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2015 revisited
(2014, 2013, 2012, 2011, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004, 2003.)
1. Mehr Kohle oder weniger?
Weniger. Ich habe in diesem Jahr ganze zwei Rechnungen gestellt und lebe weiterhin von meiner schönen gesparten Werbekohle, die tollerweise nicht nur für die Zeit des Bachelor gereicht hat, sondern mich auch noch zwei Jahre durch den Master trägt. Richte mich aber seelisch darauf ein, irgendwann kellnern zu gehen.
2. Mehr ausgegeben oder weniger?
Weniger. Die anderthalbfache Miete und die Flüge zwischen München und Hamburg sind seit März weggefallen.
3. Mehr bewegt oder weniger?
Gleichgeblieben. Ich radele weiter durch die Stadt und vermisse ein Auto nur, wenn ich über Ikea nachdenke oder Schlösser und Klöster außerhalb der Stadt besichtigen will.
4. Der hirnrissigste Plan?
Eine Beziehung wiederbeleben zu wollen, die schon tot war. Ich habe ungefähr ein Jahr gebraucht, bis dieser Fakt wirklich bei mir angekommen war, aber jetzt ist er angekommen.
5. Die gefährlichste Unternehmung?
Überraschend nach Hamburg zu fliegen. Die drei damals für mich wichtigsten Männer in meinem Leben gleichzeitig vergrätzt. Badly played, Gröner, truly badly played.
6. Die teuerste Anschaffung?
Der Umzug von Hamburg nach München.
7. Das leckerste Essen?
Ein wundervolles Menü im Le Restaurant in Amsterdam und gestern abend, noch so gerade auf der Zielgerade, das beste Steak meines bisherigen Lebens im Theresa.
8. Das beeindruckendste Buch?
Comic: Ich habe nur den neuen Asterix gelesen.
Sachbuch: Walter Isaacsons Steve-Jobs-Biografie und 1913: Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies.
Fiktion: Purple Hibiscus von Chimamanda Ngozi Adichie. Ich müsste in diesem Jahr ungefähr fünf Belletristikbücher gelesen haben, wenn ich meinen Instagramstream oder meine wackelige Erinnerung konsultiere. Ich habe nicht mal Siri Hustvedts The Blazing World durchbekommen, obwohl es genau meins sein müsste. The Sachbuch für die Uni is strong in this one.
9. Der ergreifendste Film?
Le tout nouveau testament, dicht gefolgt von Inside out. Sehr gut unterhalten haben mich The Martian und (ich bin immer noch davon überrascht:) Star Wars VII – The Force Awakens. Völlig geflasht hat mich Ex Machina (hier die beste Kritik, die ich zu diesem Film gefunden habe, die auch gut erklärt, warum ich es trotz aller Begeisterung fürchterlich unangenehm fand, den Film anzuschauen).
10. Die beste CD? Der beste Download?
Ich habe 2015 nur eine MP3-Sammlung gekauft (Vulnicura von Björk) und ansonsten Spotify gehört.
11. Das schönste Konzert?
Ich war nur in einem: Die Münchner Symphoniker spielten mit Alexey Stadler. Dafür war ich zwölfmal im Theater und davon hat mir Am Beispiel der Butter im Residenztheater am besten gefallen.
12. Die tollste Ausstellung?
Mit weitem Abstand Louise Bourgeois im Haus der Kunst sowie Keith Haring in der Kunsthalle. Es ärgert mich, dass ich darüber nicht geschrieben, sondern „nur“ gepodcastet (1, 2) habe. Ich werde versuchen, wieder mehr über meine Ausstellungsbesuche zu bloggen. Ich lese lieber als jemandem zuzuhören, selbst wenn ich es selbst bin, der ich zuhöre.
13. Die meiste Zeit verbracht mit …?
… zweifeln.
14. Die schönste Zeit verbracht mit …?
… lernen. (Und geküsst werden.)
15. Vorherrschendes Gefühl 2015?
HILFE!
16. 2015 zum ersten Mal getan?
In Amsterdam gewesen. Eine Bachelor-Arbeit geschrieben. Aus einem Zweitwohnsitz einen Erstwohnsitz gemacht. Ein Studium beendet (BA).
17. 2015 nach langer Zeit wieder getan?
Ein Studium begonnen (MA). Eine Beziehung beendet. Umgezogen. Eine Beziehung begonnen.
18. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Tränen wegen der Trennung, Tränen wegen der BA-Arbeit, Tränen wegen des Umzugs.
(Tränen wegen eines verlorenen Handschuhs. Tränen wegen des Nudelholzes, das noch in Hamburg liegt. Tränen, weil ich ein Buch weggeschmissen habe, das ich vier Wochen später gebraucht hätte. Tränen, weil Post von der Hausratsversicherung im Briefkasten ist. Tränen, weil’s regnet, Tränen, weil die Sonne scheint. Meine Fresse, ging mir das auf die Nerven und an die Substanz. Seit ungefähr einer Woche ist es deutlich besser, und ich hoffe, das bleibt so.)
19. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Mich selbst, dass alles irgendwann irgendwie wieder gut wird. Ist noch work in progress.
20. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Einen überraschenden Kuss. (Glaube ich.)
21. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Mich im richtigen Moment in den Arm zu nehmen.
22. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt geschrieben hat?
„Frau Anke Gröner, geboren am … in …, hat am 18. Juli 2015 die Bachelorprüfung für den Studiengang Kunstgeschichte bestanden. Endnote: sehr gut. Aufgrund dieser Prüfung wird hiermit der akademische Grad Bachelor of Arts (B.A.) verliehen.“
Ich habe einen akademischen Grad! Ich freue mich darüber immer noch und öffne ab und zu den grünen LMU-Ordner und bewundere meine BA-Urkunde. (Die bessere Ehrenurkunde!)
Den schönsten Satz des Jahres hat F. zu mir gesagt, und der ist so schön, dass ich ihn für mich behalte.
23. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
„Danke.“
24. 2015 war mit einem Wort …?
Berg-und-Talfahrt.
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What Anke ate in 2015
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Tagebuch Donnerstag, 5. November – Crash and burn and cry and grieve
Einer dieser Tage, wo mich eine Kleinigkeit auf dem falschen Fuß erwischt und die ganze schöne gut gelaunte Fassade den Abgang macht. Ich las mal wieder über Wagner, stieß auf ein Buch, das interessant klang, suchte vergeblich nach ihm im OPAC der Unibibliothek, dann in dem der Stabi, wo ich es fand und wo vor allem das Titelbild abgebildet war. Sobald ich es sah, wusste ich, das hast du, du Knalltüte, das müsste nebenan im Regal stehen, wo du anscheinend echt keinen Überblick mehr darüber hast, was dir gehört. Ich ging also nach nebenan, guckte in der Musikecke, in der Biografienecke, etwas verwirrt in der Geschichtsecke, bis mir einfiel: Das Buch hatte in Hamburg nicht im Regal gestanden. Das lag auf dem riesigen Stapel ungelesener Bücher, der sich seit drei Jahren nicht mehr bewegt hatte bis auf ganz wenige Bücher, die ich mit nach München genommen hatte, um sie zu lesen.
Im Nachhinein unter „dumm gelaufen“ abgelegt: Sobald ich Bücher in München gelesen hatte, habe ich sie wieder nach Hamburg geschleppt, um sie ins dortige Regal zu stellen – nur um sie im September wieder in Umzugskisten zu packen und zurückzutransportieren. Der Stapel ungelesener Bücher wanderte allerdings nicht in die Umzugskisten; dort kam meine Taktik „Liegt hier seit drei Jahren rum und wurde weder vermisst noch benutzt – kommt weg“ zum Einsatz. Also warf ich ein nagelneues Buch in die Tonne, nur um es zwei Monate später für die Uni zu suchen. Und sobald mir klar was, was mit ihm passiert ist, fing ich an zu weinen, weil es mich an den Umzug erinnerte, an die Trennung, an den Kerl, an das Vorher.
Dieser ganze Trennungsrotz überfordert mich. Ich weiß, dass der Kerl mich wochenlang auf Twitter gemutet hatte, weil er mich nicht lesen konnte. Ich hatte ihn kurzzeitig auf Facebook entfreundet, weil er mir da ständig überraschend in die sehr ausgewählte Freundestimeline hüpfte. Jedes Instagrambild aus Hamburg tut weh, jedes Twitterfoto, auf dem seine Hände zu sehen sind, an die sich mein Körper noch gut erinnert, jeder Swarm-Check-in bei Orten, die ich mit ihm verbinde. Und trotzdem will ich nicht auf Social Media verzichten, weil ich wissen möchte, ob es ihm halbwegs gut oder wenigstens nicht allzu scheiße geht, weil ich mir Sorgen mache oder weil ich mich freue, wenn er gute Laune hat, weil es schön ist, wenn er gute Laune hat. So mochte ich ihn am liebsten, und ich vermisse seine schlechten Witze sehr.
Gleichzeitig gibt es aber nun hier einen Nachfolger, was mich immer noch überrascht, weil ich schlicht nicht damit gerechnet hatte, mich so schnell wieder neu zu verlieben. Eigentlich war ich nach der Trennung im März davon ausgegangen, ein Jahr heulend in der Gegend rumzuhängen (das könnte klappen) und dann fünf Jahre lang alle Internet-Singlebörsen durchzuspielen (ich hoffe, das bleibt mir erspart). Dass ich nur wenige Wochen nach der offiziellen Trennung, die wahrscheinlich schon längst inoffiziell vollzogen war, ohne dass wir beide das mitbekommen haben, jemand anderen lieben würde, war nicht vorgesehen – und es überfordert mich an manchen Tagen immer noch. Nicht die Liebe, die ist super. Aber der Abschied von der ehemaligen Liebe, die immer noch eine tiefe Zuneigung ist, der überfordert mich.
Vielleicht auch, weil die beiden Welten nicht mehr so schön klar voneinander getrennt sind: Hamburg war Kerl, München war Studium. Jetzt ist München Studium und neuer Mann, und mein Tag besteht nicht mehr nur aus Lernen, Tee trinken, grinsend durch München radeln oder beim ehemaligen Mitbewohner auf der Couch Bier trinken, sondern da ist jetzt jemand, ein Gefühl, eine Aufgabe, die bisher nach Hamburg gehört hat. Ich vermisse meine alten Strukturen, obwohl sie mich anscheinend so genervt haben, dass ich sie ändern wollte (Studium, in eine andere Stadt ziehen). Ich muss mir neue Strukturen schaffen, neue Zeitabläufe, ich muss damit klarkommen, dass ich jetzt hier bin und nicht mehr hier und dort.
An Tagen wie gestern würde ich am liebsten die leeren Umzugskisten, die noch im Keller stehen, gleich wieder vollpacken und ganz woanders hinziehen, wo ich kein soziales Netz habe, Dresden, Weimar – ich habe den Osten noch nicht aufgegeben und ich würde da gerne mal hin. Irgendwo das MA-Studium zuende machen, dabei quasi nix von meinen Ersparnissen für Miete investieren (gerade mal geguckt: Für das Geld, was ich hier in München für meine 44 Quadratmeter zahle, kann ich in Weimar in einem Altbau mit vier Zimmern und zwei Bädern wohnen), alleine sein, Serien gucken, lernen, Freundschaften übers Internet halten, fertig. Vielleicht fehlt mir das zeitweilige Alleinsein, also das richtig Alleinsein, nicht nur das „Ich hab hier in München quasi Singlestatus, aber in Hamburg wartet jemand auf mich“. Vielleicht hätte der Einschnitt klarer sein müssen, vielleicht hätte es überhaupt einen Einschnitt geben müssen und nicht so eine wachsweiche Statusänderung wie ich sie vollzogen habe, aus einer Stadt einfach in eine andere, die ich schon kenne, zu einem Mann, den ich schon kenne. Vielleicht trauere ich deshalb so komisch in Schüben in der Gegend rum, weil ich nicht richtig zum Trauern gekommen bin.
Und gleichzeitig bin ich wütend. Wütend über uns, weil wir es nicht gebacken gekriegt haben, wieder zusammenzufinden, wütend über ihn, weil er noch in unserer wunderschönen Wohnung wohnt, wo verdammt noch mal Platz für meinen ungelesenen Bücherstapel war, wütend auf mich, weil ich gefühlt diejenige war, die gegangen ist, wütend auf München, weil’s hier so schön ist, wütend auf die Uni, weil sie meinen Plan durchkreuzt hat, wieder Werbung machen zu wollen, wütend auf den neuen Mann, weil er mir sorgenvoll niedliche Pinguinbilder schickt, während ich weine und wütend bin und jetzt keine Pinguinbilder brauchen kann, weil ich dann nicht mehr weinen und wütend sein kann. Und dann denke ich, wieso ist es erst 13 Uhr und ich sitze hier mit Tee am Schreibtisch, wieso ist es nicht zehn Uhr abends, wo ich Pizza bestellen könnte, damit der Wein im Magen nicht so alleine ist?
Und dann schreibe ich das alles auf und putze mir die Nase und lese weiter über Wagner. Bis mich wieder eine Kleinigkeit umhaut.
Das wird ein tolles Jahr.
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Tagebuch 31. Oktober – Feines Fresschen
Spontan Lust auf ein bisschen mehr Kochen gehabt. Anstatt also zum Tengelmann nebenan zu gehen, um meine üblichen unscheinbaren Wochenendeinkäufe zu erldigen, fuhr ich in meine liebste Fressabteilung, die im Kaufhof am Marienplatz, wo ich eine Lammkeule (ich soll ja mehr Fleisch essen), Jakobsmuscheln, bergeweise frische Kräuter und Babyspinat erstand. Die restlichen Zutaten für mein Festessen hatte ich im Haus.
Als Aperitif bekam F. meinen Lieblingscrémant vorgesetzt, der es zeitlich leider nicht zu unserem Podcast geschafft hatte, bei dem ich mit ihm punkten wollte. Ich mag die leichte Birnennote, wobei F. eher Apfel geschmeckt hat.
Die Vorspeise war blitzschnell und simpel. Ich hatte noch eine Avocado rumliegen, weswegen ich überhaupt auf die Muscheln gekommen bin, weil ich mir die Kombi ganz schmackhaft vorgestellt hatte – zu recht. Butter erhitzen, ein paar angeknackte Knoblauchzehen dazu, so dass die Butter den Geschmack annimmt, die Jakobsmuscheln von jeder Seite so um die zwei Minuten braten, damit sie innen noch fast glasig bleiben. Alles mit Zitronensaft ablöschen, Muscheln zu Babyspinat und Avocado auf den Teller, Zitronenknoblauchbutter drüber, fertig. Mache ich garantiert noch mal, das hat mir gut gefallen: die weiche, cremige, kühle Avocado, der frische Spinat (der hätte noch kälter sein müssen) und die heiße, würzige und gleichzeitig so zarte Muschel.
Dann gab’s meinen Lieblingsbraten, auf den ich total Lust hatte, auch wenn ich damit nicht meinen neuen schönen Bräter einweihen konnte, denn die Lammkeule gehört auf ein Blech. Frische Kräuter hacken (alles, was da ist), mit Olivenöl mischen, damit das Fleisch einreiben und für ein paar Stunden bei Zimmertemperatur rumstehen lassen. Dann mit ein paar ungeschälten Knoblauchzehen und ordentlich Öl auf ein Blech und bei 230 Grad braten. Pro 500 g Fleisch 15 Minuten rechnen und ab und zu mit dem Kräuteröl begießen, dann wird das Fleisch innen rosig und außen knusprig. Eine Viertelstunde vor Schluss warf ich noch ein paar Tomaten aufs Blech und mischte, während die Keule ruhte, den Bratensatz mit etwas Sahne (keine Lust gehabt, ein anständiges Sößchen so mit Reduktion und so weiter zu machen). Dazu gab’s Polenta mit eingelegten Tomaten und angerösteten Pinienkernen sowie grüne Bohnen.
Den Wein brachte F. mit, den hatte er in Bilbao entdeckt und sich an ein Weingut erinnert, von dem wir in Amsterdam einen hervorragenden Weißwein hatten. Jetzt können wir sagen: Rotwein könnense auch. Mich erinnerte er an einen Brombeerbusch, der mit Kirschwasser übergossen wurde und einen winzigen Hauch Pfeffer mitgekriegt hatte. Im Mund ist er zunächst sehr trocken, macht sich dann aber richtig schön breit und bleibt noch ein bisschen bei einem. Schönes Zeug! (Und so bezahlbar!)
Als Nachtisch gab’s meinen Lieblings-Apfelkuchen, der jedesmal wundervoll fluffig-fruchtig wird.
Ein Espresso für mich, der Rest Crémant für F., und während ich abwusch (das mache ich lieber alleine), ließ F. It’s the Great Pumpkin, Charlie Brown auf dem MacBook laufen. Das war ein schöner Abend.
Ich habe den Instagramteller gekriegt, es muss Liebe sein.
— Felix M (@SammyKuffour) October 31, 2015
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Tagebuch 21. September 2015 – Next!
Gestern um 11.15 Uhr schlug endlich die Mail des Prüfungsamtes bei mir auf, auf die ich seit Wochen gewartet hatte, und die mir mitteilte, dass meine Abschlussdokumente nun abholbereit wären. Das Amt hat bis 12 geöffnet. Ich überschlug kurz: Noch 24 Stunden warten und brav um 9 aufschlagen, um die Mappe abzuholen? Oder jetzt blitzschnell aus den Schlumpfklamotten schälen, die Wärmflasche vom Bauch nehmen (Frauenkram, Sie wissen schon) und aufs Fahrrad schwingen, um so gerade noch vor Schluss aufzulaufen? Die offensichtliche Antwort war die zweite, und so war ich um 11.40 im Prüfungsamt. Das uninahe Wohnen hatte sich mal wieder ausgezahlt.
Ich nannte meinen Namen und bat um meine Abschlussdokumente. Dafür musste ich ein Formular ausfüllen und unterschreiben: Name (krieg ich hin), Studiengang (klar), Matrikelnummer … konnte ich noch nie auswendig, aber ich hab ja immer meinen Studiausweis dabei. … Nicht. … Fürs Oktoberfest am Sonntag abend hatte ich mein Portemonnaie ausgeräumt und nur ein bisschen Geld, die EC-Karte, Perso und mein Semesterticket dringelassen. Nix Studiausweis. Aber, und ich bin sehr froh, dass mir das noch eingefallen ist, bevor ich den Besuch anrief, um ihn zu bitten, mir mal eben telefonisch meine Matrikelnummer aufzusagen vom Ausweis, der irgendwo in der Küche liegt, die im Moment eher dem Bermudadreieck ähnelt, aber, wie gesagt: das musste ich nicht machen, denn auf dem Semesterticket steht die Nummer auch drauf. Wenn man in München kontrolliert wird, muss man Ticket, Studiausweis und Perso vorzeigen. Okay, musste ich noch nie, aber das ist die offizielle Ansage. (Jetzt beim Schreiben fällt mir auf, dass ich dann gestern und vorgestern auch nicht alle Dokumente für die ordnungsgemäße Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs dabei gehabt hätte. Ups.)
Formular ausgefüllt und unterschrieben, Mappe in die Hand gedrückt bekommen, die Dame im Amt wünschte mir alles Gute, und dann konnte ich draußen im Gang endlich meine Endnote angucken, von der ich noch nicht wusste, wie sie lautete.
Ich bin sehr stolz und glücklich. Hier könnt ihr nachlesen, womit ich mir die letzten drei Jahre die Zeit versüßt habe. Und ich warte weiterhin auf die MA-Zusage. Bis Mitte Oktober – vulgo: Semesterbeginn – hab ich noch Zeit. Knurr.
