Tagebuch, Sonntag/Montag, 24./25. April 2016 – Bibliografieren und biografieren
Mein erstes Referat ist am 19. Mai, das zweite am 2. Juni. Beide sind ausgerechnet die gefühlt großen, also die, über die ich auch eine Hausarbeit schreiben werde. Die letzten beiden Referate sind nur das: Referate; da kann ich also bei eventuellem Zeitmangel darauf verzichten, mir jede Quelle rauszuschreiben, sondern nur wild exzerpieren und dann vortragen. Alleine diesen Satz zu schreiben, verursacht Schweißausbrüche, weswegen ich das natürlich nicht tun werde. Aber es ist nett zu wissen, dass ich es könnte.
Der erste Thema, das ich mir seit letzter Woche erschließe, sind die Familienfeste im 19. Jahrhundert. Unser Seminar heißt „Kindheit und Jugend im 19. Jahrhundert“, mein Referatsthema laut Seminarplan „Familienfeste von der Wiege bis zur Bahre“. Erster Gedanke war: Weihnachten und Geburtstag. Wobei sofort ein Nachgedanke aufpoppte: Das eine ist ein christliches Fest, das andere nicht. Oder Moment, was ist mit der Taufe? Gehen wir doch noch andere christliche Feste durch: Ostern? Pfingsten? Allerheiligen? Was wird gefeiert und von wem? Feiern Arbeiter anders als Bürgerinnen? (Davon gehe ich mal aus.) Dann: Was ist mit jüdischen Festen? Sind das Familienfeste, so wie ich Weihnachten als ein Familienfest verstehe? Moment, ist das überhaupt eins? Ist die religiöse Botschaft im 19. Jahrhundert noch wichtiger als der heutige Geschenkeberg unterm Baum? Ab wann stellte man in Deutschland (oder dem geografischen Bereich, der 1871 das Deutsche Reich wurde) überhaupt einen Weihnachtsbaum auf? Wer schenkte wem was? Und wie passt das Seminaroberthema da rein – die Kinder? Ist Allerheiligen ein Fest, in dem Kinder eine besondere Rolle spielen wie sie es Ostern tun beim Eiersuchen? Ab wann gibt es das olle Eiersuchen? Und so weiter und so fort.
Ich wusste also nicht mal genau, wonach ich suchte, als ich begann zu suchen. Immer eine gute Idee. Nicht.
Neben der Unfassbarkeit meines Themas bzw. den vielen kleinen Unterthemen, mit denen ich anfangen könnte, war ausgerechnet die Aufsatzsuche fast ergebnislos. Normalerweise sind Aufsatzdatenbanken mein großer Liebling, denn diese Textart lässt sich weitaus schneller konsumieren als ein Buch, und in den Fußnoten verbergen sich gerne grundsätzliche Texte zum Thema. Suchanfragen wie „Christmas“ „19th century“ plus „Germany“ ergaben aber quasi nix, und auch Anfragen wie „family celebration“, „Familienfest“, „Festkultur im 19. Jahrhundert“ und ähnlich warfen mir nur Quatsch entgegen. Meist hatte ich das Problem, etwas zu einem Fest zu finden, dann fehlte grundsätzlich das 19. Jahrhundert, oder ich fand was in der richtigen Zeit, aber nur über Erwachsenenfeste (Schützenfest, politische Festivitäten – auch noch mal ein anderes Thema, Wartburgfest etc.), und so war ich Ende der Woche schon komplett genervt von meinem Thema. Ich schleppte die halbe Stabi nach Hause und musste erstmals feststellen, dass ich fast nur Quatsch ausgeliehen hatte.
