Tagebuch Dienstag, 3. November – „Das Vorsprechen“
In den Kammerspielen, genauer gesagt, in der Kammer 2, der ehemaligen Spielhalle, fand gestern das Absolventenvorsprechen der Otto-Falckenberg-Schüler*innen statt. Normalerweise geschieht das vor eingeladenem Publikum, also Dramaturg*innen und Intendant*innen, die neue Darsteller*innen für ihre Häuser suchen. Dieses Mal durften auch Laien rein und sich zusammen mit den Profis angucken, wie die Schauspieler*innen sich präsentieren. Das waren quasi aufgeführte Bewerbungsmappen. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie derartige Veranstaltungen sonst so aussehen, aber ich mochte es, mal kein Stück von Anfang bis Ende zu sehen, sondern viele kleine Szenen nacheinander, die jeweils einen Menschen und sein Können als Zentrum hatten.
Die Darsteller*innen kannte ich alle aus Glow! Box BRD, das mir sehr gut gefallen hatte. Einige waren mir sofort wieder präsent, ich hatte sie noch von ihrer anderen Rolle im Ohr, und da fiel mir auf, wie sehr sie mich anscheinend schon bei ihrem ersten Auftritt beeindruckt hatten. Gleichzeitig war mir gestern aber dann auch bewusst, dass ich einige von ihnen vielleicht zum letzten Mal in München sehen werde, weil sie eventuell Angebote von außerhalb bekommen werden. Das fand ich interessant – zu merken, dass einem Stimmen und Körper durch gutes Handwerk so schnell etwas bedeuten können.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Theater gerade wiederentdecke. Ich hatte in der Schule ein Theater-Abo, wie sich das für den bildungsbürgerlichen Mittelstand gehört, aber nach dem Abi ging ich kaum noch. Erst seit ich in München bin, habe ich ab und zu mal ein Ticket gekauft und es hat mir immer gut gefallen. Seit ich mit F. zusammen bin, gehe ich wieder regelmäßiger, denn der Mann sitzt quasi jeden zweiten Abend vor irgendeiner Bühne, und neuerdings kauft er einfach mal zwei Tickets statt nur eines, wenn er glaubt, mir könnte ein Stück gefallen, und schleppt mich mit. Das hat bis jetzt auch bis auf eine Ausnahme hervorragend geklappt; ich fand jede Aufführung spannend und befruchtend und selbst die eine, die ich komplett blöd fand, hat sich gelohnt, weil in ihr ein paar szenische Ideen drin waren, die mein inzwischen bildgeschulter Kopf als „clever“ abgespeichert hat.
Ich mag die Unmittelbarkeit sehr, mit der sich im Theater vor mir etwas entfaltet. Ich empfinde das inzwischen als viel gewaltiger als das Kino, in dem ich 25 gute Jahre verbrachte, das mir in letzter Zeit aber zunehmend banal vorkommt. Ich mochte am Film seine Möglichkeit, mich zu fesseln, mich zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Aber selbst wenn ich mich völlig in einem Film verloren hatte, wusste ich im Nachhinein, dass mich ein Soundtrack traurig gegeigt hat, teure Special Effects mich den Atem haben anhalten lassen und die Schauspieler*innen die Möglichkeit hatten, die Szene 25 Mal zu drehen, bis sie perfekt ist.
Im Bayreuther Parsifal von Stefan Herheim merkte ich sehr deutlich, dass mich direktes Spiel genauso fesseln kann, mich genauso zum Weinen und zum Atemanhalten bringen kann. Und in jeder Theateraufführung merke ich es wieder, und es fühlt sich noch neu und aufregend an, wie ein Geschenk, das vor einem ausgepackt wird. Und es braucht nicht mal die Wunderkerzen von Industrial Light & Magic, es reicht ein einziger Spot, eine leere Bühne und eine Person, die weiß, was sie tut, um mich um den Finger zu wickeln.
Dementsprechend spannend fand ich die einzelnen Darbietungen gestern. Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien sich die Schüler*innen ihre Szenen aussuchten; natürlich soll das eigene Können bestmöglich präsentiert werden, aber da fing es schon an: Versuche ich so viel wie möglich in eine Szene zu packen? Zeige ich, dass ich die Klassiker genauso drauf habe wie modernes Theater? Wieviel Körperlichkeit führe ich vor, wie wichtig sind Zurückhaltung und stille Momente, bin ich komisch, bin ich wütend, bin ich laut, bin ich alles? Geht das überhaupt?
Ich möchte mir nicht anmaßen, die Leistungen zu beurteilen, weil ich das schlicht nicht kann, dafür fehlen mir noch durch ständiges Vergleichen geschulte Augen und Ohren. Mich haben aber einige Dinge sehr beeindruckt, aus ganz verschiedenen Gründen.