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Tagebuch 16. September 2015 – Eine Wand voller Bücher (I’m in love)
Dienstag nachmittag. Kleine Pause beim Ausräumen von über 50 Kisten.
Mittwoch morgen. Mein geliebtes Metalltablett ist jetzt endlich hier. Ich nutze es für mein erstes Frühstück in der gefühlt neuen Wohnung. Neben mir die noch eingepackte, kopfstehende Luise, die hoffentlich am Wochenende ihren Platz an der Wand kriegt.
Mittwoch, gegen 13 Uhr. Ich sage mir zum hundertsten Mal das Alphabet auf, weil ich nie weiß, wann welcher Buchstabe kommt. Daher muss ich auch dauernd komplette Regalbretter eins rauf oder eins runter räumen, weil zwischen M und O total überraschend noch N kommt.
Mittwoch, gegen 18 Uhr. Alle Bücher sind eingeräumt, und alle, die nicht hier im Regal stehen, stehen in der Küche, weil sie Kochbücher sind, oder liegen in Einkaufstüten im Flur und werden in den nächsten Tagen verklappt, weil ich schlicht keinen Platz mehr für sie habe – weder im Regal noch im Herzen. (Hier Geigenmusik in moll vorstellen.)
Heute wird aus dem Krisengebiet nebenan hoffentlich eine Küche. Es ist übrigens alles heil angekommen, auch Omis Teeservice, meine geliebte dünnwandige Wasserkaraffe aus der DDR, die so super zu den rauchgrauen Ikea-Wassergläsern passt, und der teure Wein. Ich freue mich sehr und empfehle mal eben meine tollen Umzugsjungs weiter.
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Tagebuch 6. September 2015 – Amsterdam, Tag 4
Amsterdam war unser erster (und hoffentlich nicht letzter) gemeinsamer Urlaub. Erst am Ende der Reise merkte ich, dass ich F. quasi die komplette Planung überlassen hatte: Wann fliegen wir los, wann zurück, was machen wir, wenn wir da sind. Einzig das Hotel kam von mir, da hatte mir eine freundliche Twitter-Followerin ein gutes Plätzchen empfohlen, nur wenige Gehminuten vom Museumplein entfernt, wo sich Rijskmuseum, Stedelijk und das Van-Gogh-Museum befinden. Wenn ich alleine geflogen wäre, hätte ich gestern entspannt ausgeschlafen, ausgiebig gefrühstückt, mich dann reisefertig gemacht und wäre zum Flughafen gerollkoffert. Stattdessen wartete noch Programm auf uns, während unsere Koffer im hoteleigenen Schränkchen außerhalb unserer Zimmer standen. Mir fehlte ein bisschen das Gefühl, eine Homebase zu haben, zu der man zurückkehren kann, aber das merkte ich eben erst gestern. Ich brauche anscheinend immer was zum Festhalten, sei es eine Person oder ein Ort.
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Letztes Museum der Reise: das Van-Gogh-Museum. Ich mag van Gogh sehr gerne (wer nicht) und freute mich daher sehr, auch wenn ich gespannt war, wie ein Museum damit umgeht, dass quasi alle Bilder, die man eben so von van Gogh kennt, genau hier nicht hängen. Aber bevor mir diese Frage beantwortet wurde, standen wir erstmal eine Stunde lang in der Kassenschlange. Wir naiven Frohnaturen hatten gedacht, unsere tolle Museumkaart würde den Einlass beschleunigen, aber dem war nicht so. Die Zeit verging allerdings trotzdem angenehm schnell; wenn wir uns nicht unterhielten, versorgte uns das Museum schon draußen mit freiem WLAN, und so konnten wir lesen und twittern und überhaupt kann einem ja gar nicht langweilig werden, wenn man ein Smartphone hat. Freies WLAN gab’s übrigens in so ziemlich jeder Location, in der wir eincheckten, egal ob Museum oder Kneipe. Tach, Deutschland, du altmodische 3G-Schnecke.
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Im Museum selbst kommen zuerst Gift Shop, Garderobe und die elegantesten Klos, die ich in Amsterdam gesehen habe (gerne wieder!). Dann chauffiert eine Rolltreppe einen in die eigentlichen Ausstellungsräume, die sich auf vier Ebenen befinden und chronologisch angeordnet sind. Unten begann alles mit verschiedenen Selbstporträts, an denen ich relativ schnell vorbeischlenderte. Damit war ich allerdings ziemlich alleine: Die meisten Besucher waren mit Audioguides ausgerüstet, der sie anscheinend zunächst zum allerersten Bild schickte – und da stellten sich dann auch alle an. Ernsthaft. Eine Schlange vor einem Bild, und diese Schlange zog sich dann an der Wand entlang weiter zum nächsten. Das hatte ich noch nie gesehen, fand es sehr merkwürdig – und ignorierte es total, indem ich einfach zu dem Bild ging, das ich jetzt angucken wollte und fertig. Wo sind wir denn hier.
Der erste Stock gefiel mir schon besser. Das Bauernhaus (1885) zog meine Blicke auf sich und ich besah mir genau, wo van Gogh Lichtpunkte gesetzt hatte, wo welche Brauntöne zum Einsatz kamen (und welche weiteren Töne eben nicht), wie er das Gebäude dreidimensional modellierte, was im Hintergrund passierte. Im Obergeschoss hing ein weiteres Bauernhaus (1890), so dass ich gut vergleichen konnte: Wie anders malte van Gogh nur wenige Jahre später ein sehr ähnliches Motiv, wie wenig interessierte ihn noch eine nachvollziehbare, architektonische Wiedergabe, wie anders leuchteten die Farben, wie fast egal war auf einmal der Hintergrund, weil das Wichtige eben das Hauptmotiv war. Auch eine bewusste Lichtsetzung ist kaum noch zu erkennen, viel spannender waren die Farben, die nun das Haus formten. Das gefiel mir am Museum außerordentlich gut: wie einfach man durch die chronologische Ordnung und eine kleine thematische Gliederung nachvollziehen konnte, wie van Gogh sich entwickelte.
Mit Stillleben kriegt man mich bekanntlich immer; hier gefielen mir die Zitrusfrüchte (1887) besonders gut, vielleicht weil ich vor zwei Tagen im Rijksmuseum so viele Stillleben mit Zitronen gesehen hatte und wiederum vergleichen konnte. (Das ist ja quasi die Hauptbeschäftigung der Kunstgeschichte: vergleichen.) Auch vor einem Stillleben mit Geschirr (1885) und vor einem mit Rotkohl (1887) stand ich recht lange und besah mir vor allem die Farben und die immer kräftiger werdenden Pinselstriche, die schließlich zu Farbauftrag per Palette wurden und diesen typisch pastosen, fast holzschnittartigen Stil erzeugten. Ganz anders: die vielen Zeichnungen und Studien, die mir ebenfalls gut gefielen, zum Beispiel die hier von einem jungen Mann (1884/85). Davon hätte ich gerne mehr gesehen.
Vor den etwas bekannteren Werken wie dem Zimmer in Arles (1888) oder den Mandelblüten (1890) drängten sich die Menschen genau wie vor allen anderen Bildern; es war kaum möglich, mal alleine vor einem Bild zu stehen, aber dafür, dass anscheinend alle BesucherInnen Amsterdams in dieses Museum wollen, war es doch ziemlich erträglich. Neben der Sternennacht sind die Mandelblüten mein Lieblingsbild von van Gogh, und daher wurden sie die Grundlage für mein einziges Reiseandenken.
Die Sonnenblumen sind mir sehr egal, wie ich zugeben muss; eine Version hängt auch in der Neuen Pinakothek, aber dort mag ich den Blick auf Arles viel lieber.
Im oberen Stockwerk wies die Beschriftung auf das vermutlich letzte Werk von van Gogh hin: die Baumwurzeln (1890). Das kannte ich zugegebenermaßen noch nicht und war überrascht, wie abstrakt es schon wirkte. Mal wieder das Leben van Goghs bedauert und mich gefragt, ob es ihn glücklich gemacht hätte zu wissen, dass Menschen aus der ganzen Welt in langen Schlangen stehen, um seine Bilder sehen zu können.
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Das klingt jetzt alles ganz toll, aber das van-Gogh-Museum hat mich von den vielen Museen, die wir besichtigten, am wenigsten zum Wiederkommen animiert. Es ist wunderbar aufgebaut und ich glaube, man kann viel lernen und mitnehmen, aber mich persönlich hat es eher unberührt gelassen – vielleicht weil es mir so verschult vorkam. Ich freue mich jetzt schon darauf, nochmal im Rijksmuseum durch die unendlich vielen Säle zu gehen und Dinge zu entdecken, aber hier hatte ich am Ende des Rundgangs das Gefühl, jau, passt, hamwa jesehen, reicht jetzt.
Ich ging wieder ins Erdgeschoss, wartete auf F., der sich noch oben rumtrieb, und guckte auf eine Videoinstallation, die in vielen Bildern den Einfluss van Goghs zeigte; Variationen der Sternennacht, des Zimmers, des Selbstporträts, halt alle die Bilder, die wir kennen. Erst da wurde mir klar, wie sehr van Goghs Werke zu unserem kulturellen Gedächtnis gehören und wie groß sein Einfluss nicht nur auf die Kunst, sondern auch die Populärkultur war. Das war für mich eine größere Erkenntnis als alle, die ich oben vor den Bildern gemacht hatte.
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Zum Abschluss schlenderten wir noch ein wenig durch den Skulpturengarten des Rijksmuseums und füllten die leeren Mägen mit viel Torte und heißer Schokolade, bevor wir uns wieder in eine Tram quetschten, die uns zum Bahnhof fuhr. Wir fuhren durch das alte Amsterdam, das ich nicht erbummelt hatte, weil meine Füße früher streikten als mir lieb war, was mich sehr ärgerte. Das war in Rom vor ein paar Jahren noch anders. Ja, ich bin älter geworden, aber anscheinend hat mich das ständige Radfahren meine Fußkondition gekostet. Ich brauchte mehr Pausen, was F. gutmütig mitmachte, aber für die nächste Reise werde ich trainieren. Ich habe längst nicht so viel gesehen, wie ich sehen wollte, aber im Nachhinein bin ich sehr froh darüber, mal runtergekommen zu sein, die blöde Wohnsituation und das Warten auf meine BA-Note und den Studienplatz außen vor lassen zu können. (Natürlich habe ich trotzdem täglich online nachgeguckt, ob die Note oder der Platz jetzt mal da sind. Sind sie nicht.)
Mach’s gut, Amsterdam, du kleiner Schnuckel – ich komme wieder. Die Museumkaart gilt ja noch bis Anfang September 2016.
„Wieviel gibst du mir, damit ich niemandem erzähle, dass du dir keine einzige Kirche angeguckt hast?“ #AMS
— ankegroener (@ankegroener) September 6, 2015
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Tagebuch 5. September 2015 – Amsterdam, Tag 3
Nach dem weinseligen Festmahl gestern schliefen wir aus, womit wir jede Chance auf einen zeitigen Einlass im Van-Gogh-Museum verspielten, für den man quasi davor campieren muss. (Oder man ist schlau und bucht ein Ticket für einen bestimmten Zeitslot, aber wir hatten ja die tolle Museumkaart und dachten, ach, da stellen wir uns dann halt morgen kurz in die Schlange. Wie das ausging, kann man sich fast schon denken, aber so klug waren wir Samstag halt noch nicht.)
Nach dem Frühstück spazierten wir zum Foam, dem Fotografiemuseum in Amsterdam. Ich war ein bisschen wackelig auf den Beinen, was weniger mit Alkohol und mehr mit Kreislauf zu tun hatte, wusste aber nicht, warum die kleine Diva gerade so memmig war. Im Foam nutze ich jede Sitzgelegenheit und war nicht ganz so konzentriert, wie ich gerne gewesen wäre. Die drei Ausstellungen, die wir uns ansahen, waren netterweise aber recht schnell zu durchschreiten, und zwei gefielen mir auch sehr gut. Die dritte war für mich ein Totalausfall; die Welt braucht meiner bescheidenen Meinung keine weiteren Bilderserien mehr von sehr dünnen (doofe Formulierung, ich ändere in:) normschönen, eher unbekleideten, weißen, jungen Damen, die irgendeinen inneren und gerne auch äußeren Schmerz vor der Kamera zeigen. But that’s just me. Da gefielen mit die Auseinandersetzung mit Transsexualität von Momo Okabe oder die mit der heutigen Medienvielfalt von Anne de Vries weitaus besser.
Einmal über die Gracht rüber. Dabei gingen wir am Stadtarchiv vorbei, bei dem ich sehr stolz war, die Bauzeit ungefähr richtig geschätzt zu haben.
Es ging ins Museum van Loon – einem Privathaus auf dem 17. Jahrhundert von einem der Gründer der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Das Haus wird heute noch von den Nachfahren bewohnt und ist seit den 1970er Jahren für die Öffentlichkeit zugänglich. Man durchschreitet hochherrschaftliche Räume sowie Privatgemächer, die Küche, an deren Tür steht, dass man sie bitte schließen soll, damit die Katze nicht reinkommt, sowie den Garten und das Kutschenhaus. Letzteres war leider für eine private Feier geschlossen, aber ich war auch so sehr glücklich mit den vielen Möbeln, Wandbezügen, Paneelen und natürlich Bilder über Bilder, die an den Wänden hingen. Das viele Geschirr hatte es mir angetan, das im Esszimmer auf dem Tisch eingedeckt war, genau wie die blauweißen Porzellanvasen, die oben auf einem dafür ausgelegten Schrank zur Dekoration standen. Es war ein bisschen wie gestern im Rijksmuseum, nur dass da nicht zentimeterdickes Panzerglas zwischen mir und dem Objekt war – manchmal nur ein gespanntes Seil, meist aber gar nichts. Wunderschön.
Weniger wunderschön: Mein Kreislauf drängelte zurück ins Hotel, wo ich kraftlos zwei Stündchen verdämmerte, während F. den ZERO-Katalog aus dem Stedelijk besorgte, um den wir seit zwei Tagen rumschlichen und sich noch eine Ausstellung dort ansah.
Gemeinsam machten wir uns dann zu einer temporären Attraktion Amsterdams auf: dem Sonnenblumenlabyrinth, mit dem das Van-Gogh-Museum seinen neuen Eingangstrakt einweihte. 125.000 Sonnenblumen waren für zwei Tage zu einem Irrgarten aufgestellt. Im Labyrinth selbst standen Fragen an Vincent an den Wänden, deren Antworten man in einer eigens dafür konzipierten App finden konnte. Es machte viel Freude, durch die Sonnenblumen zu schlendern; überall standen kleine Kisten, auf die man sich stellen konnte, um gerade so über die Blumen hinwegfotografieren zu können. Vor dem Labyrinth selbst gab es eine kleine Aussichtsplattform, und selbst wenn man sich verirrte, wurde man belohnt: Mitten drin stand ein Musiker, der ein kleines Konzert gab, und sich mit weiteren Acts den ganzen Tag über abwechselte.
Und weil wir ja gestern quasi nichts gegessen hatten *hust*, gönnten wir uns zum Tagesabschluss noch die 17-gängige Rijstafel im Sama Sebo, wo wir spontan einen Tisch ergattern konnten. Gemüse in Kokosmilch oder Erdnusssauce, verschiedene Spießchen, eingelegte Gurken, Sojasprossen, Bohnen, Erdnüsse, fein gesalzen, alles mild, scharf, sauer oder würzig, zum Schluss gebackene Banane – ich mochte diese fast unendliche Vielfalt sehr gerne, wüsste aber nicht, wie man das jemals aufessen sollte.
Aber selbst wenn der Speise- und der Dessermagen voll sind – der Schnapsmagen kann immer noch. Mein erstes quietschsüßes Fruchtbier im Kingfisher-Café ließ mich glücklich grinsen, während F. ganz erwachsen hochprozentige Biere trank.
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Tagebuch 4. September 2015 – Amsterdam, Tag 2
Nach der modernen Kunst am ersten Tag ging’s heute zu den Alten MeisterInnen ins Rijksmuseum. Dort findet man Kunst, Kunsthandwerk und weitere Sammlungen aus neun Jahrhunderten. Bereits im Erdgeschoss faszinierte mich die Romanik und Gotik (wie immer) mit ihrer schlichten Gläubigkeit, die so feinfühlig und überzeugend präsentiert wurde. Ich mag den Goldgrund der frühen Bilder, und ich mag die stilisierten Posen der Skulpturen. Dieses Werk des Meisters von Joachim und Anna von ca. 1470 hat mich sehr berührt mit seiner Zärtlichkeit. Auf einem weiteren Bild suchte ich die Attribute der Heiligen, bis mir der Objekttext erklärte: Sie sind als Halsketten sichtbar (Katharina mit Schwert und Rad, Barbara mit Turm usw.).
Im zweiten Stock wartete dann die Ehrengalerie, eine lange Raumflucht, die auf Rembrandts Nachtwache zulief. Ich muss zugeben, ich kann mit dem Werk immer noch nichts anfangen; seine Jüdische Braut hat mich allerdings dieses Mal erwischt. Das Bild kannte ich nur aus Katalogen, aber im Original hat es mich durch seine Plastizität sehr gefesselt.
Das Bild, auf das ich mich am meisten gefreut hatte, war auch das, auf das sich anscheinend alle anderen am meisten gefreut hatten. Vor Vermeers Milchmädchen drängelten sich Gruppen und EinzelbesucherInnen; eine Dame mit überbordendem Haarschopf zog sich meinen ganz persönlichen Hass zu, als sie direkt vor dem Bild stand, es aber keines Blickes würdigte, sondern sich ständig hin- und herdrehte, um ihren Freund, Mann, was weiß ich zu finden, der ihr schließlich von hinten eine Digicam reichte – sie knipste (immerhin ohne Blitz – dann hätte ich sie auch getreten), guckte aufs Display, war anscheinend mit dem Ergebnis zufrieden und ging durch die Menschentraube nach hinten. Ohne das Bild wirklich angeschaut zu haben. Dusselige Kuh.
Nach kurzem Durchatmen konnte ich dann endlich an ihren Platz und stand vor dem Bild. Es ist wunderschön (totale Überraschung), und ich war mehr gerührt als ich dachte. Aber: Tränen runtergeschluckt und intensiv aufs Bild gestarrt, wir sind ja schließlich nicht zum Spaß hier. Ich liebe an dem Bild die Lichtstimmung; ich mag das helle Weiß des Häubchens, das fast zu leuchten scheint. Ich mag die klare Farbigkeit, das kraftvolle Blau des zur Arbeit gerafften Rockes, das schimmernde Gelbgrün der Armel und das effektvolle Rot des Unterrocks, was von unten ins Bild leuchtet. Am liebsten mag ich aber die Stofflichkeit der gelben Wamses, bei dem man fast das Gefühl hat, die einzelnen Webfäden zählen zu können. Der Verschluss hat es mir besonders angetan, die Nähte, die von oben bis unten durch das Gelb laufen. Ich mag die stille Konzentration des Mädchens; es gibt kaum einen Vermeer, der mich mehr zu beruhigen vermag. Was mir aber direkt vor dem Bild erstmals aufgefallen ist: dass das blaue Tuch auf dem Tisch beleuchtet ist. Dieser kleine helle Fleck, der das Blau in vielen verschiedenen Tönungen strahlen lässt, ließ mich minutenlang nicht mehr los, bis ich an die Rotte hinter mir dachte und endlich mal andere gucken ließ.
