Bücher September 2014
Hubertus Kohle – Digitale Bildwissenschaft
Kohle beschreibt in seinem Buch, wie das Digitale die Kunstgeschichte bzw. die Bildwissenschaft verändert hat und täglich weiter verändert. Das beginnt beim neuen Zugriff auf Daten – Bilddatenbanken machen die Arbeit von KunsthistorikerInnen deutlich leichter als Diatheken –, geht weiter über die Menge an Informationen, mit denen wir arbeiten können – nochmal die Datenbanken, durch die wir auf unseren Rechnern ganze Epochen an Kunstwerken speichern können anstatt uns durch meterweise Regale zu wühlen – und endet bei dem für mich spannendsten Teil: den Methoden. Was die digitale Bildwissenschaft für mich so aufregend macht, ist, dass wir neue Fragen an bekannte Werke stellen können. Das beginnt zum Beispiel damit, alle Werke van Goghs farblich zu analysieren, um eine Chronologie seiner farblichen Ausdrucksweise zu dokumentieren. Klar geht das auch, wenn man alle Werke von ihm hintereinanderlegt und länger draufguckt, aber es geht besser, indem man einen Rechner Farbwerte berechnen lässt.
Kohle schreibt auch über die Möglichkeit, neue Datenbanken anzulegen, indem man von bisherigen Ordnungssystemen der Kunstgeschichte abweicht. Wo wir bisher Bilder nach Dingen wie MalerIn, Titel, Entstehungszeitraum und Aufbewahrungsort klassifiziert haben, können wir die Werke nun mit Tags versehen. Das geschieht seit Jahren bei Artigo, einem Spiel, das unter anderem von der LMU (an der Kohle lehrt) produziert wurde. Dort kann jeder User und jeder Userin wild assoziierend ein Werk mit Begriffen versehen. Erst wenn zwei Menschen das gleiche Wort eingegeben haben, wird es dem Bild zugeordnet. Diese Wortwolke verrät deutlich mehr – oder zumindest andere Dinge – als die bisherige Bildbeschreibung, und dementsprechend kann eine derartige Datenbank auch ganz anders durchsucht oder benutzt werden. Wie ich schon sagte: Es geht um neue Methoden.
Kohle befasst sich auch mit dem Problem, dass KunsthistorikerInnen gezwungen sind, bei der Arbeit mit ihrem Forschungsobjekt eben dieses in ein anderes Medium zu übertragen: Wir beschäftigen uns mit Bildern, indem wir sie mit Worten beschreiben – wir tanzen Architektur. Bilddatenbanken wie zum Beispiel TinEye, die reverse Bildsuchen ermöglichen, bieten einen neuen Umgang mit Bilddaten, indem sie eben nicht den Umweg über die Worte nehmen. Bilddatenbanken, die Bilder nach wiedererkennbaren Mustern sortieren, sind lustigerweise ein Rückgriff auf einen Klassiker der Kunstgeschichte: Wölfflins Stilanalyse, in der er erstmals die Renaissance vom Barock unterschied, indem er Merkmale der Werke nach Übereinstimmungen clusterte.
Eine Kritik an den neuen Methoden, sich Bildwerken zu nähern, lautet: Wir trügen Dinge an das Kunstwerk heran, die in ihm gar nicht eingeschrieben sind. Kohle entkräftet diese Kritik, indem er fragt, was wissenschaftliche Arbeit denn sonst sei. Und spätestens da hatte er mich (okay, er hatte mich schon vorher): Genau diese Erkenntnis habe ich im letzten Semester zum ersten Mal erleben dürfen. Als ich meine Geschichtshausarbeit über Grimald von St. Gallen schriebt, kam irgendwann der Moment, in dem sich aus meinem zusammengelesenen Wissen eine Frage formulierte, die ich beantworten wollte. Und der Weg der Argumentation hat sich genau so angefühlt: Ich trage plötzlich Dinge an ein Sujet heran, die vorher nicht da waren – einfach weil sich noch niemand vorher meine Frage gestellt hat. Das klingt jetzt sehr esoterisch, aber das war ein großartiger Moment in der Bibliothek des Historicums, als ich beim Schreiben merkte, dass mir wirklich eine neue Erkenntnis gelungen war. Und ich glaube, dass die digitalen Möglichkeiten die Kunstgeschichte nur positiv beeinflussen können – eben weil sie uns Erkenntnisse erlauben, die vor 20 Jahren noch nicht möglich gewesen sind, weil wir noch gar nicht wussten, was wir alles fragen können.
(Das Buch gibt’s übrigens als pdf für lau. Danke dafür.)
