dem Original zu Frauen wurden. Ihre Timequakes von 2011 und 2012 haben sich mir allerdings erst nach dem Blick auf ihre Website erschlossen: Eigentlich fand ich die Idee, moderne Menschen in alte Gemälde zu platzieren, eher so meh. Wenn man allerdings weiß, dass die Hintergründe die flackernden Lichter von Tokio sind, wo Pigalle sich während eines Erdbebens aufhielt, werden die Bilder plötzlich geerdet. Plötzlich hält man sich wieder an Althergebrachtem fest, während einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Dann lungerte ich bei Jacques Perconte rum, der es geschafft hat, dass mich zeitverzögerte Pixel an Monet erinnern. Sein Santa Maria Madalena (2013) ließ mich an die Zeit denken, als ich noch mit meinem 14.000er-Modem die Telefonkosten in die Höhe jagte, um mir dreiminütige Filmclips anzuschauen, die eine Stunde zum Laden brauchten und dann gerne mal so verzerrt waren wie Percontes Videos. Künstlerisch kann ich zu den Werken nichts sagen, außer dass sie mir persönlich gefallen habe, weil sie so schön in meine Biografie passen. Einer der ersten Maler, die ich mir gemerkt habe, war Monet mit seinem Seerosenteich, der in meinem liebsten Kinderkunstbuch abgebildet war. Dann wurde ich erwachsen und sprang ins Internet, und 20 Jahre später studiere ich Kunstgeschichte, stehe auf einer Kunstmesse und werde gleichzeitig an meine 20er und meine Kindheit erinnert. Well done, Jacques.
Jacques Perconte – Santa Madalena Rocha (madeira) – Enregistrement n°1 from Galerie Charlot on Vimeo.
Mein Liebling im Gewusel war ein Künstler namens Quayola. Er bezog sich auf die Werke Michelangelos (schon gewonnen). Seine Kunststoffskulpturen Captives (2013) reflektierten die Unfertigkeit vieler Stücke, die Michelangelo nie vollendet hatte. Die waren spannend, aber was mich wirklich begeistert hat, war eine Serie, die leider nicht online ist und deren Titel ich mir bräsigerweise auch nicht gemerkt habe. Man sah zwei Rahmen, in denen eine Skulptur von Michelangelo von einer sich ständig bewegenden Flüssigkeit überspült war – die Skulptur war nie ganz zu sehen, immer nur als Fragment. Ich mochte die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Skulptur, die mir durch ihre Dreidimensionalität eine vollständige Ansicht gewährt – ich kann um sie herumgehen und sie mir von allen Seiten betrachten. Hier war sie auf einmal zweidimensional und nie ganz zu sehen, was mich gleichzeitig irre und sehr neugierig gemacht hat.
Online und mein Favorit von gestern: Strata #1 (2008) – von Strata gibt es mehrere Versionen, und überhaupt solltet ihr euch einfach die ganze Website anschauen. Ich kann gar nicht genau sagen, was mich so an diesem Video fasziniert hat – vielleicht ist es schlicht der Kontrast aus dem ewigen Kunstwerk mit den 500 Jahre alten, exakt komponierten Farben, aus dem plötzlich eben diese Farbtöne vorwitzig ausbrechen und sich neu und individuell arrangieren, sich zu neuen Konstellationen verbinden, neue Formen einnehmen und dazu auch noch einen schönen Soundtrack haben. Auch im Hinterkopf: der Anspruch der Kirche auf die einzig seligmachende Wahrheit, an dem plötzlich gerüttelt wird, Kunst, die sich gegen Dogmen stellt usw.
Strata #1 from Quayola on Vimeo.
Es gab noch viel mehr – viel zum Anfassen und Rumspielen, Werke, die plötzlich Töne von sich gaben oder sich veränderten, je näher man ihnen kam, alles hübsch, alles bunt, aber die obenstehenden Werke waren die, die mich wirklich beeindruckt haben. Einziger Wermutstropfen: Jetzt, wo ich Kunstgeschichte studiere, um mir den ganzen modernen Kram anständig erschließen zu können, habe ich keine Werbungshonorare mehr, um mir den ganzen modernen Kram auch leisten zu können. Irgendwo ist da immer noch ein Fehler in der Matrix.