Der zweite Stock war eh mein Liebling: Neben den vielen, vielen Bildern der Ehrengalerie, für die alleine sich der Eintritt schon locker lohnt, gab es Delfter Porzellan (hier ein paar schnieke Leuchter), mein Lieblingsstillleben, viele wunderschöne Möbel, Kristall, Silber, Pokale aus Muscheln und: Puppenhäuser. Was mir am Museum so gut gefallen hat: dass es keine reine Gemäldegalerie war, sondern sich die vielen Objekte teilweise zu einer Erzählung gruppierten. In einem Raum hingen Bilder von Interieurs, und wie durch Zufall standen direkt daneben Schränke, Kommoden und Stühle, die direkt aus dem Bild zu stammen schienen. In einem Raum zeigte ein Bild einen Stützpunkt der Niederländischen Ostindien-Kompanie am Ganges, und daneben stand ein Schaukasten mit Geschenken, mit denen man sich Geschäftskontakte warmhielt sowie eine Vitrine mit Porzellan, das von einem Schiff der Company stammte, das gesunken und erst vor wenigen Jahren geborgen wurde. Unter einem Bild vom Walfang lagen Wollmützen von den Männern, die auf den Booten gearbeitet hatten, neben einem Stillleben voller schöner Schüssel stand Geschirr.
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Nach dem Museum waren unsere Füße platt, und wir gingen ins Hotel zurück, um uns auf die Abendveranstaltung vorzufreuen: ein Besuch in Le Restaurant, ein winziger Laden knapp einen Kilometer vom Hotel weg, der seit Jahren einen Michelin-Stern hat. Die Fotos können nicht wiedergeben, wie wunderschön alles aussah – und noch weniger, wie hervorragend alles geschmeckt hat. Wir kugelten danach im Schritttempo ins Hotel, sehr glücklich und sehr wohlig angetrunken.
Der Reinkommer waren winzige Grissini und Gewürzplätzchen mit Hummus, der herrlich frisch nach Paprika schmeckte. Hab ich verfressenerweise nicht fotografiert. Dann kam das vom Koch persönlich an den Tisch gebracht und erläutert:
Ein kleiner Chip, der kaum gewürzt war, mit Geflügellebermousse, die dafür umso mehr Eindruck hinterließ.
Mit Sepia gefärbte Macarons und Makrelencreme drin. Die Macarons zerflossen quasi im Mund.
Mein zweitliebster Gang: warme, erdige Erbsensuppe mit kühlem Minzschaum und: Grapefruit … äh … also die einzelnen Tropfen aus den Filets. Die schwammen unten in der Suppe und zerplatzten frischfruchtig im Mund, der noch mit Erde, Wärme und Kühle beschäftigt war.
Das war ein äußerst wohlschmeckender Überraschungseigang: Eine Kartoffel, die nach Markknochen aussah, mit Heringsrogen, unter dem sich Rindertartar versteckte. Daneben ein bisschen Meerrettichschaum und Avocadocreme.
Mein Lieblingsgang: mit sehr viel Zitronigem marinierter Tunfisch, Wasabischaum und Fenchel. Hört sich erstmal wie die übliche Sushikombination an, war aber viel zarter und intensiver. Bei dem Gang war ich kurz davor, den Teller abzulecken.
Kabeljau, Auberginenpüree, Pfifferlinge, ein bisschen Gemüse – das war alles schon toll, aber dann kam die Beurre Blanc mit Zitronenthymian und machte alles tollstens von toll.
Der Hauptgang war der schwächste von allen, aber das ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Schweinefleisch finde ich relativ banal, auch wenn’s ein Iberico-Schwein war. Der Schweinebauch war allerdings ein Kracher (Kunststück, bei Fett und knackiger Kruste, da kann ja wirklich kaum was schiefgehen), und die winziges Blumenkohl- und Broccoliröschen waren bissfest und aromatisch. Die Sauce war mit Râs al Hânout gewürzt, was interessant war, aber irgendwie auch ein bisschen beliebig. Vorne leckeres Trüffelkartoffelpüree, hinter dem Fleisch, nicht zu erkennen, weil ich zu hektisch fotografiert habe, der eigentliche Star des Tellers: Spinat mit Estragon gewürzt. Da stank dann die gestern noch so gelobte Estragonmayonnaise aber ziemlich ab.
Der Käsegang aus fünf verschiedenen Käsen war herrlich – sieht aber auf dem Foto total doof aus, daher müsst ihr euch jetzt mal einen Teller mit fünf kleinen Stücken Käse und ein nussiges, hauchdünn geröstetes Früchtebrot dazu vorstellen.
Und dann gab’s endlich was Süßes.
Buttermilcheis mit Rhabarber, einmal geröstet, einmal geschmort, und dazu: Gurkenstückchen. Die waren der Hammer.
Ein Eclair mit Baiserstäbchen, Nektarine und Cassis-Parfait. Ich war nach drei Weiß-, einem Rot- und einem Desserwein schon völlig am Ende, aber dann kam noch was. Mir entfleuchte ein „It never ends!“, woraufhin der stets aufmerksame Kellner lächelnd meinte: „It will end sometime“, was ich dann sofort wieder bedauerte.
Ein Haselnusshörnchen, Cassisgelee, Macarons mit irgendwas, Kekse mit Dulce de Leche und ein winziger, glasierter Kuchen … danach bekamen wir noch ein ofenwarmes Madeleine gereicht, aber ich hatte keine Kraft mehr, das iPhone hochzuheben, ein weiterer Teller mit Gelee und Macarons kamen – „… take them, they’re on us …“, ich glaube, wir bekamen eine Extraportion, weil ich den ganzen Abend verzückt roch, fiepste und grinste, ich signalisierte irgendwann nach einem Espresso und verzichtete auf einen Schnaps, weil einfach nichts mehr ging, dann zahlten wir und ließen uns vom Chefkoch in die Jacken helfen. „If we come back to Amsterdam, we would love to eat here again.“ „That’s the idea.“
Die Nachtluft tat nach vier Stunden herrlichstem Essen sehr gut und ich habe danach geschlafen wie ein dicker, glücklicher Engel.
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Tagebuch 3. September 2015 – Amsterdam, Tag 1
F. und ich sind für vier Tage in Amsterdam. Im Flieger hinter uns zwei Businesskasper aus der Hölle: „Und dann hat er seine Frau ruhiggestellt, indem er ihr drei Kinder gemacht hat, und dann hat er den ganzen Tag gearbeitet. Hab viel von ihm gelernt.“
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In Schiphol checkten wir topcheckermäßig ein, woraufhin uns ein Flughafen antwitterte:
@SammyKuffour @ankegroener Herzlich Willkommen am Flughafen Schiphol, Felix und Anke! ^MIH
— Schiphol (@Schiphol) September 3, 2015
Jetzt hat sich das F Punkt im Blog eigentlich auch erledigt, aber ich behalte das mal bei.
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Auf dem Weg zur Baggage Hall (ich las zuerst Baggage Hell) fiel mir auf, dass alle Beschriftungen ausschließlich auf Englisch sind. Erst am Ausgang, als der Flughafen in einen Bahnhof oder eine Metrostation übergeht, kamen niederländische Begriffe dazu.
Am Gepäckband lief eine Animation, wie man anschließend durch den Zoll geht, also: Hast du was dabei, was du uns sagen möchtest? Ein Bild, das einen zum roten Durchgang statt zum grünen schickte, war ein Piktogramm der Mona Lisa, und damit hatten die Niederlande eigentlich schon gewonnen.
Unser Hotelzimmer war leider noch nicht fertig (wir waren aber auch ein bisschen zu früh dran), weswegen wir uns auf den Weg zum Stedelijk machten. Dass mir eine kleine Ruhepause zum Frischmachen und Runter- und Ankommen ganz gut getan hätte, merkte ich erst im Museum, als ich schon bei den ersten Kandinskys und Kirchners und Mondrians dachte, jajaja, schon gut, whatever. (Damit habe ich vermutlich jede Street Cred als Kunsthistorikerin eingebüßt.) Das Erdgeschoss war gerade nicht zu besichtigen, weil eine Ausstellung abgehängt wurde, weswegen wir in den ersten Stock kletterten, wo laut Beschriftung Kunst nach 1950 auf uns wartete. Damit kriegt man mich eigentlich immer, und ich war auch sehr glücklich über Donald Judd, von dem ich anscheinend alles mag, aber an vielen der Werke bin ich dann doch eher flüchtig vorbeigegangen.
Sol LeWitt
Da ich mir aber als erste Amtshandlung eine Museumkaart gekauft hatte, mit der man in eine Million Museen reinkommt, kann ich da notfalls am Sonntag, unserem Mal-gucken-was-mir-machen-Tag, noch mal reingehen, und dann mache ich das anständig. Die Museumkaart ist übrigens der Grund, warum wir überhaupt hier sind. Nachdem F. und ich so ungefähr fünf Minuten zusammen waren, meinte er, hey, meine Museumkaart gilt noch bis Ende September, bis dahin könnten wir mal nach Amsterdam fahren.
Lichtenstein-Detail
Nach einer Stunde eher genervtem und unruhigem Rumguckens kam dann allerdings ein Werk, das mir wieder klarmachte, warum wir hier waren. Edward Kienholz‘ The Beanery von 1965 war ein Nachbau einer schmuddeligen Bar, in den man einzeln reingehen konnte. Man drängelte sich zwischen Besuchern auf Barhockern durch, die alle Uhren statt Köpfe hatten, im Hintergrund spielte quietschige Musik, alles war verstaubt und versteift, aber trotzdem habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass mir einer der Barflys an den Arm greift und mich nach einer Kippe fragte. Ein wenig beängstigend, aber ich hätte trotzdem gerne mehr Zeit in der Kaschemme verbracht. Blöd nur, dass man weiß, dass draußen der nächste Museumsbesucher darauf wartet, dass man gefälligst wieder rauskommt.
Nach Kienholz drängelte ich ins Museumscafé, um dann doch endlich einfach mal irgendwo zu sitzen und mir zu vergegenwärtigen, wo ich gerade war. Diese Ruhepause tat mir sehr gut, und ich fand einen Namen für meine fiktive Hardrockband, die allerdings in den Niederlanden vermutlich total floppen würde. „Welcome to the staaaage: SLAGROOOOOOM!“
Im Untergeschoss bei der ZERO-Ausstellung waren mein Interesse und meine Neugier hellwach und ich schlenderte deutlich enthusiastischer durch die Räume. Das könnte natürlich auch an den Werken gelegen haben. Ich verliebte mich in Henk Peeters (vor allem Akwarel), genoss den Lichtraum (1964) von Heinz Mack, Otto Peine und Günther Uecker, war von kinetischen Skulpturen verzaubert und von anderen irritiert.
Akwarel (Detail)
Eine Installation war das Werk Empty von herman de vries, das aus einer ca. drei mal drei Meter großen, geschlossenen Holzbox bestand, in die man durch ein kleines Guckfenster schauen konnte. Darin befand sich laut der Objektbeschreibung draußen eine Lampe, aber die sah man nicht. Genausowenig wie man Kanten sah oder den Raum in der Box oder überhaupt irgendetwas Fassbares. Man schaute buchstäblich in ein helles Nichts, was mich komplett verstörte. Es war ein bisschen wie damals in der Ausstellung von Hans op de Beeck, wo man auch bei jedem Werk dachte, hier stimmt was nicht und ich muss mich mal kurz irgendwo festhalten. So war es hier auch; ich legte meine Hände an die Holzbox, spürte meine Stirn über der Sichtöffnung und schaute verzweifelt und begeistert in einen erleuchteten Abgrund, der sich in mir auftat. Nietzsche hätte das Ding geliebt.
Die Ausstellung war mir teilweise schon fast *zu* ästhetisch.
Nach drei Stunden Museum schlenderten wir endlich ins Hotel, wo wir eigentlich nur kurz ausruhen wollten, dann aber zwei Stunden im Bett dösten, bis uns der Hunger zum Burgermeester trieb. Dort genoss ich einen ganz hervorragenden Burger mit gegrilltem Gemüse und Estragonmayonnaise, den ich zuhause dringend nachbauen muss.
Zum Abschluss des Tages fuhren wir in die Amsterdam ArenA zum EM-Qualifikationsspiel zwischen den Niederlanden und Island. Die Arena liegt quasi mitten in der Stadt, man braucht nur wenige Stationen zu fahren und muss dann vor allem nicht mehr ewig durchs Nichts laufen, bis man da ist (hallo, Allianz Arena). Im Stadion fuhren uns wundervolle Rolltreppen bis in den Oberrang (HALLO, ALLIANZ ARENA!), wo allerdings eine Musikbeschallung aus der Hölle auf uns wartete. (Okay, der Punkt geht an München.)
Auch der Rückweg machte uns sehr glücklich: ein Ausgang leitete uns direkt wieder zur U-Bahn-Station, und wir waren quasi eine dreiviertel Stunde nach Spielende wieder im Hotel, was in München niemals möglich ist mit dieser zwar wunderschönen, aber trotzdem am Arsch der Heide gelegenen Arena.
Aus der Metro bzw. der Tram heraus und auf dem Weg zum Museum und zum Burgerladen konnte ich den fließenden Radverkehr auf breiten Wegen in Amsterdam beobachten und wollte sofort umziehen.
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Fehlfarben 7: Ring my Bellebad
Heute im Programm: zwei Ausstellungen und drei Roséweine. Enjoy und Prost.
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00.00:00. Begrüßung, Vorstellungsrunde und Blindverkostung Wein 1.
00.03:50. Unsere erste Ausstellung: Lea Lublin (1929–1999) im Lenbachhaus. Drei begeisterte Daumen nach oben. Die erste Retrospektive der Künstlerin läuft noch bis zum 13. September.
Wir erwähnen nebenbei die Ugly Renaissance Babies sowie im Fazit das Werk „Espace perspectif et désirs interdits d’Artemisia G.“, das man auf der Website von Lublin anschauen und nachlesen kann. Der Text ist in diesem Buch erschienen.
00.34:00. Blindverkostung Wein 2 und noch mehr Lublin (Fazit ab 00.43:00).
00.48:00. Blindverkostung Wein 3.
00.49:45. Ausstellung Nr. 2: Zilla Leuteneggers Ring my Bell in der Pinakothek der Moderne. Ebenfalls drei begeisterte Daumen nach oben. Die kurzweilige und noch kürzer zu durchschreitende Installation läuft noch bis zum 4. Oktober.
Als kleine Zusatztipps für die Pinakothek der Moderne, weil man mit Leutenegger so schnell fertig ist: die Ausstellungen Plants for Blossfeldt und GegenKunst.
01.12:00. Die Weinhitliste: Florian und ich mochten Wein 3 am liebsten und Wein 2 am zweitliebsten, bei Felix war es umgekehrt. Wein 1 landete bei uns allen auf dem dritten Platz.
Wein 1: Graf Adelmann „Brüssele“, Spätburgunder Rosé; Württemberg 2014, 11,5%, beim Tengelmann für 6,50 Euro.
Wein 2: Argiolas, „Serra Lori“, Cannonau, Monica, Carignano, Bovale Sardo; Sardinien 2014, 14%, bei Garibaldi für 9,20 Euro.
Wein 3: Mouton Cadet, „Le Rosé de Mouton Cadet“, Merlot (74%), Cabernet Franc (15%), Cabernet Sauvignon (11%); Bordeaux 2013, 12%, 9 Euro.
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Eskapismus
Ich habe noch mal darüber nachgedacht, warum ich seit längerer Zeit mit Romanen auf Kriegsfuß stehe. Ich lese fast nur noch Fachliteratur für die Uni, und wenn ich die nicht lese, lese ich Sachbücher, die irgendwas mit Kunst oder Wissenschaft zu tun haben oder Biografien (den Tick hatte ich schon einmal). Aber bei Romanen verliere ich neuerdings sehr schnell die Geduld – wobei ich nicht weiß, warum ich überhaupt ungeduldig werde.
In Sachbüchern ist fast jeder Satz eine Entdeckung für mich, er öffnet einen neuen Horizont, er zeigt mir Dinge, die mir bisher nicht aufgefallen waren. In Romanen trägt mich ein Satz nur zum nächsten, irgendwann kommt ein Plotpoint, eine Wendung, dann ist Schluss, ich lege das Buch weg und denke, ja gut, und was hab ich jetzt davon?
Ich glaube allmählich, dass mir Sachbücher inzwischen den kleinen Eskapismus ermöglichen, für den in den Jahren vor dem Studium Romane da waren (und davor Kino, das mich leider kaum noch begeistern kann). Früher las ich Romane auf dem Weg zur Arbeit, in der Mittagspause, nach der Arbeit. Sonst las ich Briefings und Produktinformationen, aus denen ich hübsche Kataloge zimmerte. Das war die Arbeit, die Romane waren das Vergnügen und meine Möglichkeit, den Kopf in andere, angenehmere Gefilde zu schicken.
Seit ich studiere, müsste die Uni die Arbeit sein. Das ist sie aber nicht. Ja, sie strengt an, fordert mich und natürlich leiste ich Arbeit. Aber sie fühlt sich nicht so an. Selbst wenn ich an Bachelorarbeiten verzweifele, fühle ich mich nicht so wie ich mich am Agenturschreibtisch gefühlt habe. Dort wollte ich, dass es endlich 18 Uhr wird und ich nach Hause gehen kann. In der Bibliothek will ich sitzen, so lange es geht – da ist eher mein Problem, dass ich nach sechs Stunden Dauerlesen nicht mehr denken kann und eine Pause brauche. Dann radele ich nach Hause, gucke eine Serienfolge weg (hey, das könnte mein Romanersatz sein, fällt mir beim Tippen gerade auf), und dann stecke ich die Nase wieder in ein Fachbuch, denn natürlich liegen zuhause auch immer genug davon rum.
Seit drei Jahren bestimmt mein Stundenplan meinen Tagesablauf und die Referatstermine gliedern mein Semester. Ich richte mich nicht mehr nach Präsentationen oder Buchungsanfragen, sondern danach, wann ich in der Uni oder in der Bibliothek sein muss – bzw. darf. Das ist der große Unterschied. Mir ist es durchaus und immer wieder bewusst, was für einen großen Luxus ich hier genießen darf. Ja, den habe ich mir selbst erarbeitet (spare in der Zeit, studiere in der Not), aber trotzdem weiß ich natürlich, dass andere Leute in meinem Alter gerade Kinder versorgen müssen, ein Haus abbezahlen oder schlicht versuchen, unverschuldet über die Runden zu kommen. Ich hingegen lebe größtenteils von meinen Ersparnissen, nehme nur noch Jobs an, die in meinen Stundenplan passen, und lasse es mir ziemlich gut gehen. Wenn man davon absieht, dass ich mir Sterneessen verkneife, die ich sehr vermisse.
Die Uni ist meine kleine Realitätsflucht. Ich brauche keine Romane mehr, damit mein Tag irgendwie erträglich wird. Ich muss mir meinen Tag nicht mehr hübsch lesen, denn er ist es von vornherein. Ich wache nicht mehr gerädert auf, weil ich mitten in der Nacht über ein Adjektiv nachgedacht habe, das der Kunde auf Seite 45 im Katalog doof fand. Stattdessen wache ich entspannt auf, gehe wissbegierig meinem Tagwerk nach und schlafe abends sattgedacht und rundgelesen ruhig und zufrieden ein. Außer ich scheitere gerade an Bachelorarbeiten, dann schlafe ich auch mies, aber selbst da wollte ich keine Romane lesen, sondern ganz im Gegenteil, noch mehr Fachbücher, denn in einem von ihnen steckt schließlich die Lösung für mein Problem.
Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass ich mein Leben gerade als kleine Flucht begreife, denn ich habe nichts, wovor ich fliehen müsste. Ich habe auch noch keinen Plan, wohin ich eigentlich flüchte. Mein Horizont reichte drei Jahre lang bis zum BA. Jetzt reicht er zwei Jahre lang bis zum Master. Keine Ahnung, was danach kommt.
Eigentlich müsste mich das nervös machen. Aber uneigentlich macht es mich gerade sehr glücklich.
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„Und, Anke, wie war so dein sechstes Semester?“
Durchwachsen.
(Erstes, zweites, drittes, viertes, fünftes Semester.)
Ich muss meine übliche Uni-Lobhudelei mit einer etwas unschönen Nachricht beginnen, die meine Twitter-Follower_innen bereits kennen oder ahnen: Der Kerl und ich haben uns getrennt. Schon im März, brav und erwachsen in beiderseitigem Einvernehmen, alles zivilisiert, alles töfte. Trotzdem war und bin ich sehr traurig. Wenn man sich elf Jahre lang im Gefühl eingerichtet hat, dass da neben einem der Mensch ist, mit dem man es sein ganzes Leben lang aushalten könnte, dann ist das doch ungewohnt, ihn auf einmal nicht mehr neben sich zu haben. Oder auch nur per Facetime 800 Kilometer nördlich. Aber genau das hat uns zuletzt das Genick gebrochen: Wir haben uns zu selten gesehen, und weil wir uns nicht täglich versichert haben, wie’s uns geht, haben wir uns in verschiedene Richtungen entwickelt. Ich musste mir eingestehen, dass es mich glücklicher macht, in München alleine in einer Bibliothek zu sitzen als in Hamburg gemeinsam vor dem Fernseher, und ich musste mir sagen lassen, dass ich in Hamburg nicht wirklich fehle, wenn ich nicht da bin. Eigentlich haben wir uns schon vor drei Jahren getrennt, es aber erst vor gut einem halben Jahr gemerkt. Es gab im Laufe des Semesters noch zaghafte Versuche, den Zustand doch wieder zu ändern, aber die endeten alle in mittleren Desastern und vielen Tränen.
Deswegen startete ich etwas waidwund und wackelig in mein letztes Semester, und als ob die persönliche Schwere nicht schon anstrengend genug gewesen wäre, gelang mir in diesem Halbjahr auch akademisch erst mal gar nichts. Das Thema, was ich mir schon im vierten Semester für meine BA-Arbeit ausgesucht hatte, entpuppte sich beim ersten ernsthaften Bearbeiten als totaler Quatsch. Was ich daraus gelernt habe: Bevor ich mein Master-Thema einreiche, denke ich da nicht nur länger drüber nach, sondern suche auch schon nach Literatur, mache eine Gliederung und habe die Arbeit quasi schon geschrieben, bevor ich sie schreibe.
So fürchterlich das für mich als kleine Perfektionistin war, mich wieder und wieder an einer Arbeit scheitern zu sehen, so viel nehme ich aus diesem Scheitern für die nächsten vier Semester mit.
Erstens (der Satz stammt von meinem Prüfer und ich werde ihn nie vergessen): „Nehmen Sie sich EIN Objekt vor und nicht die ganze Kunstgeschichte.“
Zweitens: Stell dir eine Frage und keine Aufgabe, wie du es aus der Werbung gewohnt warst. Du sollst hier nix erfinden, du sollst eine wissenschaftliche Frage beantworten. Deswegen sollst du auch keine Datenbank konzipieren, sondern dich eher mit der Auswertung einer solchen beschäftigen. Oder mit dem Arbeitsmittel „Architektonische Datenbanken seit 2005“. Oder schreib von mir aus ein Essay, das alle Datenbanken zu Teufelswerk erklärt und dass wir nie von den Bäumen hätten runterkommen dürfen. Aber kümmere dich um Ergebnisse, nicht um die Produktion eines neuen Werkzeugs. Das sollen mal schön die Informatiker_innen machen.
Drittens: Wenn du nur lange genug in der Bibliothek sitzt und liest, wird alles wieder gut. Wein, gute Freunde und das Internet helfen auch. Aber die Bibliothek ist dein happy place.
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Ich habe gelernt, dass es eine weise Entscheidung war, im fünften Semester so rangeklotzt zu haben, um fast alle Pflichtkurse zu erledigen. Ich hatte in diesem Semester nur eine Übung (Montag morgen) und das Kolloquium für Examenskandidaten plus einen freiwilligen Französischkurs (beide Donnerstags), so dass ich den ganzen Rest der Woche folgendermaßen gestalten konnte: um 8 aufstehen, um Punkt 10 hibbelig vor dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte aufschlagen, ab 10.05 Uhr lesen – so lange ich wollte, denn ich hatte ja sonst nichts mehr zu tun. Mein einziges Referat habe ich in die letzte Vorlesungswoche gelegt, in der auch die Französischklausur stattfand, und dafür musste ich erst arbeiten, als die BA-Arbeit schon abgegeben war. Dass die so ein Brocken war, konnte ich nicht ahnen, aber wie oben beschrieben: Ich habe viel aus ihr bzw. dem Prozess ihrer Erstellung gelernt. (Vor allem Demut.)
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Ich habe gelernt, wie spannend es ist, anderen bei ihren Projekten zuzuschauen. Im Kolloquium stellten wir reihum unsere Arbeiten vor, und das waren nicht nur die Bachelors, sondern auch die angehenden Master, Magister und Doktor_innen. Ich mochte den Querschnitt an Interessen, den ich vorgetanzt bekam, auch wenn er natürlich gefiltert war, weil mein Prüfer sich auf Architektur und bayerische Kunstgeschichte spezialisiert hat. Da waren Arbeiten über einige Gebäude in Lemberg und Madrid (Atocha), über ein polnisches Stadtvierteil und seine Häuserentwicklung, über das Werk Erich Mendelsohns in Jerusalem und das von Adolf Voll in Fürstenfeldbruck. Eine Doktorandin besprach die Richtung ihrer Arbeit (das Thema verschweige ich mal lieber, ist ja nicht meins), was ich besonders lehrreich fand: zu sehen, dass man sich einem Stoff aus verschiedenen Richtungen nähern kann und vor allem aus welchen. Erstellt man schlicht einen Werkkatalog, weil er noch nicht existiert? (Nett, aber langweilig.) Oder setzt man das zu untersuchende Werk in einen Bezug zu anderen aus dieser Zeit? (Netter.) Oder geht man das ganze sozialwissenschaftlich an, indem man guckt, wer sich diese Werke außer dem Fürstenhof noch geleistet hat, wohin sie verkauft wurden und was dann aus ihnen wurde? Waren sie repräsentativ, eine Wertanlage, ein Zeichen von Status oder einfach nur Deko? (Da soll’s jetzt hingehen.)
Die Diskussionen um die Erarbeitung der Themen war für mich meist spannender als das Thema selbst. Und auch wenn ich mein Referat großflächig verkackt habe (immerhin mein einziger Referats-Reinfall im BA), hat mir die Kritik daran doch schlussendlich nach zwei Fehlversuchen den Weg zur Arbeit gezeigt.
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Ich habe gelernt, dass ich eine BA-Arbeit in deutlich weniger als zehn Wochen schreiben kann, wenn ich muss. Ich hoffe, dass die Note noch erträglich wird. Meine Lieblingsnote wird’s nicht, das ahne ich jetzt schon, aber ich hoffe, die Arbeit ist in den Augen des Prüfers so ordentlich wie ich sie haben wollte.
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Ich habe gelernt, wie sich richtig guter Sprachunterricht anfühlt.
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Ich habe gelernt, dass sich das fünfsemestrige Warten auf die Nutzung des Zentralinstituts für Kunstgeschichte aber so was von gelohnt hat.
Als ich mit dem Studium anfing, durfte man erst ins ZI, wenn man ein Forschungsprojekt vorweisen konnte. Man kam zwar in das Gebäude rein, auch als Touri, um sich die lustigen Abgüsse von antiken Statuen anzugucken, aber in die Bibliothek durften wir als LMU-Studis erst ab dem Semester, in dem wir unsere BA-Arbeit schrieben. Vorher waren wir anscheinend unwürdig oder sollten mit unseren Brei-und-Knete-Kleinkind-Fingern die schönen Bücher nicht angrabschen. Seit Anfang 2015 gilt diese fiese Regelung nicht mehr, jetzt dürfen wir ab dem ersten Semester rein, und ich kann nur allen Erstis raten: Macht das. Es ist das Paradies für Kunsthistoriker_innen.
Wo ich vorher von Bibliothek zu Bibliothek radeln und tagelang auf Bücher warten musste, setze ich mich hier in den (allerdings relativ kleinen und unklimatisierten) Lesesaal, klappe meinen Rechner auf, suche im hauseigenen Katalog nach Literatur – und fahre dann mit dem schnellsten Fahrstuhl Münchens durch fünf Stockwerke voller Schätze. Es gibt nichts, was hier nicht steht. Ich habe noch jede obskure Zeitschrift gefunden, von der ich vor der Sucheingabe nicht mal wusste, dass sie existiert. Hier wird alles gesammelt, was irgendwie mit Kunst zu tun hat, und es steht direkt vor meiner Nase. Man kann sich einen kleinen Handapparat anlegen, die Mitarbeiter_innen sind freundlich und hilfsbereit, und ich möchte da wohnen. In den ersten fünf Semestern haben mich schon alle Uni-Bibliotheken und die Stabi zu einem Fan dieser Einrichtung werden lassen, aber das ZI war in diesem für mich auf allen Ebenen sehr herausfordernden sechsten Semester meine kleine, stille Rettungsinsel.
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Ich habe gelernt, dass die Ahnung aus dem fünften Semester („Ich glaube, ich bleibe bei Architektur und digitaler Kunstgeschichte“) die richtige war. Momentan klackert auch die NS-Zeit im Hinterkopf rum – was daran liegen könnte, dass ich sie in München dauernd vor der Nase habe –, aber ob das mein Fokus im Master wird, weiß ich noch nicht. Jedenfalls habe ich mich um einen Master-Studienplatz beworben und gucke mal, ob mich München oder Hamburg weiterlernen lassen. (Ich hoffe natürlich auf München.)
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Ich habe gelernt, dass ich ein Netzwerk brauche. In den ersten Semestern habe ich mich blöderweise nicht wirklich um Kontakte bemüht – da war der grandiose Plan ja noch, hier bindungslos drei Jahre zu studieren und dann schön wieder ins Beziehungs- und Werbehamburg zurückzukehren. Der Plan war schon etwas länger wackelig und jetzt ist er durch, und ich habe in der Zeit, in der ich orientierungslos mit der BA-Arbeit kämpfte, sehr einen Sparringspartner vermisst, mit dem ich über Kunstgeschichte hätte reden können. Also nicht nur aus einer interessierten Perspektive, sondern aus einer akademischen. Daher habe ich wenigstens zum Schluss dieses Semesters versucht, ein bisschen aus meinem selbstgewählten Schneckenhaus rauszukommen, habe mir endlich mal ein paar Namen meiner Kommilitoninnen gemerkt und bin brav mitgegangen, wenn es hieß, lasst uns nach dem Seminar doch noch ein Bier zusammen trinken, wo ich sonst immer geflüchtet bin. Das werde ich im Master noch mehr machen müssen, auch wenn es meinem Einzelkämpfertum eher widerstrebt.
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Ich habe (mal wieder) gelernt, dass mich Lernen beflügelt, befreit, erhebt und glücklich macht. Es trocknet sogar Tränchen, weil man nicht lesen kann, wenn man heult.
Ich habe gelernt, dass die Entscheidung für das Studium die richtige war, auch wenn sie mich eine Beziehung gekostet hat. Ich will nicht mehr die Art von Werbung machen, wie ich sie gemacht habe, ich will nicht weiter irgendwie zufrieden irgendwo einfach nur sein, sondern ich will mich herausfordern und wachsen.
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Und ich habe gelernt, dass aus einem guten Freund plötzlich mehr werden kann. Das ist aber alles noch so frisch, dass der Herr noch nicht mal einen Namen fürs Blog hat.
In diesem Zusammenhang: Wenn sich die Hamburger Damenwelt bitte irgendwann um den Kerl kümmern könnte? Ich kann den unbedingt weiterempfehlen. Wenn man sich durch seine knorrige Schale gearbeitet hat, ist er sehr flauschig, bringt einen immer zum Lachen und trägt freiwillig Koffer und Einkaufstüten die Treppe hoch.
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Fehlfarben 6: Mixing Pop and Politics – Andy Warhol und Keith Haring
Heute im Programm: zwei Ausstellungen und drei Sauvignon Blancs. Leider ohne Kühlmanschetten, weswegen ihr uns bei 1.40:00 kurz beim kalten-Wein-Nachschenken zuhören müsst dürft.
Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 89 MB, 110 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.
00.00:00. Begrüßung, Vorstellungsrunde und Blindverkostung Wein 1.
00.03:00. Unsere erste Ausstellung: Yes!Yes!Yes! Warholmania in Munich im Museum Brandhorst. Wir erwähnen unter anderem die Blotted-Line-Technik, über die ihr hier und hier mehr erfahren könnt.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 18. Oktober und hat von uns drei Och-jo-kann-man-machen-Daumen nach oben bekommen.
00.38:20. Blindverkostung Wein 2 und Warhol-Fazit.
00.49:50. Ausstellung Nr. 2 hat von uns hingegen drei begeisterte Da-müsst-ihr-bitte-sofort-alle-reingehen-Daumen nach oben bekommen. Wir sahen uns Keith Harings Gegen den Strich in der Hypo-Kunsthalle an. Im Gespräch erwähnen wir Pop Shops, die Keith-Haring-Foundation und deren Twitter-Account.
Die Ausstellung läuft nur noch bis zum 30. August, also Beeilung.
(Ein kleiner persönlicher Exkurs: Die Eva-Hesse-Ausstellung im Januar 2014 hat mir erstmals gezeigt, was Kunst mit mir machen kann – sie kann mir tiefe Ruhe schenken, mich aufwühlen, mich begeistern; alles Dinge, die ich vorher eher mit der Oper, Kinofilmen oder den üblichen weinseligen Abenden mit Freunden verbunden hatte. Keith Haring hat mir eine weitere neue Ebene vermittelt, was Kunst inzwischen mit mir macht: Er hat mich zum Heulen gebracht. Darüber spreche ich auch im Podcast – oder eher: stammele mit wackelnder Stimme rum.
Ich erwähne im Podcast den 30. Jahrestag von Live Aid, der einen Tag vor unserem Podcast war, und den ich auf Twitter gefeiert habe, indem ich den Auftritt von Queen verlinkte. Freddie Mercury war der erste Promi, bei dessen Tod ich geweint habe, und mein kleines Teenagerherz weint ehrlich gesagt noch immer. Keith Haring verbinde ich, genau wie Live Aid, sehr stark mit den 1980er Jahren, den Jahren, in denen ich erwachsen wurde. In den letzten Wochen sah ich zusätzlich eine neue deutsche Serie, die lustigerweise zuerst in den USA ausgestrahlt wird (die erste deutsche Serie mit Untertiteln, wenn ich der Wikipedia glauben darf), bevor sie im Herbst auch bei uns läuft: Deutschland 83. Ich lege sie euch jetzt schon mal ans Herz. Was sie mit Haring und Freddie zu tun hat: Auch sie hat mich sehr unvermittelt wieder in meine damalige Gefühlswelt geworfen. Ich habe die 80er als Jahrzehnt des Hedonismus, aber auch als Jahrzehnt der Bedrohung in Erinnerung. Es vermischen sich Dinge wie Tempo und (wie es die großartige Serie Pop 2000 mal ausdrückte) die Zeit, in der alle Art Direktoren werden wollten, es vermischen sich die Duran-Duran-Cover von Assorted Images, Art of Noise, Schulterpolster und Big Hair mit genau dem Gegenteil des bunten Visualisierens, nämlich der grauen Geheimnistuerei, den zwei Blöcken, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, den Verhandlungen über die Stationierung von SS20- und Pershing-II-Raketen, dem konstanten Gefühl der Bedrohung und der Hilflosigkeit gegenüber der Weltpolitik, in der die Bundesrepublik und die DDR anscheinend das geplante Schlachtfeld für WW3 waren. Dieses Gefühl vermittelt Deutschland 83 sehr gut, und in diese, meine Gefühlswelt, die ich nicht wieder abschütteln konnte, stolperten dann der 30. Jahrestag und die Haring-Ausstellung, und beide haben mich mehr fertiggemacht als ich erwartet hatte.
Aber nachdem ich mich ausgeheult hatte, konnte ich launig über Penisse reden. Alles wieder gut.)
01.10:30. Blindverkostung Wein 3.
Bei den Weinen war die Nummer 2 unser klarer Sieger, Florian und ich setzten Wein 1 auf den zweiten Platz, Felix mochte die Nummer 3 am zweitliebsten.
Wein 1: Steinmühle Sauvignon Blanc, Kollwentz, Burgenland/Österreich 2013, 13%, ca. 24 Euro.
Wein 2: Sauvignon Blanc, Old Coach Road, Nelson/Neuseeland 2014, 13%, ca. 8 Euro.
Wein 3: Sauvignon Blanc, Errázuriz, Chile 2014, 13%, ca. 8 Euro (beim Karstadt am Hauptbahnhof).
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Die Uni, ein Ãœberraschungsei
Vormittags Französisch, nachmittags Kolloquium – und vor allen Dingen ein Gespräch mit dem Dozenten, wie ich bitte meine BA-Arbeit rund kriege, für die ich seit zwei Wochen besinnungslos lese und trotzdem keinen roten Faden zu fassen bekomme.
Aber erstmal Französisch.
Mein Spracheinstufungstest in einem der ersten Semester schob mich in die Stufe A 1.2, wo ich im letzten Halbjahr saß, nachdem ich mir vorher aus Spaß an der Freude ein Semester Italienisch gegönnt hatte. Als aber klar war, dass ich den Master machen will und dafür eine zweite moderne Fremdsprache auf einem gewissen Niveau nachweisen muss, sagte ich ciao, Italiano und salut, français. Leider. Denn obwohl ich noch relativ viele Vokabeln wusste und einen Hauch an Grammatik, war das letzte Semester eher unschön. So nett die Dame vorne an der Tafel war, so wenig nett war ihr Unterricht. Wir haben selten laut gelesen, um unsere Aussprache zu üben („Lesen Sie sich das bitte mal durch und fragen dann nach Vokabeln“), und wenn wir mal laut gelesen haben, hat meist eine von uns den gesamten Text gelesen, anstatt dass reihum jede mal ranmusste, damit eben jede mal was sagen konnte. Dabei hat die Lehrerin leider kaum korrigiert. Ich habe Aussprachen in diesem Kurs gehört, die wahrscheinlich in keiner Sprache dieser Welt vorkommen, aber selten Verbesserungsvorschläge. Wir haben des Öfteren mit unseren Nachbar*innen zusammenarbeiten müssen, aber dabei haben wir eher die ollen Übungen im Buch gemeinsam gelöst anstatt miteinander zu sprechen. Und selbst beim Sprechen hatte die Lehrerin die seltene Gabe, Fragen so zu formulieren, dass man kaum Antwortmöglichkeiten hatte.
Unsere Italienischlehrerin, die ich super fand, fragte uns komplette Anfänger*innen nach lausigen drei Stunden, was wir am Wochenende gemacht hätten. Wir konnten kaum „essen, schlafen, Fußball gucken“ auf Italienisch sagen, aber sie half, wir wiederholten, der nächste sagte was Ähnliches, und zack, hatten alle mal kurz Italienisch gesprochen, selbst wenn wir nur die Worte der Lehrerin wiederholt hatten. Die Französischlehrerin fragte gerne: „Hatten Sie ein schönes Wochenende?“ Worauf zwei Leute „oui“ piepsten und dann war gut.
