Tagebuch Montag, 2. November – Weiter im Text

Ich warte gerade auf ein Buch über deutsche Mythologie aus der Stabi, aber die Grand Dame des Bücherleihs lässt sich ungern hetzen. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt drei Tage, wenn ein Wochenende dazwischen liegt, auch gerne mal fünf, was sehr doof ist, wenn man nur zwei Wochen Zeit für ein Referat hat. So eilig habe ich es derzeit netterweise nicht, mein erstes Referat über Anselm Kiefer und die deutsche Mythologie ist erst am 25. November, aber wer mich kennt, weiß, dass ich JETZT SOFORT fertig sein möchte, denn man weiß ja nie, ob man nicht wieder krank wird oder die Vogonen vorbeikommen. Außerdem setzen mein Referatpartner und ich uns am Mittwoch erstmals anständig zusammen und bis dahin hätte ich halt gerne was Hübsches, was ich ihm vortanzen kann.

Das Stabibuch liegt aber noch in irgendwelchen Kellerregalen, weswegen ich am Freitag in der Historicumsbibliothek war, um es dort im Magazin vorzubestellen, denn auch dort steht es ausnahmsweise nicht im Regal wie sonst quasi alles. Am gestrigen Montag lag es für mich bereits und ich stand um kurz nach 9 am Tresen, um es hibbelig in Empfang zu nehmen.

Meine Referate laufen meist so: Ich habe vom Thema prinzipiell gar keine oder nur den Hauch einer Ahnung, weswegen ich ein, zwei Wochen wild in der Gegend rumlese, alle Bücher bestelle, die ich tragen kann und Aufsätze ausdrucke, so weit die Tinte trägt. Ich habe meist relativ schnell eine Ahnung, wo ich hin will (außer beim Frauenchiemsee-Referat) und kann dementsprechend gezielter lesen. Beim gezielten Lesen passiert es dann aber grundsätzlich, dass ich noch viel tollere Ideen habe oder auf noch viel spannendere Dinge stoße und den ersten Plan wieder knicke. So war ich bis vor einigen Tagen der Meinung, ein Bild zu besprechen, würde reichen. Inzwischen glaube ich aber, wir sollten dem Kurs mehrere zeigen, die Kiefers Auseinandersetzung mit der deutschen Mythologie belegen.

Und dann fiel mir letzte Woche auch noch siedendheiß ein: Was ist überhaupt deutsche Mythologie? Erster Gedanke: die Nibelungen. Zweiter Gedanke, nach kurzem Ãœberlegen: Märchen und Volkslieder. Dann gegoogelt und das quasi bestätigt gefunden. Dementsprechende Lektüre gesucht. Wo ich mich in der ersten Woche fast ausschließlich mit der Ikonografie des Parsifal-Triptychons auseinandergesetzt habe, bin ich inzwischen bei Fragen wie: Wieso hat sich Kiefer eher mit der Wagner’schen Interpretation von Mythologie auseinandergesetzt als mit dem Eschenbach’schen Werk? In seinen Parsifal-Bildern zitiert er das Libretto, was ich für einen Kracherhinweis halte. Ein weiteres Bild von ihm heißt Nothung – so nannte Wagner Siegfrieds Schwert, das in der Nibelungensage Balmung hieß. Dann muss ich eventuell aufdröseln, wieso Wagner den Stoff überhaupt umschrieb und damit quasi eine weitere Mythologie schuf.

Weitere Fragen: In welchem politischen Klima sind wir eigentlich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, als es noch einen Riesenzirkus um Kiefers Bilder gab, weil sie an irgendwelchen Tabus rührten? An welchen genau? Mir spukt Adorno im Kopf herum, nach dem man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne; wie sieht es allerdings mit Bildern aus, vor allem mit denen, die eine Ikonografie nutzen, die nun nicht mehr unschuldig ist?

In einem sehr spannenden Aufsatz fand ich das hier:

„At any rate, the issue is not whether Kiefer intentionally identifies with or glorifies the fascist iconography he chooses for his paintings. I think it is clear that he does not. But that does not let him off the hook. The problem is in the very usage of those icons, in the fact that Kiefer’s images violate a taboo, transgress a boundary that had been carefully guarded, and not for bad reasons, by the postwar cultural consensus in West Germany: abstention from the image-world of fascism, condemnation of any cultural iconography even remotely reminiscent of those barbaric years. This self-imposed abstention, after all, was at the heart of Germany’s postwar reemergence as a relatively stable democratic culture in a Western mode.“

(Huyssen, Andreas: „Anselm Kiefer: The Terror of History, the Temptation of Myth“, in: October 48 (1989), S. 25–45, hier S. 29/30)

Kiefer schuf Bilder, die es nach 1945 nicht mehr geben sollte – womit er nicht einverstanden war. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass die Nationalsozialisten eine deutsche Ikonografie unbenutzbar gemacht hatte, indem sie aus literarischen und bildnerischen Traditionen pure Deko machten, die die Zeit nach 1945 quasi bilderlos zurückließ. Huyssen nennt diesen Zustand „a kind of enforced minimalism, ground zero of a visual amnesia“ (S. 34). Allerdings war nur die bildnerische Kunst von dieser Amnesie betroffen: In Literatur und Film wurde sich problemlos an der NS-Zeit abgearbeitet, nur die Kunst floh zu ZERO, Fluxus, Sigmar Polke und Gerhard Richter (S. 34).

