Tagebuch, Montag, 6. Juni 2016 – Rumdenken
Wieder eine schöne Sitzung im Biografieforschungsseminar gehabt. Wir sprachen zunächst über das Habitus-Konzept Bourdieus, das ich allmählich verinnerlicht habe, weil wir auch im Esskulturenseminar darüber diskutierten. Gestern setzten wir es in einen Bezug zu einem Buch von Morten Reitmayer über Bankiers im Kaiserreich. Das Referat zum Thema wurde von einem nicht-deutschen Studenten gehalten – anhand seines Namens tippe ich auf irgendwas in Osteuropa –, der damit begann, dass er selbst versuche, seinen Habitus an den seiner deutschen Umgebung anzupassen: „Ich bin immer pünktlich und arbeite gewissenhaft.“ Das war einerseits niedlich, sowas gesagt zu bekommen, auf der anderen Seite aber auch irgendwie seltsam. Allmählich glaube ich, Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein sind keine Klischees – wir sind anscheinend wirklich so.
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Nach dem Seminar brachte ich einen Schwung Bücher in die Bibliothek und lieh mir zwei neue (kein Gang mit leeren Händen, alte Kellnerinnenregel). In einem davon las ich einen Aufsatz von Detlev Mares und Ute Schneider über ein interessantes Projekt der TU Darmstadt: „‚So habe ich das nicht in Erinnerung …‘ Seniorenstudierende als Zeitzeugen der Geschichte. Ein Projektbericht.“ Darin wird erzählt, dass gerade Geschichte ein beliebtes Fach für Senior*innen an der Uni ist (ich würde Kunstgeschichte auch ganz oben in die Liste packen), aber eher ältere und antike, weniger neue und neueste Geschichte. In diesen Seminaren und Vorlesungen finden sich allerdings auch ältere Menschen, und die TU nutzte diese Gelegenheit, um daraus ein Seminar um Zeitzeugenschaft zu basteln. Einige Senior*innen ließen sich über die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ausfragen, und die Studis führten Interviews und werteten sie aus.
Was mich dabei faszinierte, war die Art des Erzählens und des Nachfragens. Einige Senior*innen hatten sich eine Biografie gebastelt (machen wir ja alle – this is my truth, tell me yours), die mit gelernten Geschichtsbildern übereinstimmte, andere wichen davon ab und berichteten zum Beispiel von unangenehmen Begegnungen mit amerikanischen Soldaten, die in der allgemeinen Erinnerung als „die Guten“ abgespeichert sind. Auch wichtig: die persönliche Sympathie der Fragenden, die sie teilweise davon abhielt, nachzuhaken oder unangenehme Fragen zu stellen.
Darüber denke ich auch seit kurzem nach, denn ich hoffe, dass ich mit der Tochter von Leo von Welden (sie ist jetzt 80) sprechen kann, um über die Werke ihres Vaters mehr zu erfahren. Mein anfängliches Bild von von Welden hat sich schon geändert, was ich versucht habe im Blick zu behalten und es nicht einfach so hinzunehmen. Anfangs war ich darüber verärgert, dass seine Mitwirkung in der GdK in der Literatur offensiv verschwiegen wurde und war bestrebt, diese Ausstellung als einen großen Teil seiner Biografie anzusehen; inzwischen stehe ich auf dem Standpunkt, dass es unfair ist, ihn anhand von fünf Bildern, die stilistisch und motivisch nicht seinem Restwerk entsprechen, zu verurteilen. Ich frage mich allerdings, ob ich damit nicht genau das tue, was alle nach 1945 getan haben: Strich drunter, Stunde Null. Ich will objektiv an den Künstler und sein Werk herangehen, aber ich ahne langsam, dass das schlicht nicht möglich ist. Also versuche ich immerhin, mir über meine Subjektivität klar zu sein, bevor ich das Gespräch mit Frau Schwaiger-Welden beginne. Ich weiß aus meiner Erfahrung mit Interviews aber auch, dass ich gerne dem Faden folge, den mir die Interviewten hinlegen; ich bin immer dankbar für ein Narrativ, das ich unhinterfragt aufschreiben kann – und genau das darf mir in diesem Fall natürlich nicht passieren. Mein Dozent warnte mich auch schon vor dem Gefühl des Eingeweihtseins, der Freude über diesen Zugang zu Werken, den nicht jeder bekommt – da sollte ich vorsichtig sein und kritisch bleiben. Auch aus diesem Grund habe ich den Aufsatz über die Seniorstudis gerne gelesen. (Und mich von ein paar Vorurteilen verabschiedet.)
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Wovon ich mich vermutlich auch verabschiede, sind die beiden Vorlesungen in diesem Semester. Mit den vier Seminaren bin ich absolut zufrieden, mit den Vorlesungen überhaupt nicht. Beide Themen klangen vielversprechend, aber ich merke, dass ich in jeder Sitzung damit kämpfe, nicht dauernd auf Twitter nachzugucken, was die Welt macht oder einzuschlafen. Die beiden Dozentinnen haben leider beide einen recht anstrengenden Vortragsstil, aus Zeitgründen habe ich bereits jeweils ein bis zwei Sitzungen ausfallen lassen, und so wirklich Lust habe ich auf beide nicht mehr.
Andererseits will ich nicht zwei Vorlesungen ins dritte Semester mitschleppen; die eine hätte ich bereits im ersten MA-Semester abhaken müssen, was ich nicht geschafft habe (auch hier: Langeweile). Ganz eventuell kommt hier die Taktik zum Tragen, mit der ich eine Geschichtsklausur im fünften BA-Semester bestanden habe: Nur drei von zwölf Sitzungen besuchen, aber die Folien akribisch auswendig lernen. So will ich eigentlich nicht studieren, aber wenn’s nicht anders geht, dann eben so.