Innerlich dachte ich mir, den Quatsch machst du jetzt mit, bis du die Masterqualifikation hast und dann sprichst du nie wieder ein Wort Französisch. Erstes Überraschungsei:
Bei der Kursbelegung für dieses Semester achtete ich darauf, nicht wieder die gleiche Lehrerin zu bekommen und habe es bisher keine Sekunde bereut. Ich twitterte und facebookte gestern schon begeistert ein paar Sätze meiner neuen Lehrerin: „Sie müssen emotional an eine Fremdsprache gehen! Kaufen Sie sich das schönste Vokabelheft und tragen es bei sich. Sie müssen da gerne reingucken wollen! Hören Sie Chansons oder Radio, schreiben Sie auf, was Sie verstehen – das ist immer ein Erfolgserlebnis! Und wenn’s nur mittendrin zwei Worte sind. Egal, aufschreiben und lernen. Ãœberlegen Sie sich, was Sie Wichtiges über sich sagen wollen – das übersetzen Sie und lernen es auswendig. Finden Sie Wörter, die Sie gerne mögen und bilden Sie Sätze damit. In meinen Aufsätzen kam immer (Wort x, nicht verstanden, ähem) vor.“
Vor Beginn jeder Stunde läuft französische Musik, an der Tafel steht „Vous écoutez …“ (gestern war es Carla Bruni, letzte Woche Hip-Hop), und die Lehrerin spricht immer Französisch. Ich verstehe nur die Hälfte, aber irgendwie weiß man doch immer, was sie von einem möchte, und es kommt mir zehnmal sinnvoller vor als der deutschsprachige Unterricht, den ich letztes Semester hatte. Wir lesen viel laut, wir reden miteinander, und gestern haben eine Kommilitonin und ich bei der üblichen Gruppenarbeit, wo man theoretisch Deutsch sprechen könnte, wenn die Lehrerin nicht gerade am Tisch steht, ernsthaft auf Französisch darüber geradebrecht, wie wir zuhause lernen, wie doof wir das Lehrbuch, aber wie toll wir la prof finden. Mit Händen und Füßen und geratenen Vokabeln, aber man *will* bei ihr in der Stunde echt nicht Deutsch sprechen.
Schon ist aus meiner negativen Haltung eine sehr positive geworden, und innerlich denke ich über Sätze nach, die ich dann locker-flockig in Frankreich sagen werde können, wenn ich mir endlich mal alle Kathedralen angucke. Erster Satz (muss ich noch übersetzen): „DAS HIER IST NE KIRCHE, KÖNNT IHR EURE BLÖDE BROTZEIT BITTE DRAUSSEN MACHEN?“ (Vom letzten Notre-Dame-Besuch in Paris inspiriert.)
Nochmal zum Lehrbuch: Mit dessen Produzent*innen würde ich wirklich gerne ein poulette rupfen. Das Ding hat nicht mal ein Vokabelverzeichnis, verdammte Axt. Die Texte sind genau einen Ticken zu schwer, als dass man sie intuitiv verstehen könnte, selbst wenn man die Worte noch nicht kennt, und man ist die Hälfte der Hausaufgabenzeit damit beschäftigt, Worte bei Leo oder Langenscheidt zu recherchieren, anstatt entspannt hinten im Buch nachzugucken, wie das im deutlich besseren Italienischbuch möglich war. Einzig die Bilder versöhnen mich ein wenig, die sind genau mein Niveau.
Nach dem Französischunterricht hatte ich zwei Stunden Pause, in denen ich noch mal das Exposé zur BA-Arbeit überarbeitete, das ich bereits fünfmal überarbeitet hatte und mit dem ich immer noch nicht glücklich war. Dann ging’s zum Kolloquium, wo wir über digitale Bilder sprachen, zu denen auch Karten wie Google Maps zählen. In meinem verzweifelten Köpfchen ging ein kleines Lichtlein an, ich schrieb wie immer in den letzten Monaten, wenn ein Fakt zu meiner BA-Idee passte, in mein Moleskine ein eingekringeltes „BA“ und dann „KARTEN!“ In der Pause ging ich mit dem Dozenten in sein Büro, wo er die schlaueste aller schlauen Fragen stellte, die ich mir selber auch mal hätte stellen sollen: „Dann beschreiben Sie mir doch mal Ihr BA-Vorhaben in drei Sätzen.“
Ich guckte auf mein zweiseitiges Exposé, schnappte mir den ersten Satz und ignorierte alles, was ich danach geschrieben hatte: „Eine Epoche ist nicht anhand eines einzelnen Objekts erfahrbar, man muss das Objekt im Kontext sehen. So wie Bauwerke im Raum gesehen werden müssen. Ich will die bayerische Klösterlandschaft der Romanik mittels digitaler Methoden erfahrbar machen.“
Und schon waren wir in einer Diskussion über „Was ist überhaupt Raum? Wie wird der kunsthistorisch definiert? Wie kulturgeografisch? Was geht mit Verkehrswegen und Verbindungen zwischen den Klöstern?“ Also genau das, was bei mir nur noch ein kleiner Absatz beim Kapitel „Interdisziplinäres Arbeiten“ gewesen wäre, hätte ich die doofe Datenbank konzipiert, die ich einfach nicht rundgekriegt habe (mein Blogeintrag war so ein bisschen eine Hoffnung auf self-fulfilling prophecy, aber selbst da konnte ich mir nicht selbst erklären, was ich eigentlich will, herrgottnochmal). Denn natürlich ist eine derartige Datenbank bzw. sind die visualisierten Daten auch für Historiker*innen, Geograf*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen spannend. Wieso ich nicht von alleine darauf gekommen bin, mich auf dieses Thema zu konzentrieren, das doch so hervorragend in meine Urbanitäts- und Mobilitätsbegeisterung passt – keine Ahnung.
Damit ist ein Großteil der Lektüre der letzten zwei Wochen zwar hinfällig, aber ich bin sehr froh darüber, mich nicht mehr mit XML und mySQL beschäftigen zu müssen, sondern stattdessen mit Landkarten. Zweites Überraschungsei.
Dann rocken wir die Arbeit mal in siebeneinhalb statt in zehn Wochen runter. Ihr entschuldigt mich.
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Fehlfarben 5: „Art is a guarantee of sanity.“ … „As if.“
@sammykuffour, @munifornication und ich haben wieder gepodcastet. Heute im Programm: zwei Ausstellungen und drei österreichische Rotweine.
Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 76 MB, 95 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.
00.00:00. Begrüßung, Vorstellungsrunde und Blindverkostung Wein 1.
00.02:20. Unsere erste Ausstellung: Louise Bourgeois – Strukturen des Daseins: Die Zellen im Haus der Kunst. Wir erwähnen bei der Besprechung unter anderem ihre Maman, The Last Climb, Cell XV (For Turner) und Cell XVIII (Portrait).
Die Ausstellung läuft noch bis zum 2. August und hat von uns drei begeisterte Daumen nach oben bekommen.
00.28.50: Blindverkostung Wein 2.
00.53.50: Blindverkostung Wein 3.
01.05.00: Ausstellung Nr. 2 läuft ebenfalls im Haus der Kunst und zwar noch bis zum 31. Mai: Mark Leckey – Als ob. Sie kam bei uns nicht ganz so gut an, hat aber für eine durchaus kontroverse Diskussion gesorgt. Zwei Querdaumen, einer nach unten. Wir sprechen unter anderem über Fiorucci made me hardcore, das man sich hier anschauen kann.
Bei den Weinen waren wir uns auch nicht ganz einig: Wein 3 landete bei uns allen auf Platz 3, Florian mochte Wein 2 am liebsten, Felix und ich Wein 1.
Wein 1: Gsellmann Heideboden „Quadrophenia“, ein Cuvée aus Zweigelt, Saint Laurent, Pinot Noir und Blaufränkisch, Burgenland, 2011, 13%. Laut Felix kostet die Flasche beim Backerl 20 Euro, eine Google-Suche gibt irgendwas zwischen 11 und 15 Euro an.
Wein 2: Kollwentz Blaufränkisch, Burgenland, 2009, 14%. Den habe ich bei Rotweißrot für um die 20 Euro gekauft.
Wein 3: Domäne Wachau, Blauer Zweigelt „Himmelsstiege“, Wachau, 2013, 13%. (Verlinkt ist der 2012er.) Kostet um die 9 Euro.
Bonuswein, weil der Abend so nett und die Gläser irgendwie schon leer waren: Schmelzer, Blauer Zweigelt, Burgenland/Neusiedlersee, 2013, 13,5%. Empfehlung! Auch beim Backerl gekauft.
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„Stoppt die Banalisierung!“ „Stoppt Ausrufezeichen in Überschriften!“
Wolfgang Ullrich polemisiert: Nicht alle Menschen sollten in Museen rumlungern. Ich polemisiere mal mit.
„Jetzt sollen selbst die Blinden sehen. In der National Gallery in London stanzte man dazu eigens ein Gemälde von Camille Pissarro auf eine Weise in Papier, dass sich wichtige Orientierungspunkte des Bildes ertasten lassen. Nicht nur seine Komposition, sondern sogar Farbverläufe werden auf diese Weise übersetzt, wie kürzlich der Dokumentarfilm National Gallery zeigte. Man kann das für verdienstvoll oder für vergeblich halten, es verrät vor allem viel über heutige Ansprüche der Kunstvermittlung: Niemand, wirklich niemand soll von der Beschäftigung mit Kunst ausgeschlossen werden.“
Und das ist ganz schlimm, weil …? Weil wir Kunsthistoriker*innen, Museumsmenschen, Künstler*innen irgendwelche Hoheiten abgeben müssen? Uns nicht mehr nur mit uns selbst befassen? Andere an einem wundervollen kulturellen Gut teilhaben lassen? Fürchterlich, echt.
„Das aber erinnert an die Tradition christlicher Missionskultur. Wie es in ihr darum ging, jedem Menschen, egal, wo und wie sozialisiert, die Chance zu geben, Gottes Wort kennenzulernen, will man heute ausnahmslos alle mit Kunst erreichen. Und wie der erfolgreich Missionierte ewiger Verdammnis entgehen kann, glaubt man auch im Fall der Kunst daran, dass durch ihre Vermittlung viel Gutes passiert: Extreme Emotionen ließen sich ausgleichen und Integrationsfortschritte erzielen, ja Kunst könne sinnstiftend wirken, zu Seelenheil und kognitiven Mehrleistungen führen, so heißt es in zahlreichen Publikationen. Die Missionsunrast des Christentums hat eine Nachfolge in der Vermittlungsunrast heutiger Kunstmuseen gefunden.“
Ich persönlich glaube sehr an eine sinnstiftende Wirkung von Kunst. Ich erwarte sogar eine von ihr. Nicht vom jedem Werk, nicht von jeder Künstler*in, aber ja: Ich will, dass Kunst etwas macht. Mit mir, im besten Fall mit der Gesellschaft. Ich will keine Kunst, die hübsch über dem Sofa aussieht, ich will Kunst, die aufwühlt, bewegt, beeindruckt, ärgert. Natürlich gibt es Kunst, die so offensichtlich missioniert, dass man nur grinsend vor ihren guten Absichten abwinkt, aber das sei ihr verziehen. Andere Kunst ist einfach nur da, und es liegt an mir, was ich mit ihr mache. Genau wie mit der Religion, bei der ich auch die Freiheit habe, sie links liegen zu lassen, mich ihr anzunähern oder sie zu umarmen. Ich kenne kein Museum, das mit Bibel und Tropenhelm Kontinente erobert, insofern halte ich den Vergleich für sehr hinkend. Ich sehe Museen, die sich bemühen, aber es zwingt mich niemand, diesen Bemühungen zu folgen.
„Tatsächlich erstaunt, wie sich die Museen mit der Entdeckung bisher noch kunstferner Milieus gegenseitig übertrumpfen. Fast schon selbstverständlich sind Veranstaltungen für Menschen mit Migrationshintergrund, Programme für Demenzkranke oder Angebote der sogenannten Geragogik für ältere Menschen. Das Lenbachhaus in München bietet auch Aktionen für “Erwachsene mit Babys”. In der Ankündigung kann man lesen: “Der inhaltliche Schwerpunkt ist das Familienporträt und die Darstellung von Kindern in der Kunst. Kein strenger Ablauf und kein vorgegebener Plan diktieren den gemeinsamen Rundgang, sondern die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmenden – ob Stillpausen oder Babygeschrei.”
Ist das nicht großartig, dass wir nicht mehr mit dem Großen Kunstführer im Anschlag durch Museen gehen müssen oder uns mit Audioguides abkapseln, sondern Kunst gemeinsam erleben können? Ist es nicht toll, dass sich die Institutionen auf neues Publikum einstellen, anstatt arrogant zu sagen, hier kommt nur das Bildungsbürgertum rein und sonst keiner? Ist es nicht wunderbar, wenn alte Menschen lernen, demente Menschen umsorgt und Menschen mit Migrationshintergrund einbezogen werden?
„Etwas präziser – und zugleich allgemeiner – könnte man die Hochkonjunktur der Kunstvermittlung als Folge einer Verbindung von Kunstreligion und Sozialdemokratie beschreiben. Verdankt sich jener der Glaube an die heilende Kraft von Kunst, so dieser der Anspruch, nicht nur Bildungs- oder Geldeliten dürften davon profitieren. “Das Museum der Gegenwart öffnet sich, baut Hürden ab, spricht neue Zielgruppen an und schafft neue Beteiligungsmöglichkeiten. Auf diese Weise entstehen neue Identitäten.” So formulierte es etwa Thomas Krützberg, Kulturdezernent in Duisburg.“
Nochmal: Fürchterlich, echt.
„Kunstmuseen sind innerhalb der letzten zwanzig, dreißig Jahre zu führenden Institutionen engagierter Sozialpolitik geworden. Dass sie noch andere Aufgaben haben, ja zwei Jahrhunderte lang vornehmlich dem Sammeln, Bewahren und Forschen gewidmet waren, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Hätten Staats- und Landesbibliotheken, ursprünglich aus demselben Geist wie Museen entstanden, dieselbe Entwicklung wie diese genommen, müssten sie heute einen Großteil ihrer Anstrengungen darauf verwenden, die Zahl der Ausleihen und Benutzer von Jahr zu Jahr zu erhöhen, und Politiker würden von Bibliotheksdirektoren verlangen, neue Benutzerkreise zu erschließen. Es würde nicht mehr reichen, nur ein bildungsbürgerliches und akademisches Publikum anzusprechen, vielmehr müsste man sich genauso um soziale Randgruppen kümmern und etwa eigene Kursprogramme für Analphabeten einrichten, die endlich auch zu Lesern werden sollen. Immerhin seien die Bibliotheken ja mit Steuergeldern finanziert!“
Schon wieder ein Vergleich, der Krankengymnastik braucht. Auch Bibliotheken haben unterschiedliche Zielgruppen. Nicht jede Bibliothek ist eine Stabi oder UB, stattdessen holen Stadtteilbibliotheken und Bücherhallen das nicht-akademische Publikum ab und versorgen es mit Bestsellern, DVDs und kindgerechter Literatur. Insofern muss sich nicht jede Bibliothek neue Benutzerkreise erarbeiten – die verteilen sich schon ganz brav von alleine. Die Kurse für Analphabet*innen halte ich übrigens für eine gute Idee: Wo, wenn nicht in einer Bibliothek, erschließt sich der Sinn des Lesens besser?
Dass Museen dem Sammeln, Bewahren und Forschen gewidmet sind, schließt übrigens nicht aus, dass man auch einfach in ihnen rumbummeln kann. Bis jetzt hat mich noch kein Besucher dabei gestört, wenn ich für die Uni vor einem Bild stand. Das geht ganz prima gleichzeitig.
„Niemals zuvor in der Geschichte wurde mit Kunstwerken so viel gemacht wie heute. Um sie herum ist eine enorme Geschäftigkeit entstanden, mit der seltsamen Erwartung, dass jedes Kunstwerk jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt etwas zu geben habe. Mochte das Vermitteln von Kunst in den Jahren nach 1968 aus einem Geist der Emanzipation und Freiheit heraus entstanden sein, so ist daraus ein Imperativ geworden, dessen problematische Folgen erst allmählich sichtbar werden. So weist die Kunstsoziologin Kathrin Hohmaier in einer jüngst publizierten Studie nach, was man bereits befürchten musste, nämlich dass Kunstvermittlung sogar negative Auswirkungen zeitigen kann. Im untersuchten Fall ging es darum, Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne Erfahrung mit Museen einen Zugang zu moderner Kunst zu bahnen. Allerdings entwickelten sie während des Vermittlungsprogramms “ein hochgradig präsentes Gefühl der sozialen Exklusion im musealen Raum” – und schließlich fanden sie moderne Kunst noch sinnloser als zuvor, es wuchsen “ihre Vorurteile ihr gegenüber”. Hohmaier vermutet, dass die Kunstvermittler sich ihrer Zielgruppe zu sehr anpassten: Statt den Jugendlichen Wissen oder Interpretationen zu den Werken zu bieten, beschränkten sie sich darauf, sie, ausgehend von Exponaten, selbst malen zu lassen. Damit aber wurde ihnen “ihre eigene Bildungsferne […] noch stärker ins Bewusstsein gerufen”.“
Der Punkt geht an Ullrich. Das halte ich auch für eine selten beknackte Idee, sich Kunst anzunähern, indem man sie imitiert. Ich erinnere mich an meinen schulischen Kunstunterricht, in dem unser Lehrer uns Beuys so nahebringen wollte: Wir sollten das Erdtelefon in anderer Form nachbilden. Ich habe einen Apfel neben eine alte Schreibmaschine montiert und hatte keine Ahnung, warum.
Ich frage mich, woher diese Idee kommt, sich Kunst so zu erschließen. Dinge nachzubauen, um sie mechanisch zu verstehen, ja, das kapiere ich, aber Kunst ist meist mehr als ein konstruiertes Objekt. Kunst heißt oft, dass diesem Objekt eine Bedeutung eingeschrieben wurde, die nicht durch bloßes Nachbilden erkannt werden kann. Hier sehe ich es als sinnvoller an, mich dem Werk mit Wissensvermittlung oder Interpretationsansätzen zu nähern. Die Kunstvermittler*innen könnten eben diese vorgeben und dann darüber diskutieren, anstatt Menschen mit Fragezeichen auf der Stirn ein paar Stifte in die Hand zu drücken.
Gerade Beuys ist durch pures Sehen kaum nachzuvollziehen – allerdings ist er deshalb für mich auch immer reizvoller geworden. Seine Werke haben 20 Jahre in mir rumort, bis ich endlich mal ein Buch über ihn gelesen habe bzw. länger vor seinen Werken rumgestanden habe. Ich bin mir inzwischen nicht mal sicher, ob ich ihn komplett verstehen will – meist reicht es mir, mich mit seinen Werken zu konfrontieren oder ihm bei der Arbeit zuzuschauen, z. B. im Lenbachhaus, wo ein Video seiner Performance I like America and America likes me läuft. Das wird bei mir meist zur Meditation, wenn ich lange bei Beuys rumhänge und weniger zur kunsthistorischen Auseinandersetzung. Aber auch hier: Wer sagt, dass das die einzig richtige Art ist, sich mit Kunst auseinanderzusetzen? Ich mag es sehr, bei einigen Werken gerührt zu werden, von anderen fasziniert zu sein – und wieder andere gelangweilt links liegen zu lassen. Daher stimme ich Ullrich mal wieder nicht zu, wenn er sagt, dass „jedes Kunstwerk jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt etwas zu geben habe“.
