Sommersemester 14, die erste Woche: Donnerstag
Nach zwei Tagen, auf die sich jeweils zwei Kurse verteilen, kommt am Donnerstag der dicke Brocken mit vier Kursen ohne Pause hintereinander. Los geht’s mal wieder um 8. Was bedeutet: Ich habe ab 16 Uhr Feierabend und kann in den Biergarten gehen, mir die vollgeballerten Gehirnzellen wieder wegtrinken. Ein perfekter Plan.
Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts
Im letzten Semester hatte ich bekanntlich eine Übung zum Thema Journale und Zeitschriften der Aufklärungszeit, daher bot sich als inhaltliche Fortsetzung diese Übung an. In der ersten Sitzung sammelten wir wild Stichworte und Themen und ich hätte über so ziemlich alle ein Referat halten wollen. Wir sprachen zum Beispiel über den Beruf des Journalisten, der sich in dieser Zeit überhaupt erst etablierte, was mich an einen Herrn erinnerte, der im letzten Semester erwähnt wurde und dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. Der war nämlich eigentlich Gelehrter, merkte aber, dass er als Textlieferant für Zeitschriften deutlich mehr Geld verdienen konnte. Und mit „deutlich mehr“ war wirklich „reicht zum Gutshauskauf mit üppigen Stallungen und noch eine kleine Stadtwohnung dazu“ gemeint.
Wir sprachen außerdem über technische Neuerungen wie die Setzmaschine oder die Rotationspresse, die eine massenhafte Auflage ermöglichte, den Telegrafen, der die Nachrichtenübermittlung beschleunigte, und die Eisenbahn, die Zeitungen nun in größerer Geschwindigkeit durchs ganze Land bringen konnten. Wir erwähnten die annehmbaren Alphabetisierungsraten und die Lesezirkel, in denen Zeitungen gemeinsam gelesen oder vorgelesen wurden. Wir sprachen über die Entstehung von Nachrichtenagenturen wie Reuters oder Wolffs Telegraphisches Bureau, über Auslandskorrespondenten wie Theodor Fontane oder Karl Marx, koloniale Presse in Indien, die Entstehung der Kriegsberichterstattung als journalistisches Genre im Krimkrieg und den Sensationsjournalismus, der vielleicht auch deshalb entstand, weil die Zeitungsjungen was Knackiges brauchten, das sie ausrufen konnten.
Die Referatsthemen waren noch weiter gefächert. Eins davon war die Berichterstattung über die Suffragetten und im Gegenzug deren Nutzung der Medien, um der Öffentlichkeit ihre Ziele zu präsentieren. Mit dem Thema wollte ich mich aber nicht mehr beschäftigen, mich hat das im letzten Semester irgendwann sehr genervt, dauernd über sexistische Karikaturen und Schlagzeilen zu stolpern. Stattdessen werde ich über die illustrierten Presse referieren, genauer gesagt, über Die Gartenlaube und Kladderadatsch. Ich hatte mal ein Kinderbuch aus der DDR, an dessen Titel ich mich partout nicht erinnern kann, in dem der Lausbub, um den es ging, sich gerne auf einen Speicher flüchtet, wenn er wieder was ausgefressen hat und dort Die Gartenlaube liest. Ich weiß noch, dass ich als Kind den Titel sehr putzig fand, und irgendwie ist er seitdem im Hinterkopf, ohne dass ich wirklich weiß, worum es in diesen Blättern geht. Eine perfekte Gelegenheit, sich damit zu befassen und dafür auch noch ECTS-Punkte zu kriegen.
See me. Das fotografische Porträt
Auch hier ein Rückgriff aufs letzte Semester, das bisher mein liebstes war – da hatte ich nämlich eine großartige Vorlesung (vorletzter Absatz), die immer noch in mir nachhallt und meine Augen und meinen Kopf sehr weit aufgemacht hat. Als die Vorlesung durch war, habe ich mir gesagt, bei der Frau belegst du nächstes Semester wieder was, ganz egal, worum es geht. Tollerweise ist es ein Thema, das mich sehr interessiert und das hoffentlich einen Kurs aus dem ersten Semester ergänzt, der sich mit den Anfängen der Porträtmalerei befasste. Und gleich in der ersten Sitzung saß ich nach fünf Minuten wieder strahlend da und schrieb mit wie eine Irre, weil die Dozentin, genau wie beim letzten Mal, lauter Aspekte an einer Tätigkeit, einem Werk, einem Bild aufdeckte, über die ich noch nie nachgedacht hatte, bei denen ich mich jetzt aber frage, wieso zum Teufel nicht?
