Tagebuch Montag, 9. November 2015 – Referat, Uni, Überraschung
Vor der Uni um 12 am Schreibtisch gesessen und endlich die Anselm-Kiefer-Referatstruktur festgezurrt. Für mich jedenfalls, mal sehen, was mein Mitstreiter sagt.
Ich hatte seit Tagen Schwierigkeiten, die deutsche Mythologie, das politische und kulturelle Klima Ende der 1960er, Anfang der 1970er und die Wagner-Nutzung im NS-Staat mit den Werken Kiefers unter einen Hut zu kriegen bzw. die ganzen Einzelteile in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Ich glaube, jetzt hab ich’s: Wir fangen mit kurzen biografischen Hinweisen an sowie mit den Themen, mit denen sich Kiefer seit 45 Jahren auseinandersetzt, und leiten dann über zu unserem eigentlichen Fokus, der Mythologie. Die erläutern wir anhand einzelner Werke; anfangs hatten mein Partner und ich uns überlegt, erstmal den ganzen theoretischen Kram zu erzählen und dann die Werkbesprechungen zu machen, aber ich glaube inzwischen, es ist sinnvoller, alles miteinander zu verbinden.
Wir beginnen mit dem Werk Besetzungen von 1969, Kiefers Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Karlsruhe, einem Fotobuch, das ihn an verschiedenen europäischen Plätzen zeigt, an denen er den Hitlergruß zeigt (hier einige Bilder). Kiefer nutzt die faschistische Ikonografie, um sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, er performt sie, um sie zu verstehen. Die Bilder zeigen einen kleinen Mann, der alleine eine Geste vollführt – das ist ein großer Unterschied zu 500.000 Menschen beim Reichsparteitag. Trotzdem kamen die Bilder nicht allzu gut an, und Kiefer wurde unterstellt, Faschist zu sein. Der Wunsch Kiefers, Dinge zu imitieren, um sie ansatzweise nachvollziehen zu können, stieß gerade in der linken Szene und der Studentenbewegung der Bundesrepublik auf Unverständnis, da diese sich gewiss war, ihnen wäre so etwas nie passiert; sie wähnten sich auf der moralisch richtigen Seite und wollten gar nicht verstehen, warum ihre Mütter und Väter sich schuldig gemacht hatten.
Von den Besetzungen ausgehend kommen wir auf weitere Bilder, an denen wir verschiedene Inhalte erklären: Bei Parsifal II (1973) könnten wir über das Heilsversprechen durch einen Erlöser in Wagners Parsifal referieren und das in Bezug zur Hitlerbegeisterung in Deutschland setzen. Ich würde auch gerne klären, warum sich Kiefer an Wagner abarbeitet anstatt am Originalmaterial. Vielleicht weil die Umarbeitung Wagners schlicht bekannter war als das von Eschenbach’sche Original (das ja auch schon eine Adaption ist)? Ich möchte auch auf den Dachboden eingehen, den wir im Bild sehen, als Ort, an dem man Dinge ablegt, mit denen man sich nicht länger beschäftigen möchte, aus den Augen, aus dem Sinn.
Bei Siegfried vergißt Brünnhilde (1975) erläutern wir den Stellenwert der Nibelungen in der deutschen Geschichte, angefangen beim Wort der Nibelungentreue. Göring bezog sich nach der Niederlage bei Stalingrad auf das Epos: „… wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß „Der Kampf der Nibelungen“. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut …“
Wenn wir dann noch Zeit haben, könnten wir über Volkslieder als Teil der deutschen Mythologie sprechen und es mit Maikäfer flieg (1974) belegen sowie über die Hermannsschlacht durch Varus (1976).
Auf die Reihenfolge bin ich gekommen, indem ich mir, wie fast immer bei Referaten, anfange, selbst zu erzählen, was ich dem Kurs erzählen wollen würde. Dabei merke ich meist recht schnell, was sinnvoll ist und wo ich mich verfranse.