Thomas Bernhard – Alte Meister
Großartig. Ich hatte vor zehn Jahren schon mal versucht, Bernhard zu lesen, was aber nicht funktioniert hat. Hier hat es das und ich glaube, das hat ausnahmsweise nichts damit zu tun, dass Alte Meister im Kunsthistorischen Museum in Wien spielt. Das Buch ist ein einziger langer Monolog, 180 Seiten ohne Absatz, in dem wir Herrn Atzbacher dabei zuhören, wie er Herrn Reger beschreibt bzw. sein Gemecker über Kunst, Musik, die katholische Kirche, Wien und Österreich. Letzterer geht alle zwei Tage ins Museum und sitzt immer vor dem gleichen Bild. Vor dem hat er auch vor Jahrzehnten seine Frau kennengelernt, deren Tod er immer noch verarbeitet. Und das war’s dann auch schon. Ein wunderbarer Stil, der mir fast musikalisch vorkam mit seinen Variationen an Sätzen, die sich wiederholen, aber eben nicht so ganz, mit seinen Motiven, die sich auch wiederholen, aber eben nicht so ganz. Ehrlich gesagt, lohnt sich das Buch allein schon für den allerletzten Satz. Aber um bei dem so laut aufzulachen wie ich, muss man eben vorher das Buch lesen. Macht das mal.
Mary Scherpe – An jedem einzelnen Tag: Mein Leben mit einem Stalker
Dafür macht dieses Buch überhaupt keinen Spaß. Scherpe leidet seit Jahren unter einem Stalker, der ihr sogar bekannt ist, der ihr Blog mit nutzlosen Kommentaren flutet, Social-Media-Accounts unter ihrem Namen bzw. ihrem Namen sehr ähnlich klingenden Bezeichnungen anlegt, sie anruft, mit SMS nervt und bergeweise Zeug im Internet bestellt, das bei ihr zuhause landet. Polizei und Anwälte können (oder wollen) nicht helfen, und so hat Scherpe ein eindringliches Buch geschrieben, um wieder die Kontrolle in diesem Scheißspiel zu bekommen. Ihre Erfahrungen mit den deutschen Stalkinggesetzen haben sie schließlich eine Petition starten lassen, die ich schon unterzeichnet habe. Denn bis jetzt kann die Polizei erst eingreifen, wenn der Stalker (es sind zum weitaus größten Teil Männer, auch der von Scherpe ist einer) Erfolg mit seiner Qual hatte: Erst wenn das Leben des Opfers so beeinträchtigt wird, dass es zum Beispiel den Job oder den Wohnort geändert hat, kann polizeilich vorgegangen werden. Oder wie Scherpe es völlig richtig nennt: Erst wenn der Stalker gewonnen hat, kann man gegen ihn vorgehen.
Im Buch wird auch die Geschichte von serotonic erwähnt, die bereits seit unfassbaren sieben Jahren einen Irren am Hals hat. Auch hier kann der Staat nichts tun, denn so ein paar Blogkommentare oder Mails sind anscheinend keine große Beeinträchtigung. Was für ein Quatsch. Einer seiner neuen Kommentare (verlinke ich jetzt nicht) sagt meiner Meinung genau das, was sich ändern muss: Er schreibt serotonic, dass sie nichts gegen ihn machen könne, er alleine würde entscheiden, wann er sich nicht mehr bei ihr melden würde. Und das ist genau der Punkt: Nicht der Täter, sondern das Opfer sollte verdammt noch mal entscheiden können, wann Schluss ist.
John Williams – Stoner
Zum Abschluss dafür wieder was Schönes – mein Lieblingsbuch des Monats. Stoner ist bereits 1965 erschienen und wird anscheinend gerade wiederentdeckt, wenn man dem Perlentaucher glauben darf. Völlig zu recht. Das war mal wieder eins der Bücher, die ich nicht aufhören wollte zu lesen, ganz egal, wie spät es schon war. Stoner wird von seinen Eltern, die eine kleine Farm besitzen, Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Universität geschickt, um Landwirtschaft zu studieren. Nach wenigen Semestern entdeckt er allerdings die englische Literatur für sich, und anstatt wieder nach Hause zu fahren und das gleiche elende Leben zu führen, das seine Eltern auf ihrem kargen Stück Land haben, wird er Lehrer und schließlich Dozent an der Uni. Dass sein Leben auf andere Weise elend wird, kann er nicht wissen, aber die Literatur, die Worte und Verse und der Elfenbeinturm der Universität retten ihn über fast alles hinweg. Vielleicht hat mir dieses Buch deshalb so gut gefallen, abgesehen von der leisen, unaufdringlichen, fast teilnahmslosen Sprache, die doch so viel transportiert. Der Entwurf einer Gegenwelt, die Stoner selbst einmal ein Asyl nennt, ein Rückzugsort von der Welt – genau das erlebe ich zurzeit in meinem Studium dauernd. Wobei ich davon ausgehe, dass auch Menschen, die nicht wie ich gerade Bibliotheks- und Seminarfan geworden sind, große Freude mit diesem Buch haben können.
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