Für mein Weblog zum sechsten Geburtstag
Liebes Weblog,
gestern bist du sechs Jahre alt geworden. Das ist schon ziemlich alt, auch wenn es noch viel ältere deutsche Weblogs gibt, die im Gegensatz zu dir schon in finnischen Clubs gespielt haben. Aber da du ja eh lieber zuhause bleibst und Filme guckst, ist das völlig okay.
Am Anfang warst du sehr aufgeregt, als dich plötzlich mehr als ein Mensch (deine Autorin) gelesen hat. Nach wenigen Wochen hat sie dir eine Kommentarfunktion von Haloscan geschenkt und einen kleinen Counter, der lustig vor sich hintickerte. Als du das erste Mal über 100 Besucher am Tag gehabt hast, war deine Autorin kurz davor, eine Party zu schmeißen und sich als Königin des Internets auszurufen. Das hat sie glücklicherweise nicht gemacht – auch weil sie gemerkt hat, dass du plötzlich neben vielen, vielen tollen Lesern auch ein paar Irre mit zuviel Zeit angezogen hast.
Als du das erste Mal über 1000 Besucher am Tag gehabt hast, war deine Autorin kurz davon, dich auf Festplatte zu bannen und offline zu gehen, weil sich das auf einmal komisch angefühlt hat, dass so viele Leute auf dir rumlatschen. Aber irgendwie war die Dame schon so daran gewöhnt, (damals noch) jeden Tag in dich reinzuschreiben, dass das trotz aller Nervereien, dusseliger Kommentare, Psychomails und Kleinkriege in der Blogosphäre gar keine Option war. Und weil der ganze Negativkram locker von all dem Positiven aufgewogen wird, den du ihr bieten kannst.
Im Laufe der Jahre hat sich deine Autorin dann ein bisschen von dir emanzipiert. Du läufst inzwischen auf WordPress, von dem deine Autorin überhaupt keine Ahnung hat, weswegen sie alle zwei Monate darüber nachdenkt, wieder zum selbstgebastelten GoLive zurückzukehren – aber dann würden ja wieder alle (zu Recht) jammern, dass du keine Permalinks hättest. Du hast keine Kommentare mehr, damit du deiner Autorin wieder den gleichen Spaß machst, den du ihr zu Beginn gemacht hast, als dich noch keine 1000 Leute besucht haben. Auch wenn du nicht mehr täglich einen neuen Eintrag bekommst, was nicht nur die Schuld der Autorin, sondern auch der von Twitter ist, deinem kleinen schmuddeligen Cousin, der hemmungslos und erfolgreich ganz viele Blogger anbaggert.
Den Kleinkriegen in der Blogosphäre weichst du inzwischen weiträumig aus, z.B. indem deine Autorin nicht mehr nach ihrem Namen googelt und keine Blogs mehr liest, über die sie sich eh bloß aufregt. Überhaupt hat sich der Blogkonsum deiner Autorin gewandelt: Sie liest nicht mehr alles und jeden, sondern eher die Blogs, die sie seit Jahren liest und schätzt. Daher verlinkt sie auch immer auf die gleichen zehn Blogs, aber das ist okay, denn du warst noch nie die Riesenlinkschleuder, sondern immer mehr ein Tagebuch, und das ist auch die Art von Blogs, die deine Autorin gerne liest.
Sie bedauert ein bisschen, dass es inzwischen gefühlte zwei Millionen Business-, Marketing- und „Schnell reich werden durch Nichtstun“-Blogs gibt und nur noch gefühlte zwei, die ihr Geschichten erzählen. Aber immer, wenn sie sowas denkt, fühlt sie sich sehr alt und müde und erinnert sich daran, dass sie doch gar nicht mehr so viel übers Bloggen und das Medium an sich nachdenken, sondern einfach weiter schreiben wollte. Dann legt sich die kleine Depression wieder und sie denkt an die vielen schönen Storys, die sie schon gelesen oder selber geschrieben hat. An die vielen Tellerränder, über die sie gucken und die vielen Beichten, die sie lesen durfte. Über die vielen, vielen Begebenheiten von völlig fremden Menschen, die ihr inzwischen so viel bedeuten wie ihre Bücher oder Filme, weil sie eine kleine, neue Welt aufmachen, in der sie kurz rumspazieren darf. Und sie denkt an die Menschen, die sie schon durch dich kennengelernt hat. Einige sind gute Bekannte geworden, einige Freunde und einer wohnt inzwischen mit ihr zusammen (und bedauert vielleicht in den Momenten, in denen er mit ihr über die korrekte Ausrichtung der Gläser im Küchenschrank diskutieren muss, dass er dich gelesen hat).
Liebes Weblog, ich wünsche dir von Herzen weiter so viele Leser wie jetzt, die nur in sehr wenigen Ausnahmefällen doofe Mails schreiben und sonst lieber Ausgehtipps in Berlin oder Ideen für den perfekten Golfschwung parat haben, Hinweise auf gute französische Musik geben oder generell ein paar freundliche Worte für dich übrig haben. Diese Mails hebe ich auf und werde sie dir zu deinem 18. Geburtstag in Schweinsleder binden lassen. Ich wünsche dir weiterhin eine gelassene Autorin. Und ich wünsche dir vor allem immer so viele nette, spannende, aufregende, traurige, mutige, bewegende Schwestern und Brüder, die aus deinem Medium eben doch mehr machen als ein paar Datensätze im Netz, sondern eine ganze Bibliothek an großartigen Geschichten und eine riesige Menge an Menschen, die sie aufschreiben.