Was schön war (obwohl ich wieder heulen musste, aber das muss ich ja dauernd), Dienstag, 7. Juni 2016 – Musike
Ich bin kein Riesenfan von James Cordens Carpool Karaoke, aber die neueste Ausgabe hat mich total erwischt:
Mit Hamilton und Lin-Manuel Miranda kann ich auch nicht so viel anfangen, was vermutlich daran liegt, dass ich mit Hip Hop nicht viel anfangen kann. Aber sobald die weiteren Gäste Audra McDonald, Jesse Tyler Ferguson und Jane Krakowski auf dem Rücksitz saßen und vor allem, als die ersten beiden Akkorde von Seasons of Love erklangen, saß ich awwwwend vor dem Rechner. Nach Can’t Take My Eyes Off You sangen die fünf, die offensichtlich richtig Spaß hatten, noch One Day More aus Les Misérables, und da konnte ich mich nicht mehr wehren, fiepste zum Rechner mit, öffnete danach Spotify und hörte den kompletten Soundtrack durch. Bei On My Own hörte ich dann auch auf zu fiepsen und sang laut mit – was ich schon länger nicht mehr gemacht habe.
Ich habe vor ungefähr anderthalb Jahren mit dem Gesangsunterricht aufgehört. Der war eh zerstückelt, weil ich nicht mehr dauernd in Hamburg war, weswegen ich meiner Lehrerin des Öfteren unbegleitet in meiner Münchner Küche am Telefon was vorgesungen habe und nur in den Semesterferien neben ihr am Klavier stehen konnte. Ich habe da schon gemerkt, dass ich immer wackeliger werde – heißt: immer näher am Wasser bin –, je mehr ich mir stimmlich zutraue und je lauter ich singe. Um laut zu singen, muss ich nämlich alles an Beherrschung fallenlassen, was mich sonst zusammenhält und dafür sorgt, dass ich ein braves, produktives Mitglied der Gesellschaft bin. Wenn ich so richtig stimmlich die Sau rauslassen will, muss ich loslassen. Und das bedeutet bei mir leider: Es kommt eine Menge hoch, das ich seit Jahren mit mir rumschleppe, aber irgendwo in mich reingestopft habe und festhalte, damit es nicht weh tut. Wenn ich aber nun schutzlos am Klavier stehe und fiese Musicalballaden schmettere, kriecht alles an die Oberfläche, was da runten rumlungert, und dann dauert es bis zur nächsten Songzeile, die irgendwas mit Liebe, Schutz, Vertrauen oder persönlichem Wachstum zu tun hat und ich fange an zu heulen.
Je länger ich in München war und je mehr sich zeigte, dass ich wohl noch etwas länger hier bleibe, was auch hieß, dass sich meine Beziehung ändern wird, desto schwerer fiel es mir, durch einen einzigen Song zu kommen. What I did for love? Ha! („Nothing’s Gonna Harm You“) Not While I’m Around? Pffft. Never Give All the Heart? Isklar. Ãœber Beautiful müssen wir gar nicht reden oder Moon River („There’s such a lot of world to see“) und auch nicht über On My Own („I love him / But every day I’m learning / All my life / I’ve only been pretending / Without me / His world will go on turning“). Ich wollte immer weniger ins Telefon singen und heulend in meiner Küche stehen, und im fünften BA-Semester kam dazu auch noch der vollgepackteste Stundenplan des ganzen Studiums, weswegen ich irgendwann um eine Pause bat. Sie hält bis heute an.
Ich will meiner Gesangslehrerin seit Monaten eine Mail schreiben, um mich bei ihr zu bedanken, dass ich bei ihr wachsen durfte, lernen, lachen und ja, auch weinen. Ich hatte nie das Gefühl, fehl am Platz zu sein, ich hatte immer das Gefühl, dass jede Träne sein musste und durfte. Ich habe in einer 45-Minuten-Stunde vermutlich des Öfteren nur 30 Minuten gesungen, aber das war immer richtig so. Vielleicht schicke ich ihr stattdessen den Link zu diesem Blogeintrag, denn gestern habe ich mich nach erstem zaghaften Fiepsen in Pose gestellt und On My Own laut mitgesungen, scheiß auf ein paar wackelige Töne, scheiß auf die dünnen Wände zu den Nachbarn, die garantiert zuhause waren. Das war schön.
Okay, danach habe ich meinen Liebling What I Did For Love angestimmt und bin bis zur dritten Zeile gekommen, aber gut. In mir wohnt ja auch noch ganz viel, über das ich weinen muss. Dann mach ich das. Und singe ein bisschen dazu.