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Um 12 saß ich dann wieder in der Barock- und Klassizismusvorlesung und lernte endlich mal anständig, was Wandpfeilerkirchen sind. Den Begriff hatte ich schon mal im Vorbeigehen mitbekommen, wusste aber nie, wie genau diese Art Kirche sich von der Saalkirche mit Abseiten unterscheidet. Jetzt weiß ich’s. (Ein kleiner Rückblick ins erste Semester, wo man alle grundsätzlichen Kirchentypen lernt – einfach den ersten Absatz lesen.)
Wir hangelten uns bei der Definition durch zwei Kirchen, die wir schon kannten – Il Gesù in Rom, St. Michael in München – und verglichen ihre Bauweise mit der Studienkirche in Dillingen, die Anfang des 17. Jahrhunderts errichtet wurde und eine Blaupause für alle weiteren Wandpfeilerkirchen hätte werden können, wäre nicht der 30jährige Krieg dazwischengekommen. Nach der großflächigen Verwüstung Mitteleuropas dauerte es einige Zeit, bis jemand wieder eine Kirche bauen wollte, und die Baumeister waren ein bis zwei Generationen weiter. Daher hat sich das Vorarlberger Münsterschema durchgesetzt, das auf der kleinen Dillinger Kirche beruht, sich aber doch von ihr unterscheidet.
Das sind Il Gesù (oben, 1568–84) und St. Michael (unten, 1583–97), beides Saalkirchen mit Abseiten. Das sind diese kleinen seitlichen Kapellen; sie sind keine Seitenschiffe – ein Seitenschiff ist längs zum Mittelschiff ausgerichtet, die Abseiten sind quer. Den simpelsten Unterschied zur Wandpfeilerkirche sieht man sofort:
Die Abseiten hören weit unterhalb des Tonnengewölbes auf, während sie bei der Wandpfeilerkirche bis zum Beginn der Tonne reichen. Ein weiterer, gut sichbarer Unterschied ist die Lichtführung. Bei den Saalkirchen fällt das Licht durch den Obergaden (bei St. Michael ist noch eine Empore eingefügt), bei der Wandpfeilerkirche nehmen die Fenster einen großen Teil der Wand ein. Die Pfeiler sind ohne Unterbrechung bis zum Gewölbe gebaut, im Gegensatz zu den Saalkirchen: Bei Il Gesù trennt eine breite Gebälkschiene die Pfeiler vom Obergaden bzw. dem Gewölbe, bei St. Michael sind die Pfeiler verkröpft und bilden so eine visuelle Grenze.
Bei einer Wandpfeilerkirche sind zudem die Abseiten viel wichtiger für den Gesamteindruck als bei den Saalkirchen. Dort sind sie eher dunkle Einbuchtungen, die dem Zentralraum deutlich untergeordnet sind, während sie bei der Wandpfeilerkirche diesen Raum mitdefinieren. Generell kann man sagen, dass es bei der Wandpfeilerkirche eher um Pfeiler- als um Wandgestaltung geht. Die Wand, die wir in Il Gesú noch massiv vor uns sehen, ist in Dillingen fast aufgelöst.
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Nach der Vorlesung radelte ich nach Hause und fand in meinem Briefkasten etwas, das mich stundenlang grinsen ließ:
Ups … meine Nachbarin liest anscheinend mein Blog pic.twitter.com/yxANsWy7xi
— ankegroener (@ankegroener) November 9, 2015
Ich schmeiße heute noch einen Dankeschönzettel in den Briefkasten unten im Haus, aber falls meine Nachbarin das hier schon liest: Vielen Dank! Ich biete Blumengießdienste für die nächsten Urlaube an!
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Die neuen Fenster der Kathedrale von Reims
Imi Knoebel durfte drei Fenster für die von Deutschen im Ersten Weltkrieg stark beschädigte Kathedrale anfertigen. 26 Minuten bei arte+7. Ganz besonders empfehlenswert für Freund_innen der Glasverarbeitung. Ich stehe sehr ehrfürchtig vor diesem Material.
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Als Rausschmeißer ein kleiner (Werbe-)Film, der verdeutlicht, wie individuell wir sehen. Via Ragna Buck, meiner guten alten Art-Gefährtin, als ich noch freie Texterin war.