Tagebuch 27. September 2015 – Kulturgeschichte

Ich lese gerade Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. In der Einleitung weist er darauf hin, dass die Geschichtsschreibung einen künstlerischen und moralischen Charakter habe, aber keinen wissenschaftlichen. Alle menschengemachten Quellen – und wie ich inzwischen gelernt habe, sind das nicht nur Schriftquellen, sondern auch Gebäude, Erzählungen und Kleidung, um nur einige wenige zu nennen; Gemälde und Skulpturen sind natürlich auch Quellen – sind individuell geprägt, einzigartig und niemals objektiv, weswegen auch ihr Studium nicht objektiv sein kann und damit auch nicht ihre Auswertung.

Jede Geschichtsschreibung hat ein bestimmtes Ziel: Sie will entweder unterhaltsam erzählen und hat daher ein ästhetisches Motiv; sie will belehren, indem sie „Ereignisse durch Motivierungen verknüpft“ (S. 4) und hat damit ein ethisches oder moralisches Motiv; oder sie will eine Genetik der Geschichte darstellen, eine eindeutige Abfolge von Geschehnissen aufzeigen – die Logik der Geschichte zeigen und aufklären (was ebenfalls individuell motiviert ist). Jede Zeit hat ihre eigene Geschichtsschreibung, was erneut gegen eine Objektivität spricht, denn in jeder Zeit waren einige Dinge wichtiger als andere, die wir heute vielleicht anders sehen oder wo wir Ereignisse anders einordnen.

Geschichte entsteht in der Rückbetrachtung und in der individuellen Einordnung durch den oder die SchreiberIn und das ist auch gut so:

„Tatsächlich gibt es auch bis zum heutigen Tage kein einziges Geschichtswerk, das in dem geforderten Sinne objektiv wäre. Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch große Schwierigkeiten machen: denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.“ (S. 12)

Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Band 1, München 2011 (17. Auflage, Erstauflage München 1927).