„Kunstvermittler – zum allergrößten Teil Kunstvermittlerinnen – sind höchst findig, wenn es darum geht, ihr Publikum dort abzuholen, wo es steht. Nur liefern sie es leider genau dort auch wieder ab. Sie bemühen sich gerade nicht um Bildung oder Aufklärung; vielmehr wird der jeweiligen Klientel suggeriert, sie befinde sich schon auf Augenhöhe mit der Kunst und stecke selbst voller kreativer Potenziale. Eigentlich gehe es nur noch darum, ein paar Unsicherheiten abzubauen.
Doch diese Einschätzung ist fatal. In ihrer Folge werden die Werke nämlich so vermittelt, dass nicht mehr viel von ihnen übrig bleibt. Vielmehr heißt Vermittlung von Kunst, diese bis zur Unkenntlichkeit zu verharmlosen. Hatten die Bildungsbürger noch den Ehrgeiz, sich die Kunst, die sie selbst nie hätten kaufen können, intellektuell anzueignen und sich damit als ihre wahren Besitzer zu fühlen, ja steigerte jemand wie Bazon Brock in seinen legendären Besucherschulen auf der Documenta das Selbstbewusstsein des Publikums noch durch ein Mehr an Bildung, verfolgt die Kunstvermittlung von vornherein ein anderes Ziel. Das Unbehagen, das eine schwierige, schroffe und rätselhafte Kunst auslöst, wird abgebaut, indem man all diese Eigenschaften durch Aktionismus überspielt und so tut, als sei Kunst letztlich doch ganz einfach und verlange keine Zugangsvoraussetzungen. Kunstvermittlung ist insofern vor allem Anästhesie: Sie dimmt alles auf eine vage Atmosphäre von Kreativität herunter.“
Ich bin darüber gestolpert, dass Ullrich hier als einzige Ausnahme vom generischen Maskulinum im Artikel auf die „Kunstvermittlerinnen“ hinweist. Ich kann nur spekulieren, ob hier eine latente Abneigung gegen die Mädels im Kunstbetrieb herrscht, die es weiblich-klischeehaft sozial und mütterlich eingestellt wagen, den dementen Migranten Kunst näherzubringen anstatt männlich-klischeehaft zu forschen, zu lehren und wissenschaftliche Karriere zu machen, die nur von wenigen Frauen gestört wird. Wenn ich mich in den Seminarräumen und Hörsälen umgucke, sehe ich allerdings, dass meine Kommilitonen zu ungefähr 90 Prozent weiblich sind. Wahrscheinlich gibt es daher schlicht mehr Kunstvermittlerinnen als Kunstvermittler, und der Seitenhieb Ullrichs geht peinlich ins Leere.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob wirklich alle Besucher*innenführungen Kreativität zum Ziel oder Ausgangspunkt ihrer Vermittlung haben. Ich gebe zu, ich mache selten Führungen mit, weil ich lieber selber gucke, aber man kommt ja nicht darum herum, auch mal bei einer zuzuhören, wenn sie im gleichen Raum stattfinden, in dem man selber steht. Spontan fällt mir eine Führung zu Mondrian im Bucerius-Kunst-Forum in Hamburg ein, wo eine Vermittlerin gerade einige Bilder mit der Biografie Mondrians in Verbindung brachte. Ein weiteres Mal hörte ich in der Hypo-Kunsthalle in München bei Rembrandt, Tizian, Bellotto einer Vermittlerin zu, wie sie vor einem Stillleben den Besucher*innen erzählte, ab wann welche Früchte überhaupt in Europa vorhanden waren, um gemalt werden zu können. Beide Ansätze fand ich sehr stimmig, und es musste auch niemand Blumen aus Fimo nachbasteln, um sich an einem floralen Bild erfreuen zu können. Bei einer dritten Führung in der Neuen Pinakothek sah ich allerdings eine Kindergartenklasse vor den Impressionisten auf dem Boden liegen und malen. Und das war genauso stimmig, weil es zu kleinen Kindern passte.
„Lange erwartete man gerade im linken Milieu, dass Kunst weh tue und das Bestehende negiere. Für Philosophen wie Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse bedeutete es nicht weniger als das Ende der Kunst, sie zu vermitteln und dabei zu verniedlichen, ja mit der Realität zu versöhnen. Heute jedoch müssen Vertreter einer derart kunstvermittlungskritischen Position mit dem Vorwurf rechnen, elitär zu sein. Sind Kritiker der Kunstvermittlung nicht zu verwöhnt und abgehoben, um erkennen zu können, in welch bedauernswerter Lage sich unterprivilegierte Minderheiten befinden? Sind sie sogar gegen diese Minderheiten?
Kunstvermittlung konnte sich auch deshalb widerstandslos durchsetzen, weil kein Museumsdirektor in den Verdacht geraten will, minderheitenfeindlich zu sein. Dabei ist dieser Verdacht alles andere als gerechtfertigt. Übertragen auf andere Bereiche hieße das, auch dann Diskriminierung zu unterstellen, wenn jemand meint, Senioren brauchten sich nicht mit Musik von Jugendlichen zu beschäftigen oder für Leute ohne Schulabschluss sei höhere Mathematik zu schwierig. Tatsächlich wird sonst überall akzeptiert, dass manchen die Voraussetzungen für bestimmte Gebiete fehlen. Warum sollte das nur im Fall der Kunst anders sein? Sofern ebendies behauptet wird, zeigt sich nochmals die Vereinigung von Kunstreligion und Sozialdemokratie: Für die Kunst wird ein absoluter, kein bloß relativer Wert reklamiert, sie wird zu etwas erklärt, das ausnahmslos für alle gut sein soll.“
Kunst ist für alle gut, genau wie Musik oder Tanz oder Literatur. Aber niemand wird gezwungen, sich mit ihr zu beschäftigen. Das ist für mich der große Irrtum in Ullrichs Polemik. Ich muss nicht ins Museum, aber wenn ich schon da bin, finde ich es nett, dass man mir verschiedene Angebote macht, mich mit den Inhalten auseinanderzusetzen.
Natürlich ist meine Erwartungshaltung als Kunstgeschichtsstudentin eine andere als die von vor 20 oder 35 Jahren. Vor 20 Jahren gab’s für mich die Impressionisten und fertig, mehr wollte ich gar nicht sehen, weswegen ich auch nicht mehr gesehen habe. Vor 35 Jahren allerdings haben mich meine Eltern von einem Museum ins nächste geschleppt, genau wie ins Theater und in die Oper und ins Ballett. Meine Eltern haben beide bereits mit ungefähr 16 Jahren angefangen zu arbeiten und hatten in ihrer Kindheit und Jugend keinen Zugang zu den ganzen kulturellen Einrichtungen, in die meine Schwester und ich dann mitgenommen wurden. Ich rechne es beiden bis heute sehr hoch an, dass es für mich nie eine Schwelle zu Kultur gab, über die ich mich nicht getraut habe. Ich kann mir aber vorstellen, dass es andere Menschen gibt, denen das nicht so geht. Was ist falsch daran, diese Menschen dort abzuholen, wo sie sind?
Es gibt ein Motto, das ich sehr mag, auch wenn es fies nach Kissenstickerei klingt: „Start where you are. Use what you have. Do what you can.“ Wenn du nichts mit Beuys anfangen kannst: Lies ein Buch. Oder geh einfach mal gucken. Oder frag im Museum, ob es speziell dafür Führungen gibt. (Und hoffe dann darauf, dass du kein Werk von ihm nachbauen musst.) Ich kann wirklich überhaupt nichts Schlechtes daran sehen, wenn verschiedenen Menschen Kultur nahegebracht wird. Natürlich findet das auf einer anderen Ebene statt als das, was wir an der Uni machen. Aber das ist doch der Witz an der Sache: Die Uni macht ihr Ding und Museen machen ein anderes.
Ich gebe Ullrich völlig recht, wenn er sich gegen eine Banalisierung von Kunst zur Wehr setzt und eine gewisse Erwartungshaltung an Kunstvermittlung hat. Aber nochmal: Sich generell gegen Kunstvermittlung auszusprechen – und das ist für mich eher der Tenor seines Artikels – halte ich für höchst arrogant.
Edit, 13.4.: Auf Let’s talk about arts diskutiert Ullrich in den Kommentare mit und erklärt unter anderem, dass die olle Ãœberschrift nicht von ihm ist.
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Kunstgeschichtshausarbeit „Raus aus der Kathedrale: Was die Kunstgeschichte von Software lernen kann“
Ich musste im vergangenen fünften Semester insgesamt drei Hausarbeiten schreiben, weswegen ich eine schon während des laufenden Semesters beginnen wollte, um auch ja rechtzeitig fertig zu werden – Oma Gröner läuft halt nicht mehr so schnell – und das war diese hier. Das heißt, ich hatte bei ihr nicht den konzentrierten Luxus, den ich bei den beiden Geschichtshausarbeiten hatte, die ich nach Vorlesungszeitende schrieb: Ich hatte noch Seminare, musste Hausaufgaben machen und für die Klausuren lernen, und dann schrieb ich zwischendurch eben noch eine dicke Hausarbeit, las bergeweise Bücher, schrieb wieder, las bergeweise Aufsätze, schrieb und las und schrieb und wusste bei den ganzen Ablenkungen zum Schluss nicht mehr, ob das total toll oder total mies war, was ich produziert hatte.
Diesen Punkt des Zweifels erreiche ich irgendwann bei jeder Arbeit, weil ich schließlich jeden Satz 800 Mal gelesen, korrigiert und nochmal gelesen und nochmal korrigiert habe – ich sehe ab einem gewissen Zeitpunkt den Sinn vor lauter Buchstaben nicht mehr und kann qualitativ nicht mehr einschätzen, was ich da lese. Aber bei der hier war ich besonders verwirrt, vor allem, weil ich noch das Feedback meiner sechs Reviewer*innen habe einfließen lassen und daher nochmal über alles gegangen bin.
Scheint aber ganz okay geworden zu sein, wenn ich mir die Mail des Dozenten anschaue, die gestern abend kam:
„Eine solche Note habe ich, glaube ich, noch nie vergeben, musste mich aber fragen, ob ein Argument dagegen spricht. Vielmehr möchte ich Sie fragen, ob ich diesen Text verwenden darf, um ihn anderen Studierenden als vorbildliches Muster für Aufbau und Bibliographie weiterzugeben.“
Darf der Dozent natürlich. Das kleine Fünftsemester ist sehr geschmeichelt.
Zum Inhalt: Mein Referatsthema lautete schlicht „Software“. Anstatt Computergeschichte nachzuerzählen, habe ich im Referat versucht, die vielen Möglichkeiten aufzuzeigen, in denen Software in der Kunstgeschichte (oder der Kunst) zum Einsatz kommt. Ich begann natürlich mit den (haha) Basics, erzählte von Closed-Source-Software und dem Weg zu Open Source, erwähnte Die Kathedrale und der Basar und wandte einige der dort erwähnten Prinzipien zur Softwareproduktion auf die Kunstgeschichte an. Mein Hauptaugenmerk lag auf dem kollaborativen Arbeiten; ich erwähnte Beispiele wie Madison, ARTigo oder das Brooklyn Museum, das sich über Hinweise von Besuchern freut anstatt großkotzig darüberzustehen, was der Pöbel will. („… and we welcome any additional information you might have.“)
Ich sprach über Clay Shirkys Publish first, filter later, über Open Access, über die vergrößerte Sichtbarkeit und bessere Korrigierbarkeit von Texten in e-Books und Blogs und erwähnte meine eigene Hausarbeit, die in den ersten zehn Tagen nach Veröffentlichung beachtliche 230 Mal heruntergeladen wurde – und ich behaupte, ich habe nicht unbedingt viele Kunsthistoriker*innen unter meinen Leser*innen. Ich sprach über Jeff Koons‘ Instagram-Account (der inzwischen arg leergefegt aussieht), dass Vorzeichnungen von Gemälden quasi Betaversionen seien und dass heute alles im Fluss sei – wie auch bei Software, die nie fertig wird und stets ein Update bekommt.
Aus diesem Sammelsurium wünschte sich der Dozent eine Arbeit über die veränderten Publikationsmöglichkeiten für Kunsthistoriker*innen. Das ist sicherlich kein speziell kunstwissenschaftliches Thema – auch die Naturwissenschaft arbeitet mit Open Access –, aber für mich persönlich war es sehr reizvoll, sich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen, gerade weil ich eine Freundin des Teilens bin, des offenen und unbeschränkten Zugangs zu Informationen und des Austauschs von Wissen. Und nebenbei habe ich viel über Computer- und Softwaregeschichte gelernt. (Das zitierte Buch von Walter Isaacson – The Innovators: How a Group of Inventors, Hackers, Geniuses and Geeks Created the Digital Revolution – liest sich übrigens wie geschnitten Brot, auch aus feministischer Perspektive.)
Hatte ich schon auf Twitter erledigt, aber hier noch mal der Dank an meine Reviewer*innen, die mir sehr geholfen haben.
Enjoy. Mach’s gut, fünftes Semester.
(1,0. Sehr glücklich.)
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Geschichtshausarbeit „Altstadt, Neustadt und Vorstadt im Mittelalter“
Knurr. Die Note für diese Arbeit bzw. für den Vertiefungskurs Mittelalter „Die Stadt im Mittelalter: Verfassung – Sozialstruktur – Wirtschaftsleben“ war die letzte in meinen schnuffigen Nebenfach Geschichte – und sie ist die schlechteste, die ich im gesamten Fach eingefahren habe. Sie setzt sich aus den Noten für Referat, Klausur und Hausarbeit zusammen und rausgekommen ist eine 1,8. Wenn mein iPhone-Taschenrechner recht hat, müsste ich zweimal eine 1,7 und einmal eine 2,0 bekommen haben. OMG ZWEI KOMMA NULL! DAS IST JA QUASI MANGELHAFT! … Ich passe mich nur dem Notendruck des Bachelors an, ich bin nicht hysterisch, ECHT NICHT, VERSALIEN SIND TOTAL NORMAL HIER.
Anyway. Ich nehme an, die Klausur war eine 2,0, in Klausuren habe ich noch nie eine glatte 1 produzieren können; auf das Referat habe ich eigentlich sehr gutes Feedback bekommen, wobei für mich „sehr gut“ nicht 1,7 heißt, aber nun gut.* Und dafür, dass ich sowohl mit dem Referat als auch mit der Hausarbeit ziemlich gekämpft habe, was die Findung einer wissenschaftlichen Frage angeht, ist das Ergebnis wohl noch okay. Ich bin trotzdem schlecht gelaunt. Der Kurs war vom Thema her genau meins, die Gruppe war gut, die Referatsthemen spannend, und trotzdem habe ich gefühlt nur rumgehadert.
Für die Hausarbeit hatte ich mir eigentlich vorgenommen, nachdem ich die Unterschiede zwischen Altstadt, Neustadt und Vorstadt etabliert hatte, noch einige Städte genauer zu untersuchen. Also zu gucken, ob sich z. B. die Vorstädte in Städten ähneln, die an großen Flüssen liegen. Oder ob sie sich in gewissen Kategorien von Städten ähneln, wie Salinenstädte oder Stiftstädte. Dafür hatte ich aber nach der Erklärung keinen Platz mehr, die meiner Meinung nach auch nicht kürzer hätte ausfallen dürfen, um überhaupt eine Basis zu haben, auf der man vergleichen kann. Vielleicht ist das Ergebnis dann, ich sag’s mal so böse, etwas zu banal für eine bessere Note ausgefallen. Jedenfalls war das mein Gefühl nach dem Referat, das quasi meine Hausarbeit in kürzer war, weswegen ich in der Hausarbeit ja noch ein Schippchen draufpacken wollte, was aber … ich sagte es ja gerade.
Nun denn. Falls ich einen Masterstudienplatz bekomme, werde ich trotzdem weiter in Geschichte rumwühlen, auch wenn das Fach hier in München dann „Gemeinsamer geistes- und sozialwissenschaftlicher Profilbereich“ heißt. 1,8 my ass.
Ach so, hier ist die Arbeit. Ich nöle noch ein bisschen in mich rein, ich schlechtgelaunte Strebernase.
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* Edit 5.5.2015, nach Hausarbeitseinsicht: 2,0. Dafür waren die Klausur und das Referat eine 1,7. Feedback des Dozenten, das ich komplett nachvollziehen kann: keine Quellen, teilweise etwas ungenau, teilweise zu alte Literatur, keine wissenschaftliche Frage, die einen umhaut.
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Geschichtshausarbeit „Heimat ist überall. Der Heimatbegriff in Weblogs und auf Instagram“
Das Semesterende nähert sich, die ersten Noten treffen ein. (YAY!)
Mein Kurs „Heimat“ in der modernen Welt war mein Vertiefungskurs in Neuer und Neuester Geschichte. Als kleines Nebenfach muss ich nur zwei der drei großen Epochen abdecken, was in meinem Fall heißt: Ich ignoriere die arme Antike und kümmere mich um Mittelalter und eben die neue Geschichte.
Im Heimatkurs haben wir uns mit den verschiedenen Bedeutungen, die dieses Wort haben kann, auseinandergesetzt. Zunächst lasen wir verschiedene Texte aus mehreren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und einige Wochen später kamen dann unsere Referate dran. Dazu sollten wir uns zu Gruppen zusammentun und uns ein Thema ausdenken. Frau Gröner knurrte innerlich, denn Gruppenarbeit kann ich überhaupt nicht leiden. Ja, das ruiniert garantiert den ersten Eindruck in der Bewerbung, wenn man sich als teamunfähig outet, aber wenn ich irgendwas in meinen diversen Lebensjahrzehnten gelernt habe, dann: TEAM – Toll, Ein Anderer Macht’s. Ich sitze lieber alleine vor meinen Büchern; wenn’s eine gute Note wird, ist alles meins, und wenn’s eine schlechte wird, erst recht. Netterweise traf ich auf zwei Kommilitoninnen, die auch eher Einzelkämpferinnen sind, und so überlegten wir uns ein Oberthema, das wir getrennt voneinander bearbeiten konnten.
Dass wir uns ein Thema selbst überlegen sollten, kannte ich auch noch nicht: Normalerweise zücken die Dozierenden in der ersten Stunde eine schöne, saubere Liste mit schönen, sauberen Themen, um die wir uns dann kloppen. Hier war die Ansage: „Denken Sie sich was aus, Sie haben ja anhand der Texte der letzten Wochen einige Ansatzpunkte sammeln können.“ Und wo ich innerlich dachte, super, jetzt reden fünf Teams über Ostpreußen, durfte ich (natürlich) feststellen, dass dem nicht so war, der Dozent total recht hatte und ich, wie immer, keine Ahnung.
Die Gruppen beschäftigten sich zum Beispiel mit so unterschiedlichen Dingen wie dem Asylverfahren in der Bundesrepublik, der Geschichte des Staates Israel, dem Max-Frisch-Fragebogen zu Heimat, einem Eurodistrikt in der Nähe von Straßburg, dem ständig umherreisenden Fußballtorwart Lutz Pfannenstiel, und unsere Gruppe referierte über „Heimat in der medialen Vermittlung.“ Meine Mitstreiterinnen erzählten etwas über den deutschen Heimatfilm nach 1945 und brasilianische Volksmusik, und ich guckte mir an, wie oder ob Heimat im Internet stattfindet.