Merlin Sandmeyer begann mit einer Szene aus Einige Nachrichten an das All von Wolfram Lotz; hier zu lesen, und ein Stück, das mit den Worten „Wir befinden uns in einer Explosion, ihr Ficker“ beginnt, kann nicht schlecht sein. Sandmeyers Szene steht auf S. 18 bis 20. Ich mochte an ihm sein komisches Timing und wie er den kompletten Bühnenraum ausnutzte, wenn auch nur, um zu zeigen, dass ihm klar ist, dass er eine ganze Bühne für sich hat, also rennt einmal exakt außen ums Bühnengeviert herum, um den Juroren klarzumachen, dass er sich Raum nehmen kann. Ich mochte die zwei Ebenen seines Spiels; die eine war die völlig überzogene fürs Publikum – guck mal, was ich mir für Gesten im Unterricht angeeignet habe –, die zweite war die, in der er sein Handwerk eben nicht so offensichtlich raushaut. Als die imaginäre Fernbedienung für den imaginären Beamer zickte, klopfte er so schnell und kurz aus dem Handgelenk dagegen, dass ich vergaß, dass der Mann gerade spielt. Und ehrlich gesagt hat mich auch der Text beeindruckt, bei dem man kaum was zum Festhalten hat beim Auswendiglernen, weil es eine einzige lange Aufzählung ist.
Jonathan Berlin nahm sich Hamlet vor und bei ihm habe ich zum ersten Mal kapiert, wie so ein Vorsprechen funktioniert. Man bettet, wenn man mag, die eigentliche Szene in eine andere ein, die noch weitere Facetten von einem zeigt. Berlin begann den bekannten Monolog mit einer Dankesrede wie auf einer Oscar-Verleihung und zeigte sowohl seine Komik als auch seine körperliche Ausdauer, weil er ewig um die Bühne rannte, während er immer wütender wurde, weil ihm das Mikro abgedreht wurde. Dabei wurde er leider etwas unverständlicher, aber das machte er mit dem ollen Dänen wieder wett. Denn sein Requisit auf der Bühne war neben dem Mikro ein Sack voller Erde, vor dem er schließlich atemlos kniete, „Sein oder Nichtsein“ sagte und sein Gesicht in eben diese Erde drückte. Gefühlt minutenlang. Wir konnten ihm dabei zusehen, wie sein Körper rot anlief, weil er keine Luft bekam, wie seine Schultern sich verzerrten, wie er nur noch aus Muskeln bestand, bevor er den Kopf endlich wieder hochriss und weiter monologisierte. Ich weiß immer noch nicht, ob ich das total quatschig oder total toll fand, aber ich denke immer noch drüber nach.
Daniel Gawlowski brachte es fertig, einen Pädophilenmonolog aus Kroetz’ Requiem für ein liebes Kind mit einer Gesangsdarbietung von Sexy and I know it zu verknüpfen und das funktionierte unheimlicherweise sehr gut. Seine Darbietung fand ich perfekt, weil sie viele Facetten von ihm zeigte, sein komödiantisches Talent, sein dramatisches, seine Körperlichkeit. Er kam mir überhaupt von allem am rundesten vor. Aber wie gesagt, ich hab keine Ahnung.
Caroline Tyka überraschte mich: Ihre Szene sollte laut Programmheft die Elektra sein, aber erstmal kniete sie sich hin und sang Florence + The Machine. Und dann auch noch ein Lied, das ich fürchterlich schwierig zu singen finde. Ich sang im Kopf mit und guckte ihr zu, wie sie sich langsam steigerte, ihre Stimme kräftiger wurde, lauter, ich folgte ihr blindblöd, wo immer sie mich hinhaben wollte – und plötzlich sagte sie klar, leise, deutlich: „Wo bist du?“ und war nicht mehr Florence, sondern Elektra. Und ich erwischte mich dabei, „wow“ zu denken. Im Monolog verlor sie mich dann wieder etwas, weil ich mich nicht auf die Worte konzentrieren konnte oder wollte, aber kurz vor Schluss stand sie im Bühnenhintergrund, schlicht in Schwarz gekleidet, barfuß, die silbernen Pumps in der Hand, seitwärts zu uns gewandt, und ich hing an ihren Lippen und wollte, dass sie weitersprach, ganz egal was, so sehr hatte sie mich alleine durch ihre Präsenz.
Auf Irina Sulaver hatte ich mich am meisten gefreut, denn in die Dame hatte ich mich in Glow! Box BRD ein bisschen verknallt. Ich mochte an ihr, dass sie mit einer Szene aus Sathyan Rameshs Die ganzen Wahrheiten ein modernes Stück spielte, nachdem ich von ihren drei Mitstreiterinnen bisher Die Glasmenagerie, Die Möwe und eben Elektra gesehen hatte. Sie war auch genauso präsent und unterhaltsam und faszinierend wie ich sie beim ersten Mal kennengelernt hatte, weswegen ich mir jetzt wünsche, sie dann doch mal in was Klassischem zu sehen. Ich kenne von ihr jetzt nur die eine Facette, was ich im Nachhinein etwas bedauert habe, wobei das natürlich an mir liegt. Das Stück würde ich übrigens gerne mal komplett sehen; ein Satz – eine Klage über die mies bestückten Minibars in Hotels – „Immer nur Pikkolo und Ültje!“ wird jetzt zu meinem rallying cry, und die wunderbare Wortschöpfung „Schlemmerscholle“, die aus der vergeblichen Suche nach dem richtigen Wort, das ein Tiefkühlgericht mit Fisch bezeichnet, entstand, kommt jetzt auch in mein Standardvokabular.
Das Vorsprechen findet noch viermal statt – heute abend zum Beispiel. Guck-Empfehlung.
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Edit: Wie die Profis von der Nachtkritik den Abend sahen.