Deswegen setzte ich mich am Sonntag wie ein Erstsemesterchen in die Historicumsbibliothek und zog den Klassiker aus dem Regal: Die Geschichte des privaten Lebens von Philippe Ariès. Es ist zwar sehr aus der französischen Perspektive geschrieben, aber erste Anhaltspunkte – wie feierte das Bürgertum denn so generell und was überhaupt – konnte ich hier endlich mal gebündelt finden. In einem weiteren Buch entdeckte ich autobiografische Aufzeichnungen von Menschen, deren Kindheit im 19. Jahrhundert lag, was weiteren Aufschluss gab. Generell bin ich jetzt bei der Annahme, dass familiär begangene Festlichkeiten die offiziellen politischen und kirchlichen ergänzten (nicht ablösten). Die Familie war im 19. Jahrhundert wichtig genug geworden, um sie zu feiern, zum Beispiel ihre Kontinuität zu begehen, indem man Geburtstage beging. Jahrhundertelang waren außer von adeligen Personen keine Geburtsdaten notiert worden, und man sah sich als Individuum noch nicht als wichtig genug an, um sich zu feiern. Auch der Totenkult zu Allerheiligen begann im 19. Jahrhundert wieder aufzuleben. Nachdem die Kirche im 18. Jahrhundert erklärt hatte, der leibliche Körper wäre egal und daher müsste man nicht auf Friedhöfen rumhängen (in Paris wurden sie nach der französischen Revolution sogar zeitweise geschlossen), setzte sich im 19. Jahrhundert die familiäre Bedeutung der Ahnen durch. Genau wie beim Geburtstag wurde auch hier der Kontinuität der Sippe gedacht.
Aus den biografischen Aufzeichnungen fand ich den Ansatz spannend, dass Feste nur deshalb begangen wurden, weil sie den Kindern Freude machte – siehe Weihnachten, dessen religiöse Bedeutung schon im 19. Jahrhundert nachzulassen begann, während man anfing, den Kindern Geschenke zu überreichen. (Einige Quellen sagen, Kinder schenkten den Eltern oder Geschwistern nichts, andere sprechen von aufgesagten Gedichten oder extra eingeübten Klavierstücken.)
Ich bin noch nicht viel weiter in Bezug auf eine wissenschaftliche Fragestellung und ich habe mich auch noch nicht entschieden, auf welche Feste ich mich überhaupt konzentriere, aber das war Sonntag die erste produktive Lesesitzung.
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Am Montag saß ich dann im Biografieforschungsseminar, das bis jetzt die Perle meines Stundenplans ist. Okay, ich hab fast nur Perlen, aber die hier glänzte von Anfang an. (/schwülstige Metapher off.) Wir lesen (für mich) sehr aufschlussreiche Texte und haben eine diskussionsfreudige Gruppe – besser geht’s nicht. Ich frage mich in den Geschichtssitzungen immer, warum diese Diskussionfreude in Kunstgeschichte nicht so präsent ist – auch bei mir, ich bin da auch etwas stummer als im Historicum. Bei mir mag es daran liegen, dass ich mich mit Geschichte und so simplen Grundlagen wie „Wann war welches Ereignis und wer hat dabei mitgespielt“ schlicht deutlich länger beschäftigt habe und eher weiß, in welchem historischen Kontext wir uns gerade bewegen. In Kunstgeschichte fallen mir hingegen immer wieder meine Lücken auf (Stile, Künstler*innen, künstlerische Positionen und Grundlagentexte), und ich muss mir dauernd selbst sagen, dass alle anderen auch Lücken haben, nur andere als ich, weswegen wir nicht ganz so selbstsicher argumentieren wie in Geschichte.
Gestern sprachen wir über die Biografie als Gattung und lasen einen Text eines Literaturwissenschaftlers, bei dem (in Zusammenhang mit einem Text der letzten Woche) mir erstmals klar wurde, dass eine Biografie Literatur ist. Ich hatte Biografien als historische Darstellungen im Hinterkopf abgelegt und nie wieder darüber nachgedacht, aber klar: Biograf*innen nutzen literarische Mittel, um Geschichte zu erzählen.
Dazu gab es ein schönes Zitat von Robert Littell aus Truth is a Stranger (The New Republic, 16. Dezember 1925):
„Biographer: We are both in the same business.
Novelist: How do you make that out?
Biographer: We are both writing about people.
Novelist: But your people have actually existed, while mine are made up inside my head.
Biographer: That difference is not as real as it seems on the surface. The people you believe you have invented get their start from people you have known in real life, or have read about. And the statesmen or adventurers whose lives I choose to retell are in great part my own creations.“
Wir sprachen auch darüber, dass eine Biografie so gut wie nie die letzte ist, die über einen Menschen geschrieben wird – nicht nur weil sich die Quellenlage ändern kann, sondern auch, weil jede Generation oder jeder Kulturraum die gleichen Quellen anders auslegt. In diesem Zusammenhang empfahl die Dozentin Christoph Nonns Biografie über Bismarck. Ich gebe das mal weiter, ohne sie zu kennen.
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Und noch ein Lesetipp: Felix schreibt über die Bruder-Klaus-Feldkapelle in Wachendorf.