Die Arbeit dazu hat mir sehr viel Spaß gemacht und ich hätte gerne doppelt so viel Platz gehabt. Die vielen Forschungspositionen zu diesem fies-schwammigen Begriff konnte ich gefühlt nur streifen bzw. in die Fußnoten packen, damit die Arbeit nicht noch länger wird. Auch zu Weblogs und Instagram hätte ich deutlich mehr schreiben können, von der Medienart an sich bis zu ihrer Nutzung und Rezeption. Die Belege zu Weblogs fand ich sehr putzig: Anstatt einfach in jede Fußnote zu schreiben „Ich bin Anke, ich blogge seit 2002, ask me anything“, musste ich gucken, wie andere diese Bewegung empfunden haben und sie zitieren. Über Instagram gibt es noch so gut wie keine wissenschaftliche Literatur; kein Wunder bei einer App, die es erst seit 2010 gibt, aber dass ich gerade mal zwei amerikanische Aufsätze von 2014 und 2015 fand, die ich nutzen konnte, erstaunte mich dann doch. Gerade in der Kunstgeschichte müssten wir uns doch um das Ding reißen: Die Filter als Kunstimitation, das Selfie als neue Porträtgattung und natürlich generell die Sujets, die abgebildet werden und sich von bisherigen Bildmotiven unterscheiden. Oder nicht? Ich persönlich würde gerne eine Linie von niederländischen Stillleben des Barock zu #Foodporn ziehen, aber ich habe leider keine Zeit. (Im Master dann.)
Lange Rede, kurze Arbeit: hier ist sie.
Die Gesamtnote des Kurses ist 1,2 – das setzt sich aus der Hausarbeit, der Klausur und dem Referat zusammen. Die Einzelnoten habe ich noch nicht, aber gefühlt war die Arbeit meine beste Leistung. Bis ich was vom Dozenten höre, kann ich also nur raten, ob es meine Lieblingsnote geworden ist.
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Edit, 5.5.2015 nach Hausarbeitseinsicht: 1,3. Sehr gut lesbar, aber ich habe die Themen teilweise zu kurz abgehandelt. Das kann ich sehr gut nachvollziehen.
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Friday I’m in love with my bookshelves
„Sie mussten ja fragen.“
„Okay, wo waren wir stehengeblieben?“
„Wer waren Sie noch mal?“
„Sie hatten noch eine Frage …?“
„Wenn wir Ihnen die Tierkolumne geben, wie würde sie heißen?“
„Was sind denn so Ihre Hobbys?“
@ankegroener Bücher stapeln?
— hirngabel (@hirngabel) March 13, 2015
.@hirngabel pic.twitter.com/1WWnoKrFtI
— ankegroener (@ankegroener) March 13, 2015
„Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“
„Was geht Ihnen so richtig auf die Nerven?“
„Was hätten Sie gern?“
„Haben Sie heute noch was vor?“
„Möchten Sie uns zum Abschluss noch etwas sagen?“
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Ein freundlicher Buchhinweis: Walter Grasskamp, „Die unbewältigte Moderne“
Meine liebste Vorlesung im letzten Semester war Kunst in Deutschland 1925–1960 bei diesem Herrn hier, von dem Sie auch ruhig mal was lesen können, wenn Sie darüber stolpern. (Ich habe mir gerade dieses Buch in der Hamburger Stabi zurücklegen lassen, wo ich Samstag sein werde.) Seine Folien beinhalteten auch gerne mal Buchtipps, die ich jetzt der Reihe nach abarbeite, denn diese Vorlesung hat so ziemlich alles umgepflügt, was ich bisher über die genannte Zeit zu wissen glaubte.
Das erste Buch, das ich mir vornahm, war Walter Grasskamps Die unbewältigte Moderne (München 1994, 2. unveränderte Aufl.) Das Inhaltsverzeichnis ist hier zu finden. Einige Kapitel des Buches sind bereits vorher einzeln veröffentlicht worden; sie wurden zwar für das Werk überarbeitet und ergänzt, aber ein bisschen merkt man dem Buch doch an, dass es nicht aus einem Guss ist. Das ist aber völlig egal, denn die Einzelteile sind spannend genug.
Grasskamp beginnt mit der Gründung von Kunstvereinen in Deutschland; der erste entstand 1817 in Hamburg. Es trafen sich Kunstinteressierte, um in kleiner, privater Runde – der Verein sollte laut Satzung nie mehr als 50 Mitglieder haben – über ihre eigenen Sammlungen von Stichen und Zeichnungen zu sprechen. Bereits 1826 gründete sich in Hamburg ein weiterer Kunstverein, der die Sache anders anging: Es gab keine Beschränkung der Mitgliederzahl, die Teilnehmer zahlten in eine Kasse ein, und von diesem Geld wurden Kunstwerke angekauft, die unter den Mitgliedern verlost wurden. Kunst wurde also nicht bewusst erworben, sondern sie wurde einem durch Zufall zugeteilt. Beide Vereine organisieren Ausstellungen ihrer Werke, bei denen Kunst verkauft anstatt nur bewundert wurde, andere Kunstvereine in anderen Städten zogen nach, es begannen die ersten überregionalen Ausstellungen – in Deutschland war ein Kunstmarkt entstanden. „Der Sieg der Kommerzialisierung der Kunst über die Tradition ihrer Aneignung durch Konversation war der Sieg des neureichen 19. über das gesellige 18. Jahrhundert.“ (S. 18) Die beiden Vereine schlossen sich und ihre Sammlung zusammen, die sie schließlich 1846 ausstellen. „Weitere zehn Jahre später wird mit einer zwangsläufigen Logik die Stadt für den Bau eines öffentlichen Museums gewonnen, das die nunmehr angewachsene Sammlung aufnehmen soll. Dieses Gebäude, die Hamburger Kunsthalle, wird 1868 eröffnet. […] [Der Verein] bleibt […] der Kunsthalle als Stifter gewogen, sie erhält 1891 die Bibliothek und die Sammlung und Stiche des Vereins, in der sich auch das Blatt befunden haben muß, um das sich 1817 einige wenige Hamburger zum ersten Mal versammelt haben.“ (S. 20/21)
Mir gefallen solche Zusammenhänge ja immer, vor allem, wenn man selbst mal durch das Museum gegangen ist und nun weiß, warum es da steht. Grasskamp nutzt die Vorgeschichte als Sprungbrett, um über den veränderten Umgang mit Kunst zu schreiben, die Rituale der Versammlung und der Kommunikation, die später dem andächtigen Schweigen vor den Werken wichen. (Eigentlich blöd. Aber dafür gibt es ja jetzt Podcasts.) Er erwähnt auch den neuen Waren- und Fetischcharakter, den Kunst nun innehat und der sich in der Verehrung äußert, die man ihr entgegenbringt. Die Ausstellungsanordnung passt sich dem Flanieren an; die Werke hängen nicht mehr in Petersburger Hängung, sondern vereinzelt auf Augenhöhe. Habermas wird zitiert, der den Übergang vom „kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“ beschreibt.
Grasskamp schreibt weiter über die neue Mobilität der Bilder, wobei er die Wege der Wanderausstellungen kurz nachskizziert, das zersplitterte Deutsche Reich dem zentralistischen Frankreich gegenüberstellt und auch die Transportbedingen erwähnt. Bilder, die heute in klimatisierten Kisten hochversichert verreisen, wurden damals vermutlich zusammengerollt per Postkutsche transportiert – oder schlimmer. „[Die Anfänge der modernen Bildzirkulation] müssen dem Bankier Johann Friedrich Städel drastisch genug vor Augen gewesen sein, um die Stiftung seiner Kunststammlung an die Stadt Frankfurt testamentarisch an die Bedingung zu knüpfen, daß kein Gemälde je ausgeliehen werden dürfe.“ (S. 31)
Diese Zirkulation sorgte dafür, dass zeitgenössische Kunst schnell im gesamten Deutschen Reich gesehen wurde. Grasskamp geht auf die Aura des Originals ein, die vor allem Walter Benjamin beschrieb und beschwörte, und beschreibt moderne Kunst und Künstler*innen, die sich der Zirkulation entziehen, wie zum Beispiel die Land Art, die an einen Standpunkt gefesselt bleiben will. Weiterhin beschäftigt sich Grasskamp mit den Kunstmessen, die ein Exzess des Kunstmarkts sind und mit ästhetischen oder Wirkungsansprüchen, die wir der Kunst einschreiben, nichts mehr zu tun haben: „Nirgends wirken Kunstwerke so heimatlos wie auf einer Kunstmesse. Nirgends, selbst im konservativsten Museum nicht, wird ihr Anspruch auf eine gesellschaftlich relevante Aussagekraft gründlicher dementiert als inmitten dieser Fülle.“ (S. 46) Über die Auseinandersetzung mit Galerist*innen und weiteren Playern des modernen Markts findet Grasskamp schließlich zum Schlusskapitel des ersten Teils, Das Elend der Provokation, in dem er heutigen Künstler*innen bescheinigt, durch „Ekeltechniken“ (S. 67) provozieren zu müssen, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden – was ihre Kunst allerdings nicht immer besser macht, sondern höchstens marktgerecht.
Der zweite Teil des Buches war der, weswegen ich es lesen wollte (wobei ich den ersten im Nachhinein genauso spannend fand). Es geht um die zeitliche Linie von der Weimarer Republik bis in die bundesrepublikanische Nachkriegszeit. Grasskamp beschäftigt sich ausführlich mit der ersten documenta von 1955, die für ihn in direkter Linie zur Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 steht.
„Als wollten sie jene Hetzausstellung wie eine bedauerliche Entgleisung revidieren, meldeten sich die Gründerväter der documenta mit Vehemenz und Begeisterung in der internationalen Moderne zurück. Sie versäumten es aber, mit ihrer documenta schlüssig und bündig auf die Fragen zu antworten, welche die Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ aufgeworfen hatte. […] Mit der Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ ist ja nicht irgendein blödsinniger, vernagelter oder barbarischer Angriff auf die moderne Kunst inszeniert worden. Vielmehr war sie ein suggestiver und raffinierter Versuch, die moderne Kunst auf der Höhe ihrer Mittel und Probleme zu diskreditieren: eine für viele Besucher sicherlich schlüssige Attacke, die auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ihre Wirkung nicht völlig einbüßte. Mit einem nur oberflächlichen Verständnis der Probleme, Debatten und Tendenzen der Moderne hätte sie nicht inszeniert werden können. Wer sich gegen sie und die von ihr propagierte Ideologie wenden will, hat daher seine Arbeit nicht schon dadurch erledigt, daß er sich vorbehaltlos zu jener Moderne bekennt, die dort am Pranger stand. Vielmehr gilt es, mit der Moderne gleichzeitig auch ihre Fragwürdigkeit, Dissonanz und offensive Arroganz zu begründen, welche die Nationalsozialisten so geschickt gegen sie ins Feld zu führen wußten. Diese historische Aufgabe haben die ersten documentas nicht erfüllt, und so bleiben sie im langen Schatten jener Hetzausstellung auch dort, wo sie sich ins rechte Licht zu rücken suchten.“ (S. 76/77)
Grasskamp weist darauf hin, dass die Deutschen genau durch diese Hetzausstellung gut über die moderne und avantgardistische Kunst informiert waren – die Ausstellung soll über zwei Millionen Besucher gehabt haben, mehr als die ersten sieben documentas zusammen. (S. 120/121) Nachholbedarf bestand also keiner, aber wie im obigen Zitat angesprochen: Die Moderne musste eingeordnet werden. Dass moderne Künstler*innen auf Werke von geistig Behinderten und Kunst der als primitiv geächteten Völker als Inspiration zurückgriffen, hatten nicht nur die Nationalsozialisten zur Diffamierung ausgenutzt. Bereits 1928 hatte Paul Schultze-Naumburg sein Werk Kunst und Rasse veröffentlicht, in dem er Werke der modernen Kunst suggestiv Fotografien von Menschen mit „körperlichen und geistigen Gebrechen“ gegenüberstellte und sie damit diskreditieren wollte (S. 112–119). Die documenta begang, laut Grasskamp, einen schweren Fehler, indem sie ebenfalls mit der Gleichmacherei durch Bilder arbeitete: Im Eingangsbereich der documenta I hingen Bilder von afrikanischer Stammeskunst, die zwar genau das Gegenteil belegen sollten, was Schultze-Naumburg versucht hatte, aber in der gleichen unglücklichen Tradition standen. Auch sie sagten: Die Moderne mit ihrer Formensprache ist nicht neu, sondern uralt und damit nichts, vor dem man sich füchten oder was man verdammen muss. Grasskamp weist auch auf eine Fotostrecke im Magazin der Fotoagentur Magnum hin, die 1959 abstrakte Bilder der Moderne Fotografien von realen Gegenständen gegenüberstellte, die ihnen visuell ähnelten – z. B. Kandinskys Hinauf von 1925 mit einem Raketenstart. Hier lautete der Schluss, dass die Abstraktion vielleicht gar nicht so abstrakt sei, sondern in unserer dinglichen Welt verortet. Beide Aktionen waren nichts Geringeres als die „vollständige Negierung all dessen, was abstrakte Kunst je gewesen war: Nämlich alles andere als realistisch und das erklärtermaßen, weil solche Bilder nicht nur gemalt, sondern von ihren Autoren zum Teil auch begründet worden waren, nicht zuletzt von Kandinsky. Auch in diesem Rückruf der Abstraktion, die in die visuellen Gewohnheiten des Alltags hineingeholt wird, schlägt das Prinzip der documenta durch, die Moderne im deutschen Feindesland um den Preis zu propagieren, ihre zentralen Motive und Leistungen zu verharmlosen: Bewahren durch Preisgeben.“ (S. 101)
Im letzten Teil des Buchs beschreibt Grasskamp die weitere Entwicklung der Ausstellungs- und Kunstpolitik in der Bundesrepublik, wobei er auch noch einmal auf die anfangs erwähnten Kunstvereine zurückkommt und auch einen kurzen Blick auf die DDR wirft. Für mich sehr spannend war die Auseinandersetzung mit der modernen Kunst als „ästhetische Stellvertretung demokratischer Werte“ (S. 135), gerade direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und als Kontrast zu dem, was eben noch als Kunst galt.
„Das Demokratische in der modernen Kunst wurde essentiell darin gesehen, daß sie Individualismus, subjektive Freiheit, souveränen Handlungsspielraum und unzensierte Deutungsvielfalt verkörperte. Es sind Eigenschaften, die sie zweifellos auch kultiviert hatte, deren Herkunft jedoch in Sozialmilieus ihrer Entstehungszeit zu suchen ist, deren teilweise undemokratische, auch antidemokratische, durchweg elitäre Haltungen im Zuge einer Neuinterpretation der Moderne in der Nachkriegszeit vernachlässigt und verdrängt wurden. So konnte in den Diskussionen der Nachkriegszeit ein Gegner der modernen Kunst leicht zum Gegner der Demokratie gestempelt werden, weil in Vergessenheit geraten war, wie selten in der Gründungsgeneration der modernen Kunst die Befürworter der Moderne auch Befürworter bürgerlichen Demokratie gewesen waren.“ (S. 135)
Grasskamp erwähnt die Förderer des Blauen Reiter, die sich durch eben diese Förderung gegen ihre eigene, bürgerliche Klasse wehrten. Mir fielen in diesem Zusammenhang noch die Futuristen ein, von denen besonders Marinetti sich den Krieg wünschte: „Dichter, Propagandist des Futurismus, Filippo Marinetti, forderte 1909 die Zerstörung aller Museen. […] Lauthals pries man auch den Krieg als Reinigung, vor allem aber Geschwindigkeit und Dynamik durch den Fortschritt der Technik. Die ästhetische Schlussfolgerung Marinettis lautete: ‚Ein Rennauto ist schöner als die Nike von Samothrake.‘“ (Peter H. Feist: Figur und Objekt – Plastik im 20. Jahrhundert, Leipzig 1996, S. 41/42. Immer gut, wenn man seine Stoffsammlungen zu alten Hausarbeiten im Kopf hat.)
Ich fand es sehr spannend, viele Facetten zu einem Thema in einem Buch versammelt zu haben, die sich ergänzten, aber in ganz unterschiedliche Richtungen gingen. Daher lege ich euch das schmale Bändchen dringend ans Herz. Lässt sich gut weglesen und macht den Kopf schön auf. (Und ignoriert die lächerliche 1-Stern-Wertung auf Amazon.)
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Learning by doing
Die letzten acht Wochen habe ich quasi am Schreibtisch gelebt. Neben mir meine Teekanne, anfangs mit Assam, dann mit Ostfriesentee, neuerdings mit Earl Grey darin, das Milchkännchen, meine japanische Teeschale. (Irgendwann werde ich grünen Tee mögen, aber jetzt gerade findet in der Schale halt ein kleiner culture clash statt. Sie scheint nichts dagegen zu haben.) Eine Vase mit Blumen links von mir. Direkt vor mir mein MacBook Air. Und auf dem kompletten Rest des Tisches: Bücher, Bücher, Bücher, Stifte, Textmarker und Post-its in verschiedenen Farben, mein Moleskine, in das ich während der Vorlesungen und Seminare schreibe, Karteikarten, auf die ich das Geschriebene verkürzt bzw. sortiert übertrage und mit denen ich lerne, noch mehr Bücher, noch mehr Karteikarten. Ende Januar habe ich sieben Klausuren geschrieben, im Januar selbst meine erste Hausarbeit, während ich noch Uni hatte, im Februar und bis gestern in der vorlesungsfreien Zeit zwei weitere Hausarbeiten. Der Abgabetermin ist der 5. bzw. für zwei Arbeiten der 15. März, aber ich bin jetzt mit allem durch und packe gerade den Koffer für Hamburg. Nach acht Wochen habe ich zum ersten Mal Zeit, richtig Luft zu holen und zu gucken, wie es mir geht.
Mir geht es hervorragend.
Die Wochen vor den Klausuren waren sehr anstrengend, aber gleichzeitig fand ich es großartig zu merken, wie ich inzwischen akademisch arbeite. Allmählich ist ein Rhythmus da, allmählich kommt eine gewisse Routine, was den Ablauf von Lernen und Hausarbeitenschreiben angeht. Und nach fünf Semestern kommen auch im Minutentakt die Querverbindungen, die mich von Anfang an so fasziniert haben, dieses „Hey, davon habe ich in Kunstgeschichte schon gehört“, wenn in Geschichte ein Thema aufpoppt und umgekehrt. Allmählich wird aus den vielen Einzelteilen, die ich hier vorgesetzt bekomme, ein Ganzes. Oder wenigstens ein Teil eines Ganzen, den ich überblicken und an den ich einen anderen Teil anlegen kann. Allmählich öffnet sich vor mir die, Achtung, jetzt wird’s pathetisch, aber ich habe sehr viel Tee intus, ganze klare Schönheit von Geschichte und Kunst, von den Verknüpfungen, die sie miteinander und durcheinander entwickeln und denen ich jetzt nachspüren darf. Bei jedem Buch, das ich jetzt lese oder überfliege, bleibt irgendwas hängen, weil inzwischen ein Raster da ist, in dem etwas hängenbleiben kann. Bei jedem neuen Thema ist ein winziger Referenzpunkt da, auf den ich zurückgreifen kann und der mich weiterträgt. In jeder Kirche habe ich andere Kirchen vor Augen, bei jedem Bild, das ich anschaue, tauchen andere auf. Ich sehe Mode anders an, Theaterkostüme, Werbeplakate. Ich schaue teilweise nicht mehr inhaltlich, sondern nach Struktur, Farbe, Aufbau, Bedeutungen, Referenzen, Möglichkeiten, das Gesehene einzuordnen, in mein Raster zu packen, es im Kopf zu behalten, weil ich weiß, dass ich es noch mal brauchen werde. Um mich herum ist auf einmal so viel Schönheit, die ich vorher nicht gesehen habe, weil ich anders auf meine Welt geschaut habe. Und auf meinem Nachtisch stapeln sich Bücher, die ich vor zwei Jahren nicht mal in die Hand genommen hätte.