Wir sprachen zum Beispiel darüber, dass in der Fotografie das Werkzeug, eine Maschine, einen grundlegenden Einfluss auf das Werk hat. Anders als mit einem Pinsel oder einem Meißel, der aktiv bewegt werden muss, kann der Künstler oder die Künstlerin hier nur noch auf einen Auslöser drücken – den Rest erledigt die Technik. Natürlich bleibt der künstlerische Impuls das Wichtigste, aber eben diese Tatsache, dass die Technik einen großen Anteil am Werk hat, entfachte die Diskussion, ob Fotografie überhaupt Kunst sei. Oder wie Lucia Moholy es ausdrückt:
„Every art has its technique. So has photography. But the relation between photography and its technique is a peculiar one; there is more equality of rights between the two than there is between the other arts and their techniques. Hence the widespread conclusion that photography is not an art at all. The same argument is put forward by those who cannot reconcile their conception of art with what they call mechanical means, that is mechanical tools. The tools generally used in the arts since centuries, such as pencils, chalk, brush, chisel, etc., carry out what the hand wants them to do. The hand again carries out the will of the mind. Whether – or not – the result will be a work of art, depends mainly on the mind, partly on the hand, and to a negligible degree only on the tool. If mechanical tool, such as a camera, is used, the tool’s share grows more important, while the hand’s share is reduced to a minimum. The mind’s share, on which the result mainly depends, upholds its position as the primum mobile. The result may be a work of art – or may not.”
(Moholy, Lucia: A Hundred Years of Photography, London 1939, S. 15.)
In diesem Zusammenhang: Die Fotografie und damit die Werke, die sie produziert, ändert sich mit ihren technischen Gegebenheiten. Wo man bei der Daguerrotypie noch minutenlang für ein Bild stillsitzen musste, veränderten Filmrollen mit 36 Bildern alles, genau wie die Polaroid- oder die heutige Digitalfotografie. Früher waren Entwicklungszeiten nötig, heute fotografieren wir, betrachten ein Bild, löschen es vielleicht sofort wieder – und damit auch die Erinnerung an einen einzigartigen Moment. Anders als in der Malerei liegt diese kurzfristige Erinnerungsfunktion der Fotografie inne – und die korrekte Wiedergabe des Objekts (wenn man mal Photoshop ignoriert).
„… haben Sie schon von jener wundervollen Erfindung unserer Zeit, der sogenannten Daguerreotypie, gehört? – ich meine, haben Sie schon jemals ein Porträt gesehen, das auf diese Weise verfertigt wurde? Stellen Sie sich vor, ein Mann setzt sich ins Sonnenlicht und hinterläßt, kaum daß anderthalb Minuten vergangen sind und ohne daß vom Umriß oder Ton etwas fehlt, sein vollständiges Faksimile unverrückbar auf einer Platte! Damit verglichen wirkt die mesmeristische Trennung der Seele vom Leib weit weniger wunderbar. Und unlängst habe ich mehrere dieser wundervollen Porträts gesehen … sie sind wie Stiche – nur derart zart und durchgeführt, wie kein Stecher es könnte –, und nun sehne ich mich danach, von jedem Wesen dieser Welt, das mir lieb ist, ein solches Andenken zu besitzen. Es ist nicht die Ähnlichkeit allein, die derlei so kostbar macht, sondern die Vorstellung und das Gefühl der Nähe, das einem solchen Objekt innewohnt … es ist die Tatsache, daß dort der echte Schatten eines Menschen für alle Zeiten festgehalten ist!“
(Barrett, Elizabeth: „Brief über Porträtphotographie (1843)“, in: Wiegand, Wilfried (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt am Main 1981, S. 41–43, hier S. 42.)
Wir sprachen über Blicke (die des Modells, die des Fotografen oder der Fotografin und die des Betrachtenden) und über den Kontrast zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, die beim Porträt aufeinanderprallen. Die Dozentin fragte uns: „Wenn Sie ein Foto von sich sehen und sagen, das bin ich nicht – meinen Sie dann, dass es Ihnen nicht ähnlich sieht oder dass es sie in Ihrem Selbst, in Ihrer Wesensart nicht richtig getroffen hat?“
Ich bin verliebt.