In die gleiche Kerbe schlägt Walter Grasskamp, dessen Buch Die unbewältigte Moderne ich schon einmal verbloggt habe. Der folgende Ausschnitt zeigt vermutlich ganz gut, in welche Richtung unser Referat geht, aber ich will das alles noch argumentativ unterfüttern:

„Die im Parsifal formulierte Heilserwartung und der Ehrenkodex der Nibelungentreue sind durch diese Okkupation historisch diskreditiert, der Mißbrauch durch die Faschisten hat diese und andere Stoffe und Haltungen stigmatisiert. Gemeinsam mit der Erinnerung an die zwölf Jahre Tyrannei fielen auch diese Stoffe der Verdrängung anheim; wer sie aufgriff, rührte an ein Tabu: Was von den Faschisten hatte mißbraucht werden können, konnte daran nicht ganz schuldlos gewesen sein, so wollte es die Logik der Verdrängung. Noch in heutigen Reaktionen auf Kiefer schlägt sich dieses schlechte Gewissen nieder, das in Westdeutschland lange Zeit Surrogat eines kulturkritischen Bewußtseins war. Man wirft ihm seine Themen vor, ohne zu bemerken, daß damit nur ein Tabu fortgeschrieben wird, welches Kiefer zu Recht in Frage stellt, das Tabu, mit dem jene Stoffe der deutschen Überlieferung belegt worden sind, welche die letzten Lieferanten mißbraucht haben.“

(Grasskamp, Walter: „Anselm Kiefer. Der Dachboden“ in: Ders.: Der vergeßliche Engel. Künstlerporträts für Fortgeschrittene, München 1986, S. 7–22, hier S. 13/14.)

Außerdem denke ich über das Deutschsein und die Verdrängung nach, was Ende der 1960er auch durchaus eine Frage war. Steven Henry Madoff nannte 1987 in Art News die Bundesrepublik „the land of forgetting that had thrown itself into a present tense of postwar redevelopment“. Auf Handzetteln, die zur Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele 1951 (interessanterweise mit dem Parsifal) verteilt wurden, stand der großartig-ignorante Satz: „Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen.“ Das Zitat kannte ich, weil ich Brigitte Hamanns Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth natürlich im Regal stehen habe.

„1968: The primary desire of West Germans was to assert some degree of independence from the American values and culture that had shaped the Federal Republic since its inception, even though many of those values were stil held in high regard. As a result, the notion of German identity that had been sterilized by two decades of West German conservativism was revitalized – what, after all, did it mean to be German in the absence of suitable role model, either German or American?“

(Hughes, David A.: „Playing it by the Book. The Early Work of Anselm Kiefer“, in: Zuckermann, Moshe (Hrsg.): Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIV. Geschichte und bildende Kunst, Göttingen 2006, S. 232–253, hier S. 238.)

Ich habe derzeit also viele Fäden in der Hand, aber noch keine richtige Ahnung, wie ich daraus einen Pulli stricke. Momentane Lieblingsbilder für die Präsentation: Parsifal II, Siegfried vergisst Brünnhilde, Maikäfer flieg. Mal sehen, was mein Partner sagt.

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In der Barockvorlesung Berninis Sant’Andrea al Quirinale fertiggeguckt, dann da Cortonas Fassaden von Santissima Luca e Martina und Santa Maria della Pace bewundert. Mit den römischen Kirchen sind wir jetzt durch, nun folgen die Paläste. Natürlich kamen zuerst die Barberinis dran, und zum Schluss durfte ich nochmal Borromini hachzen, denn seine Fassade vom Palazzo di Propaganda Fide ist großartig.

Die Straße, in der Borromini die Südfassade gestalten sollte, war und ist sehr eng, das heißt, man hat keinen Blickpunkt, von dem der oder die Betrachter*in mal so richtig schön in Ruhe frontal auf den Palast gucken kann. Man kann sich ihm nur seitwärts nähern. Also hat Borromini die Fassade so gestaltet, dass man beim Vorbeischlendern eine gewisse Dramatik und Dynamik spürt. Der erste Pilaster, an dem man vorbeikommt, ist angeschrägt und zieht einen quasi in die Fassadengestaltung hinein. Die Pilaster um die mittlere Travée neigen sich nach innen und öffnen so die Wand zum eigentlichen Eingang hin. Zusätzlich ist ein Teil der Fassade mal wieder konvex (Borromini, du One-Trick-Pony!), was im Zusammenspiel mit konkaven Elementen eine Bewegung erzeugt. An diesem Gebäude habe ich außerdem den Begriff des syrischen Bogens gelernt.

Nach der Vorlesung ging es wieder in die Bibliothek zur Mythologie, aber mangelnde Konzentration und ein knurrender Magen trieben mich gegen 16 Uhr nach Hause. Dort gab’s Reste, und ich las weiter Bücher und Aufsätze, unterbrochen nur von Teekochen und den neuen Folgen von The Affair und The Good Wife. Und dem Bedauern, nicht noch eine Stimme abgeben zu können. Ja, ich könnte mich jetzt dumm stellen („Huch, das hatte ich schon eingeworfen“), mach ich aber nicht.

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