Mich schrecken wissenschaftliche Texte nicht mehr, sie fordern mich heraus. Und wenn ich einem erliege, greife ich zu einem anderen, den ich erobern kann. Irgendeiner wird mir schon sagen, was ich wissen will, denn ich will so viel mehr wissen als noch vor zweieinhalb Jahren im ersten Semester. Mit jedem Einzelteil, das ich einordne, merke ich, wieviele noch fehlen, und wenn ich genug Tee trinke (und meine neu eingestellte Medikation so gut weiterfunktioniert wie jetzt gerade), werde ich sie alle aufsammeln.
Ich werde weiter Bücher lesen, Texte schreiben, Karteikarten beschriften, Moleskines nachkaufen. Ich will noch nicht, dass das aufhört, was mir in den letzten acht Wochen so unglaublich viel Freude bereitet hat und mir eine ungeheure Befriedigung und einen tiefen Frieden verschafft hat. Zu wissen, ich stehe morgens auf, um nichts anderes zu tun als zu lesen, zu schreiben und zu lernen, davon zu profitieren, was andere vor mir gelesen, geschrieben und gelernt haben, hat mich so glücklich gemacht wie selten etwas anderes. Es ist ein anderes High als Fußballjubel oder Opernglück oder bei Sonnenuntergang auf die Elbe oder die Isar zu gucken oder im Arm des Lieblingsmenschen einzuschlafen. Es ist ein High, das ganz alleine aus mir kommt. Ich alleine sitze hier und lese und schreibe und lerne. Ich alleine gehe in die Bibliothek und fussele wahrscheinlich viel zu lange an Fußnoten rum oder an der richtigen Formulierung für die Kapitelüberschriften der Hausarbeit. Ich alleine mache das. Ich kann das. Und ich will das. Ich will das so sehr, dass ich darüber Treffen mit Freunden vergesse oder Wein nachzukaufen oder mal wieder in die Arena zu gehen. Ich will hier nur sitzen und lesen und schreiben und Tee trinken. Ich habe noch keine Noten für meine drei Arbeiten (ich habe auch erst zwei abgegeben), aber selbst wenn das keine Einsnullen werden, auf die ich natürlich hoffe, weiß ich, dass ich alles dafür getan habe, dass es Einsnullen werden könnten. Ich habe über Fußnoten und Kapitelüberschriften nachgedacht, weil ich das gerne tue und nicht, weil ich es muss. Und so richtig klar ist mir das erst in den letzten Wochen geworden, als ich merkte, wie wenig ich vermisse, wenn ich am Schreibtisch sitze, neben mir die Teekanne und die Blumen. Ja, es wäre perfekt, wenn der Lieblingsmensch und ich in einer Stadt wären, aber was ist schon perfekt. Und dieser Schreibtisch hier mit dem MacBook und den Büchern darauf – das ist schon verdammt nah dran.
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Fehlfarben 4: Happiness is a Common Ground
Nach etwas längerer Pause melden wir uns zurück: Wir besuchten zwei Ausstellungen und testeten drei südamerikanische Rotweine.
Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 84 MB, 100 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.
00.00:00. Begrüßung und Vorstellungsrunde
00.02:20. Blindverkostung Wein 1.
00.03:45. Unsere erste Ausstellung: Stephan Huber – Weltatlas. Läuft noch bis zum 28. März in der Eres-Stiftung in München. Die Website des Künstlers mit hochauflösenden und scrollbaren Karten findet ihr hier. Wir sprechen unter anderem über Geografie der Liebe & Nervenbahnen der Abenteuer, La Ville Sentimentale vs. AIC (Ambient Informatic City) und Passage durch den Überbau. Die Ausstellung bekam von uns drei Daumen nach oben.
00.29:28. Zwischendurch mal Blindverkostung Wein 2. Dann geht’s weiter mit Herrn Huber, wo wir unter anderem die mappa mundi erwähnen.
00.50:00. Blindverkostung Wein 3.
00.52:20 Unsere zweite Ausstellung: Common Grounds in der Villa Stuck, läuft noch bis zum 17. Mai. Die Ausstellung bekam von uns ebenfalls drei Daumen nach oben.
01:32.00 Auflösung der Weine und Verabschiedung.
Bei den Weinen waren wir uns alle einig, welcher uns am besten geschmeckt hat (wie langweilig). Wir würden alle noch mal kaufen, aber das war unser Siegertreppchen:
Platz 1: Wein 2. Das war ein chilenischer Montes Alpha Carmenère vom Weingut Viña Montes, 2012, 14,5%, 14 Euro.
Platz 2: Wein 1. Das war ein chilenischer Casillero del Diablo Cabernet Sauvignon vom Weingut Concha y Toro, 2013, 13,5%, 8 Euro.
Platz 3: Wein 3. Das war ein argentinischer Passo Doble Malbec/Corvina vom Weingut Masi Tupungato, 2009, 13,5%, 10 Euro.
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„Und, Anke, wie war so dein fünftes Semester?“
Anstrengend. Kthxbai.
(Erstes, zweites, drittes, viertes Semester)
In diesem Semester kamen mehrere Dinge zusammen, die es etwas herausfordernd gemacht haben. Zum einen meine (seelische) Gesundheit, die gerade im Oktober und November eher memmig drauf war, was es mir teilweise schwer, teilweise unmöglich gemacht hat, morgens aus dem Bett zu kommen. Dadurch versäumte ich einige Vorlesungen und Seminare, was mich übermäßig hysterisch hat werden lassen, als es um Referate ging, die zum ersten Mal nicht alle unterhaltsam waren, sondern Arbeit. Natürlich waren sie immer noch toller als vieles, was ich vor dem Studium gemacht habe, aber im Vergleich zu den ersten Semestern waren sie Arbeit. Also diese Form von „Augen zu und durch“-Arbeit, die ich so verabscheue, weil ich gerade im Studium, das immer noch eine Art Sabbatical vom echten Leben ist, meinen Kram eben nicht wegarbeiten will, sondern bewusst und freudig was dabei lernen möchte. Das klappt fast immer, aber dieses Mal nicht so ganz.
Zusätzlich habe ich mir selbst genau den Druck gemacht, über den ich immer mütterlich lächele, wenn meine 20-jährigen Kommilitoninnen über ihn reden. Während sie glauben, dass ihr Leben vorbei ist, wenn sie jetzt nicht dieses Praktikum in Paraguay kriegen, kann ich nachts nicht schlafen, weil ich glaube, keinen Master-Studienplatz zu bekommen, wenn mein Schnitt nicht noch besser als 1,2 wird. Da ist er im Moment, wenn ich richtig rechne. Weiß ich aber nicht genau, weswegen ich noch mal extra schlecht schlafe.
An einer weiteren Sache knabbere ich auch rum, aber das ist mehr so anstrengend auf der Meta-Ebene: Ich vermisse mein Expertinnenwissen, das ich in der Werbung hatte und das in Kunstgeschichte auch nach fünf Semestern gefühlt eher rudimentär vorhanden ist. Meine Dozierenden sind meist in meinem Alter oder drüber, und gerade bei den Gleichaltrigen (oder sogar Jüngeren) fällt es mir jetzt, nach zweieinhalb Jahren, allmählich schwer, immer die doofe Studentin zu sein. Ich vermisse die Gespräche auf Augenhöhe, die ich in der Werbung hatte. Es liegt nicht unbedingt am Alter – in der Agentur habe ich Textinchen mir auch von Grafik-Praktis was sagen lassen, weil ich von ihrem Job null Ahnung habe. Es liegt einfach daran, dass es mich allmählich mürbe macht, auch an der Uni null Ahnung zu haben. In den ersten Semestern war das funky und aufregend, so dumm durch die Gegend zu spazieren, aber jetzt, warum auch immer, zehrt es gerade an mir. Ich merke zwar, wenn ich mit Freunden oder Freundinnen über mein Studium oder Kunst spreche, wieviel ich schon gelernt habe, aber sobald meine Dozierenden vor mir stehen, relativiert sich das außerordentlich schnell. Natürlich weiß ich, dass die sich seit 20 Jahren mit Kunst befassen und ich gefühlt seit 20 Minuten, aber dass ich mir das dauernd sagen muss, nervt.
Dann war dieses Semester auch das, in dem der Kerl und ich unsere inzwischen elfjährige Beziehung mal ausdiskutiert haben. Wir sind beide sehr gut darin, unangenehme Themen unter den Teppich zu kehren oder mit Käse zu überbacken, und so schleichen wir seit zwei Jahren um das Thema rum, dass ich quasi in München wohne und nur noch zu Besuch in Hamburg bin und dass wir das beide gerade nicht ändern können oder wollen. Also habe ich die Weihnachtsferien mit weniger Lernen zugebracht als geplant und dafür mit viel mehr Reden, was aber gut war, denn ich bin jetzt wieder deutlich zuversichtlicher, dass wir das hinkriegen. Aber es ist doch alles komplizierter, als ich dachte, und es wird nicht einfacher, je länger wir in verschiedenen Städten wohnen.
Durch das viele Reden und das wenige Lernen bin ich etwas in Zeitnot geraten und habe dementsprechend fast den kompletten Januar als Eremit am Rechner zwischen Büchern und meiner Teekanne verbracht. Die einzige Abwechslung zum Lernen und dem Verfassen der ersten Hausarbeit war zur Uni zu gehen, in die Bibliothek zu gehen oder einzukaufen. Ein Konzert und einen Vortrag habe ich mir gegönnt, aber sonst war ich vom 5. bis zum 28. Januar eine totale Musterstudentin, die jetzt gerade kaum noch weiß, wie Menschen aussehen, die nichts mit Geschichte oder Kunstgeschichte zu tun haben. Deswegen freue ich mich sehr auf den morgigen tpmuc, bevor ich bis Dienstag nochmal für die letzten Klausur abtauche.
Und das alles (Kränkeln plus Hysterie plus Schlafstörungen plus Metastress) kommt natürlich genau in dem Semester, in dem ich am meisten zu tun habe, weil ich ja fünf Semester Geschichte in drei quetsche, um im nächsten Semester total entspannt meine Bachelorarbeit schreiben zu können, ohne nebenbei noch Seminare abarbeiten zu müssen.
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Aber natürlich war das Semester genauso toll wie es anstrengend war und ich habe wie immer viel gelernt.
Ich habe gelernt, dass Blockseminare überhaupt nichts für mich sind. Das mag ja für einige Studis prima sein, in nur vier Tagen ein ganzes Semester runterzureißen, aber genau das fand ich blöd. Ich mag den Wochenrhythmus, ich mag meine festen Termine, und ich mag es, dass der Stoff Zeit hat, sich sieben Tage lang in meinem Hirn festzusetzen. In den vier Tagen des Blockseminars in Geschichte – zweimal im November, zweimal im Januar – wusste ich abends schon nicht mehr, was ich morgens gelernt hatte, weil es einfach zu viel Stoff in zu kurzer Zeit war. Das Thema „Die Stadt im Mittelalter“ war großartig, aber ich habe leider längst nicht so viel mitgenommen wie ich gehofft hatte.
Das zog sich auch durch meine Referatsvorbereitung. Normalerweise kriegt man ja in den ersten zwei, drei Sitzungen ein Gefühl dafür, wo die Reise hingeht, was der Fokus des Kurses ist, worauf man bei den Referaten vielleicht den Schwerpunkt legen sollte, um am besten ins Gesamtbild zu passen. Das fehlte hier alles. Mein Referat war gleich am ersten Blocktag im November; das hatte ich bewusst so gelegt, weil ich auf keinen Fall im Januar noch ein Referat halten wollte, wo ich schon im Klausurenlernmodus bin. So hatte ich zum ersten Mal die Situation, über ein Thema zu sprechen, das für mich noch nirgends eingeordnet war. Wir mussten zwar alle vorher zum Dozenten und ihm unsere Struktur vorstellen sowie das Handout, und das war auch sehr hilfreich, aber trotzdem war alles schwammiger als mir lieb war. Ich bin bis heute nicht zufrieden mit dem Referat, obwohl der Dozent es war, und mir graut ein bisschen vor der Hausarbeit, weil mir schlicht keine spannende Frage einfällt. Mein Thema ist „Altstadt, Neustadt, Vorstadt“ und eigentlich habe ich nur 20 Minuten lang erzählt, dass es keine einheitliche Altstadt, Neustadt oder Vorstadt im Mittelalter gab. Ich suche immer noch nach einem roten Faden, der über diesen totalen Allgemeinplatz hinausgeht, aber noch habe ich ihn nicht gefunden.
Wobei ich in einer anderen Vorlesung mal wieder hübsche Bezüge herstellen konnte. In „Architektur des Mittelalters“ in Kunstgeschichte haben wir über verschiedene Gebäudetypen und ihre Funktion gesprochen, unter anderem die Stadtwaage, den Salzstadel usw. Von anderen Gebäuden wusste ich inzwischen, dass sie nur in der Vorstadt anzutreffen waren, also (sehr verallgemeinert) dem Gebiet, das außerhalb der Stadtmauer lag. Zum Beispiel lagen Schmieden immer vor den Toren wegen der Feuergefahr. Mühlen (Getreide, Papier etc.) waren an Flüssen, die sie betrieben, und lagen damit ebenfalls vor der Stadt. Deswegen hatte ich kurz überlegt, daraus was zu machen, so in die Richtung „Wie Architektur die Stadt gestaltet“, aber auch hier bin ich nicht wirklich auf den Punkt gekommen. Meh. Zur Wiedervorlage.
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Ich habe gelernt, dass es Stadtwaagen und Salzstadel gab.
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Ich habe gelernt, dass ich Architektur wirklich spannender finde als Bilder und Skulpturen. Ich gucke mir die letzten beiden sehr gerne an und plaudere noch lieber darüber, aber forschen möchte ich, behaupte ich nach fünf Semestern jetzt mal so halbzart, über Gebäude. Das müssen nicht mal meine geliebten gotischen Kathedralen sein – gerade in diesem Semester ist mir das Alltagsleben im Mittelalter sehr nahe gekommen, und da würde ich gerne noch ein bisschen bleiben. Wobei ein Dozent meinte, er habe früher auch Mittelalter gemacht und sei jetzt eher in der frühen Neuzeit unterwegs, weil da die Quellenlage schlicht besser sei; da könne man richtig forschen, während man im Mittelalter manchmal einfach nur mutmaßen kann. Das klackert zwar jetzt in meinem Kopf rum, aber eine Konsequenz habe ich daraus noch nicht gezogen.
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Ich habe gelernt, dass ich mich auf mein Kolloquium richtig freuen kann, das die Bachelorarbeit begleitet. Laut unserer Prüfungsordnung müssen wir keine Disputatio halten, sondern in einem Kolloquium, an dem alle BA-Kandidat*innen des Dozenten teilnehmen, unser Projekt vorstellen. Mein Prüfer lud mich schon in diesem Semester zu seinem Kolloquium ein –„davon können Sie nur profitieren“ –, allerdings erst im Januar, was ich sehr bedauert habe. Denn dort sitzen lauter Menschen mit ganz unterschiedlichen Themen und Interessen und man bekommt von ihnen ihren derzeitigen Arbeitsstand vorgebetet. Das heißt, man bleibt nicht im engen thematischen Rahmen eines Seminars, sondern man hört bunt durcheinander was über Bilder, Künstler*innen, Skulpturen oder, wie in meinem Fall, über eine Datenbank. Und wenn niemand ein Referat hält, sprechen wir über Ausstellungen, die eine_r von uns gesehen hat oder plaudern generell kunsthistorisch in der Gegend rum. Ein Traum! Wie ein Lesezirkel, nur mit Kunst! Das hat mir in diesem Semester sehr gut gefallen und ich freue mich schon aufs nächste.
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Ich habe gelernt, dass ich nicht Superwoman bin. (Verdammt!) Meine Stofffülle hat dazu geführt, dass ich einen Kurs nach wenigen Malen verlassen habe (den brauchte ich auch nicht für meine ECTS-Punkte) und eine weitere Vorlesung seeeehr habe schleifen lassen. Ich habe zwar brav für die Klausur gelernt, die ich gestern geschrieben habe, und es könnte sogar knapp gereicht haben, aber eigentlich habe ich mich schon damit abgefunden, im letzten Semester noch mal eine Vorlesung zu Neuer Geschichte zu belegen. Was auch völlig okay ist.
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Ich habe gelernt, dass es Dozenten gibt, die in jeder Vorlesung alles umräumen, was bisher in meinem Kopf an „Wissen“ über Kunst in Deutschland zwischen 1925 und 1960 vorherrschte. Ich bin aus jeder dieser Veranstaltungen mit offenem Mund rausgekommen und musste erstmal viel lesen. Dafür verzeihe ich dem Herrn auch seine verbesserungswürdigen Folien. (Falls ich durch die Klausur falle, widerrufe ich diesen Satz.)
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Ich habe gelernt, dass ich ungern während des laufenden Semesters eine Hausarbeit schreibe. Das war dieses Mal leider unvermeidlich – siehe oben, viel Zeug in kurzer Zeit –, und die Arbeit machte auch richtig Spaß, aber ich habe zu jedem Zeitpunkt im Hinterkopf gehabt, dass ich diesen Gedanken jetzt eh nicht komplett ausformulieren kann, weil ich noch was lesen muss für morgen oder was vorbereiten oder für die Klausuren lernen. Bisher hatte ich den Luxus, nur in der vorlesungsfreien Zeit schreiben zu können, wo mich nichts und niemand in meinem Fluss gestört hat. Hier musste ich dauernd was anderes machen, und das kann ich noch nicht so gut wie ich es in der Werbung konnte, wo ja auch dauernd was TOTAL EILIGES, ECHT JETZT auf deinem Schreibtisch landet. Ich habe mir zum ersten Mal in fünf Semestern eine To-Do-Liste geschrieben, um den Überblick nicht zu verlieren, und das fühlte sich ein bisschen so an, als wäre ich alt. Ähem.
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Ich habe gelernt, dass die digitale Kunstgeschichte echt heißer Scheiß ist. Das wusste ich zwar eigentlich schon vorher, sonst wäre ich ja nicht auf die Idee gekommen, meine Bachelorarbeit zu diesem Thema zu schreiben, aber das wurde mir in diesem Semester noch mal bestätigt. Ich mag es, dass mein Fach sich auf einmal mit heutigen Dingen beschäftigt, die noch gar keine Geschichte sind. Ich mag es, dass wir auf einmal durch digitale Methoden Daten generieren können, die exakt sind und nicht das übliche wolkige Rumgemeine, was wir so gut drauf haben. Ich mag es, dass mein Fach sich gerade um mich herum verändert und, noch toller, dass ich die Chance habe, es aktiv mitzugestalten. Wer hätte gedacht, dass sowas Altbackenes wie Kunstgeschichte so modern sein kann.
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Ich habe gelernt, dass dieses Studium trotz der ganzen Nerverei, die es in diesem Semester war, eines der besten Dinge ist, die ich in den letzten Jahren angefangen habe. Mich macht jedes Seminar und jede Vorlesung glücklich und neugierig und hibbelig auf mehr, mehr, mehr. Der Master ist fest eingeplant. Und der Kerl kommt jetzt einfach viel öfter nach München als in den ersten vier Semestern. Alles wird gut, und alles bleibt spannend.