Tagebuch, Donnerstag, 5. Januar 2017 – Oktober 1977
Ich hatte mir einen Berg Zeitungen aus dem Oktober 1977 in den Lesesaal legen lassen, denn das war der Monat, in dem Amnesty International den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam. Ich wollte einfach mal die originale Berichterstattung darüber lesen.
Ich hatte völlig vergessen, dass das der Monat war, in dem Hanns-Martin Schleyer ermordet, die Landshut entführt wurde und die RAF-Häftlinge in Stammheim Selbstmord begingen. Das war eine sehr andere Lektüre als die, auf die ich vorbereitet war, aber es war ebenso spannend. Wenn ich mir mit dem Münchner Merkur allerdings auch ein damals übel rechtes Blatt rausgesucht hatte, das in seinen Kommentaren den Hass auf linke Denker so richtig schön über die Seiten kotzte.
In dem Monat lief außerdem im Blatt noch eine Serie, die sinngemäß hieß „Mehr Kinder für Deutschland“ und vier Wochen lang rumjammerte, dass Frauen egoistische Biester seien, wenn sie nicht ausschließlich Mütter sein wollten.
Richtig entspannt war die Lektüre also nicht, aber das war sie eh nicht, denn ich war zu spät in die Stabi gekommen – alle Sitzplätze waren bereits belegt und, was noch nerviger war, auch die Plätze an den Rechnern, an die ich musste, um auf das FAZ-Archiv zugreifen zu können. Also schleppte ich die Zeitungen an einen Stehtisch und las gut zwei Stunden vor mich hin. Dann blätterte ich noch im AI-Jahresbericht von 1978, wo der Nobelpreis natürlich auch erwähnt wurde, merkte aber, dass meine Grundquengeligkeit nicht so recht wegging, denn eigentlich wollte ich ja die FAZ durchwühlen, was aber schlicht nicht ging.
Ich legte den Jahresbericht in mein Ablagefach, zwei Zeitungsbände in ein anderes, wo die Großformate liegen, gab die Zeitungen, die ich nicht mehr brauchte, vor dem Lesesaal ab und ging ins Erdgeschoss an mein Schließfach, um aus meinem Rucksack ein Buch zu holen, das ich auch noch abgeben musste. Ich ging in den Raum, in dem sich die Rückgabe und die Ausleihe befinden, gab ein Buch ab, holte ein neues aus meinem Fach – und sah auf dem Weg zum Ausgang weitere Rechner. Die hatte ich ja völlig vergessen! Und sie waren alle frei! Leider nur an Stehtischen, aber daran war ich ja jetzt gewöhnt. Neues Buch in den Rucksack im Schließfach gelegt, Laptop wieder rausgezerrt, ihn vor dem Tischrechner aufgeklappt und ins FAZ-Archiv geklickt.
Alleine die Anzahl von Artikeln belegt, dass AI in den 1970ern deutlich wichtiger geworden war und mehr wahrgenommen wurde. Von 1960 bis 1969 erschienen in der FAZ 50 Artikel zu AI, von 1970 bis 1979 waren es bereits 721. Es wurden deutlich mehr Pressemitteilungen abgedruckt, die AI zu verschienenen Ländern und Themen einreichte; es häuften sich aber auch Todesanzeigen, in denen statt um Blumen um eine Spende für Amnesty gebeten wurde. Künstler spendeten Preisgelder an AI (1969 Siegfried Lenz 3.000, 1979 Oskar Kokoschka 10.000 D-Mark), andere Künstler arbeiteten unentgeltlich (Leonard Bernstein wird mehrmals in den 70ern erwähnt). Weil ich gerade den Oktober 77 so intensiv durchgearbeitet hatte, fand ich eine Meldung vom 8. November diesen Jahres spannend: Da wurde AI ein Infostand in Frankfurt (oder in der Nähe, habe ich mir gestern nicht anständig notiert) verweigert, weil Ausschreitungen nach dem Schleyer-Mord befürchtet wurden.
Ich klickte gestern nur stichprobenartig in den Artikeln rum, aber ich glaube, da lässt sich sehr hübsch ein Stimmungsbild der Entwicklung und Wahrnehmung von AI zeichnen. Gerade wenn ich bei einem Thema wie der RAF bleibe. Was mir auch aufgefallen ist: die Fußball-WM 1978 in Argentinien. Amnesty machte auf Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam und Sepp Maier unterzeichnete eine Petition der Organisation. Darauf angesprochen, reagierten Klaus Fischer und Berti Vogts uninteressiert bis ungehalten und es fiel der übliche Satz, was Fußball denn mit Politik zu tun habe.
Amnesty hat übrigens gerade erst vor ein paar Tagen mal wieder auf die Situation der Arbeiter in Katar aufmerksam gemacht, was der FIFA anscheinend egal ist und dem FC Bayern auch, der zum wiederholten Male dort gerade sein Wintertrainingslager stattfinden lässt. Schon deprimierend, dass wir 40 Jahre später ähnliche Diskussionen führen. Nebenbei bemerkt, auch über den Umgang mit Terroristen.