Tagebuch Dienstag, 15. Dezember 2015 – Kieferkram
Lange geschlafen, entspannt gefrühstückt, rumgesurft. Dann langsam an die Arbeit gemacht: Ich muss in diesem Semester zwei recht stattliche Hausarbeiten schreiben und beide bis zum 15. März abgeben. Daher will ich die erste (über Anselm Kiefer) bis Ende Januar fertigstellen, um dann noch sechs Wochen für die zweite (Pekinger Nationalstadion) zu haben.
Das Kiefer-Referat war recht hübsch; für die Hausarbeit will ich mich aber auf weniger Bilder beschränken, die ich thematisch etwas enger fassen werde, um meine Argumentation zuzuspitzen. Genauer gesagt, will ich alle Bilder besprechen, die Kiefer in den 1970er Jahren gemalt hat und die einen Bezug zu Richard Wagners Ring des Nibelungen aufweisen. Damit kann ich alles nutzen, was ich mir schon über die deutsche Mythologie angelesen habe – falls es sie gibt, auch darüber hätte ich ein bisschen was zu schreiben –, muss aber nicht auch noch Eschenbachs Parzifal reinnehmen oder die Hermannsschlacht. Ich schaue mir also nur einen Teil der Mythologie an, genau wie nur einen Teil des Kiefer’schen bzw. des Wagner’schen Werks. Im Referat stellte ich die Frage, ob Kiefer es mit seinen Motiven geschafft habe, die Mythen vom Ruch des nationalsozialistischen Missbrauchs zu befreien. Diese Frage kann ich natürlich immer noch nehmen, aber mich reizt ein anderer Aspekt, von dem ich allerdings noch nicht weiß, ob ich ihn belegen kann.
Kiefer hätte sich einfach an den Original-Nibelungen abarbeiten können, aber er hat die zusätzliche Ebene der Wagner-Opern hineingebracht. Und ich frage mich ganz simpel: warum? Die Literatur, die ich bisher ausgewertet habe, teilt sich in ihr Veröffentlichungsdatum: In den 1980er Jahren, als man sich erstmals an Kiefers unangenehm deutsche Motive heranwagte, wurde Wagner benannt, aber nicht weiter eingeordnet. Ab den 1990er Jahren hieß es dann „war halt Hitlers Lieblingskomponist, fertig“. Seit der Jahrtausendwende (und seit Israel ihn ausstellt), gehört er zum Kanon und wird nicht mehr groß hinterfragt. Mir ist das aber zu wenig.
Ich finde den Gegensatz so spannend, der sich aus dem inszenierten Wagner für den NS-Staat (Wochenschau mit Klängen aus der Götterdämmerung, Riefenstahl-Filmsoundtrack, Meistersinger-Aufführung für Hitler plus Gefolge beim Reichsparteitag) und dem privat von Hitler rezipierten Wagner ergibt (seine Festspielbesuche seit 1923, die enge Freundschaft mit Winifred, persönliche Protektion für Wieland Wagner, der nicht zur Wehrmacht musste). Ich frage mich, ob Kiefer mit seinen Wagner-Bezügen auf die privaten Seiten im NS-Staat hinweisen wollte. Bei meinem Besuch im NS-Dokumentationszentrum ist mir wieder einmal bewusst geworden, dass so gut wie jeder Lebensbereich vom Staat und seiner Ideologie berührt wurde – und damit auch so kleine, persönliche Dinge wie Musikgenuss. Bei Kiefers Bildern fiel mir jedenfalls immer die Diskrepanz zwischen dem großen Format und dem relativ schlicht gehaltenen Inhalt auf: Bei Notung (1973) zum Beispiel haben wir einen hölzernen, naturalistisch gestalteten Dachboden auf üppigen 300 x 432 Zentimetern, und alles, was wir sehen, ist ein Schwert, ganz alleine mitten im Raum. Das wäre für mich ein Beleg für meine Idee: ein großes Etwas, das das Kleine, Private umschließt, so wie im NS-Staat ja auch gerne alles Kleine, Private der großen Sache, der großen Ideologie untergeordnet wurde. Auch der Satz „Ein Schwert verhieß mir der Vater“ (aus der Walküre) spielt für mich ins Private (Vater) und benennt gleichzeitig die deutsche Sehnsucht der 1930er Jahre, etwas Größeres sein zu wollen (Verheißung).
Ich weiß noch nicht, ob das eine völlig banale Idee ist oder eine, die ich nicht belegen kann, aber in diese Richtung denke ich gerade. Dazu habe ich gestern ein wenig in der Gegend rumbibliografiert und suche gerade nach übergreifenden Texten zur Wagner-Rezeption. Ich taste mich langsam ans Thema ran; zu Kiefer kann ich, aus dem Bauch raus, schon sehr viel sagen, zu Wagner eher zu viel Persönliches. Da brauche ich noch andere Stimmen als meine eigene.
Und dann machte mich noch @dieterjosef auf eine große Kiefer-Retrospektive im Centre Pompidou aufmerksam, die heute eröffnet. Deswegen werde ich mir Anfang Januar vermutlich zwei Tage Paris gönnen, auch wenn das Geld gerade sehr unlocker bei mir sitzt. Das kann ich mir schlicht nicht entgehen lassen, so viel Kiefer auf einmal ansehen zu können. Und wenn ich schon mal da bin, kann ich mir auch endlich im Louvre eine der wenigen noch erhaltenen, eventuell sogar die einzige karolingische Bronzestatuette angucken, die uns ein Dozent mal dringend ans Herz gelegt hat. Sonst ist im Louvre ja nix, was mich interessiert. *wimmer*
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Den Eintrag schrieb ich gestern abend (jetzt ist es kurz vor 9 am Mittwoch) und dachte mir, he, du kannst ja morgen früh noch mal in deinen Moleskines nachgucken, in die du seit über drei Jahren in der Uni reinschreibst, was der Dozent damals zu der Statuette gesagt hat. Dabei hatte ich natürlich vergessen, dass ich umgezogen bin bzw. dass hier plötzlich 60 Kisten standen, deren Inhalt auf 44 Quadratmeter verteilt werden wollte, weswegen ich gleichzeitig auspackte und wegschmiss. Die ausgedruckten Lehrmaterialien stehen brav im Schrank, genau wie die Steuerscheiße der letzten Jahre und zwei Dekaden Versicherungsunterlagen, aber meine eigenen Aufzeichnungen liegen auf einer Mülldeponie. Hatte ich verdrängt. Brauche mal wieder ein Taschentuch und bin sehr wütend.