Karolingische Kunst
Und ich bin müde. Ich habe etwas länger mit mir gerungen, ob ich diese Vorlesung belegen sollte. Das Thema interessiert mich sehr, mehr als alle anderen Vorlesungen, die in meinem Vertiefungsmodul Mittelalter angeboten wurden. Das Dumme: Der Dozent ist fürchterlich anstrengend. Ich hatte ihn bereits im ersten Semester zum Thema Romanik, wo er mich einmal zum Einschlafen gebracht hat (jetzt isses raus). Außerdem sitzen in seinen Vorlesungen zu 90 Prozent SeniorInnen – im ersten Semester saßen wir in einem Hörsaal, der für mindestens 120 Leute ausgelegt ist und der stets sehr gut gefüllt war. Zur Klausur angetretene Studis: 14. Auch in der karolingischen Kunst ist das Verhältnis so, und was ich richtig hasse, ist das Selbstverständnis diese GasthörerInnen, die irgendwie glauben, der Mann predige nur für sie. Sie begrüßen ihn schon freundschaftlich, scharen sich nach der Veranstaltung um ihn, so dass man eher selten noch was fragen kann, und beklatschen ernsthaft in jeder ersten Sitzung seine Ankündigung, dass in dieser Vorlesung bitte nicht gegessen und getrunken werden solle. Ich habe mich nach dem ersten Semester noch zwei weitere Male ab und zu in seine Vorlesungen gesetzt, weil er blöderweise immer interessante Themen hat, habe mich aber nie wieder angemeldet, weil ich ahnte, dass ich wieder einschlafen würde.
Warum ich das dieses Mal doch getan habe? Weil ich, obwohl ich jede Stunde anstrengend fand sowie seine Folien unübersichtlich und lernunfreundlich (160 MB unbeschriftete Bilder), trotzdem aus dem Semester rausgegangen bin mit der Einstellung: Romanik – echt heißer Scheiß. Und obwohl seine rhetorischen Fähigkeiten meiner Meinung nach sehr zu wünschen übrig lassen – seine kunstgeschichtlichen sind beeindruckend. Man merkt ihm bei jeder Beschreibung seiner unübersichtlichen und lernunfreundlichen Folien an, wie gerne er das Objekt sieht, das er uns gerade zeigt. Seine Sprache ist manchmal fast zärtlich, und er schafft es wirklich, mir Dinge aufzuzeigen, die ich vorher übersehen hätte bzw. mich für Dinge zu begeistern, denen ich vorher eher indifferent gegenüberstand. Siehe Romanik.
Also sitze ich jetzt wieder bei ihm und versuche, nicht allzu oft auf die Uhr zu gucken. Am Donnerstag war es nach 15 Minuten das erste Mal so weit. Die Stunden von 12 bis 14 Uhr werden … sehr … lang … werden. Aber ich ahne, dass sie auch sehr toll werden.
Klöster in Bayern von der Karolingerzeit bis heute
Mit diesem Kurs schließt sich der Kreis. Mit den Klöstern beschäftige ich mich auch in Geschichte, wo es eher darum gehen wird, Klöster als Kulturzentren des Mittelalters zu beleuchten. In der Kunstgeschichte kümmern wir uns wahrscheinlich eher um die Architektur. Oder auch nicht – der Dozent fragte uns erstmal, was wir so erwarten würden. Dann fragte er, welche bayerischen Klöster wir denn kennen. Und ich saß da mit dem leersten Gesicht ever und musste mir eingestehen: kein einziges. Es fielen ein paar Namen wie Andechs oder Ettal, aber mein Gesicht blieb leer. Das könnte an den sechs vorhergegangen Stunden liegen, aber ich habe mich selten so unvorbereitet gefühlt. Und das konnte ich leider auch nicht verbergen, denn wir sind ein winziger Kurs. Wo sich sonst 25 bis 30 Menschen (okay, 28 Frauen und eventuell zwei Männer) in den Seminaren platttreten, sind wie hier gerade mal zehn. Das war dann auch die erste Bemerkung des Dozenten: „Ich dachte, für das Thema würden sich mehr Leute interessieren.“ Mir lag auf der Zunge, hey, aber WIR sind hier und total interessiert (… und mies vorbereitet). Ich hab’s mir aber verkniffen und stattdessen dem Dozenten zugeguckt, wie er uns mit einem Word-Dok in seiner Dropbox den Seminarplan vorstellte und ständig rumscrollte (LASS DAS!) oder irgendwas googelte, wobei ich hoffte, dass das nicht sein Privatrechner war. Ich warte ja immer auf peinliche Autocomplete-Google-Ergebnisse, wenn irgendjemand seinen Rechner am Beamer hat, aber bis jetzt konnte ich stets aufatmen. Man merkt diesem Absatz vielleicht an, dass ich nicht wirklich was zum Kurs sage, aber das liegt daran, dass es noch nicht wirklich was zu sagen gibt. Ich weiß noch nicht mal, welches Referatsthema ich bearbeite – die Auswahl steht im schon angesprochenen Word-Dok. Für meine Semesterplanung ist dieses Aufschieben etwas doof, denn nach den Referatsterminen richtet sich meine Flugbuchung: Wann mache ich einen Bibliotheksmarathon und wann kann ich faul auf dem Hamburger Sofa rumkuscheln? Spontan neige ich zu den Frauenklöstern wie dem Katharinenkloster oder St. Klara in Nürnberg, aber ich ahne, dass ich damit nicht alleine bin. Was ja eigentlich toll ist.